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Einführung in das Studium der Erziehungswissenschaft

Erziehen als Beruf: Grundlagen, Probleme, Ziele

AutorHans-Jochen Gamm
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783688102068
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Dieses erstmals 1974 und in überarbeiteter Fassung zuletzt 1978 erschienene Werk will ein Gespräch über die Grundfragen der einzelnen pädagogischen Disziplinen, über Forschungsschwerpunkte und Kontroversen mit allen denjenigen eröffnen, die sich auf einen pädagogischen Beruf - Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher - vorbereiten oder als Sozialwissenschaftler und Juristen arbeiten. Die ohne Probleme nachvollziehbare, klar gegliederte Darstellung schließt auch Eltern und Schüler nicht aus. Anleitungen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Materialien zum Bildungsbereich - Gliederungsschemas zum Schulsystem, Statistiken u. a. - helfen Wissen abzusichern und stellen die Grundlagen eines Lehrbuchs dar.

Hans-Jochen Gamm wurde 1925 in Jörnstorf/Mecklenburg geboren und legte 1943 die Reifeprüfung in Schwerin ab; von 1943-1945 war er Soldat. Die Jahre 1945-1949 verbrachte er in amerikanischer, sowjetischer und polnischer Kriegsgefangenschaft. Nach der Heimkehr studierte er zwischen 1949 und 1953 an den Universitäten Rostock und Hamburg geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Von 1953-1959 war er Lehrer, 1959-1961 Dozent am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg, 1961-1967 an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg, zeitweise deren Rektor; ab 1967 Professor für Pädagogik an der Technischen Hochschule Darmstadt. Hans-Jochen Gamm starb 2011 in Darmstadt.Buchveröffentlichungen u.a.: «Einführung in das Studium der Erziehungswissenschaft» (1974); «Umgang mit sich selbst. Grundriß einer Verhaltenslehre» (1977, Oktober 1979) sowie «Allgemeine Pädagogik» (1979).

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Leseprobe

Kapitel 2 Die Familie als Ort der primären Sozialisation des Kindes


Kindesmißhandlung als Infragestellung von Familienpädagogik. Gesetzliche Vorgaben für Ehe und Familie und ihre Fragwürdigkeit. Elternrollen sind keine «natürliche» Ausstattung. Kibbuz-Erziehung in Israel als Gegenmodell zur traditionellen Erziehung in der Kleinfamilie. Das Phänomen der Sozialisation als anthropologische Markierung. Das Schichtenmodell der Sozialisation und einige Resultate der Sozialisationsforschung kritisch interpretiert. Politische Konsequenzen für den Erzieher aus diesem Datengeflecht.

In der Bundesrepublik werden laut Statistik jährlich etwa 100 Kinder von ihren Eltern zu Tode mißhandelt. Diese Zahl ergibt sich aus den wenigen Fällen, die gerichtlich untersucht werden konnten, und vermittelt keinen richtigen Eindruck vom tatsächlichen Umfang der Elternverwahrlosung in unserer Gesellschaft. Experten schätzen, daß allenfalls ein Zehntel der Mißhandlungen mit Todesfolgen bekannt wird. Aber auch durch tausend getötete Kinder wäre immer erst die Spitze des Eisberges bezeichnet. Unsichtbar darunter erfolgen die Prozesse körperlicher und seelischer Grausamkeit gegenüber Kindern, deren psychischer Verkrüppelung, die sich in zahllosen Familien täglich ereignen, ohne daß sich die Umwelt dadurch nachhaltig beunruhigen läßt.

Welche Ursachen mögen dafür verantwortlich sein, daß Eltern ihre eigenen Kinder derartig behandeln? Wie verhalten sich diese Tatbestände zu weiten Teilen unseres Schrifttums – und gerade des erzieherisch getönten –, in denen, wie z.B. in Lesebüchern, viel von Elternliebe die Rede ist, während dagegen Kinder und Jugendliche nicht selten als undankbar erscheinen? Wer schreibt solche Geschichten, und wer erklärt sie in wessen Auftrag für verbindlich? (92)

Diese Fragestellungen sind bei den weiteren Ausführungen im Hintergrund mitzubedenken und möglichst viele Verknüpfungen zu suchen, da wir uns die Antwort nicht leichtmachen dürfen. Gesellschaftliche und pädagogische Prozesse lassen sich selten auf nur eine Ursache zurückführen, zumeist wirkt ein Bündel – ein Syndrom – zusammen, obwohl die Konsequenz nur eindimensional zu erscheinen braucht und etwa als «mangelnde Liebe» gekennzeichnet wird. Welches Liebesdefizit aber bei den mangelhaft Liebenden ihrerseits vorliegt, ist meist schwerer zu erforschen.

Kehren wir zum skizzierten Tatbestand zurück. Wir haben das Kapitel über die Familie als Ort der primären Sozialisation des Kindes bewußt mit diesen bedrückenden Fakten in Hinsicht auf elterliches Fehlverhalten begonnen, um eine deutliche Gegenmarkierung zu den idyllischen Darstellungen einer familienverklärenden Publizistik zu gewinnen, die uns eine notwendige Dosis von Skepsis gegenüber den vermeintlichen Idealstrukturen und den pädagogischen Funktionen von Ehe und Familie verschaffen kann. «Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung» formuliert das Grundgesetz (Art. 6,1). Die Väter der Verfassung haben sich 1949 nachdrücklich für diesen privatesten aller Räume ausgesprochen. Sie wollten einen Schutzwall für die Intimität nach dem totalitären Zugriff des deutschen Faschismus auf die Familie zwischen 1933 und 1945 errichten. Jene Politiker haben damit aber zugleich vorentschieden, daß die familiäre Erziehung zur exklusiven Praxis einer intimen Zweiergruppe – nämlich des Elternpaares – gerät. Denn die entsprechende Passage des Grundgesetzes (Art. 6,2) lautet: «Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.» Das Wort vom «natürlichen Recht», das jeweils zwei beliebigen Privatpersonen in der Elternrolle zuerkannt wird, bezeichnet zugleich das Dilemma unserer öffentlichen Verantwortung für die Erziehungsprozesse, denn das «Wachen» der staatlichen Gemeinschaft ist zumeist nicht sehr wirkungsvoll, wenn es um die Kontrolle sämtlicher Erziehungsvorgänge quer durch alle sozialen Schichten und Klassen geht. Freilich wird elterliche Erziehung gelegentlich überprüft, aber zumeist nur durch soziale Nothilfeeinrichtungen, die sich immer dann einschalten, wenn bestimmte Erwartungen zumeist im Erscheinungsbild von Kindern offenkundig nicht mehr stimmen, z.B. in Hinsicht auf Sauberkeit, Kleidung und Verhalten. Sozialpädagogische Kräfte kümmern sich dann um solche «Fälle», die Fürsorge greift ein.

Fragen wir, wie es sich erklärt, daß solche Versuche zur Hilfe für gefährdete Familien, so unbezweifelbar wichtig sie sind, vor allem in den Unterschichten erfolgen. Warum werden nicht Mittel- und Oberschichteneltern zurechtgewiesen, die ihre Kinder für ein Verhalten programmieren, das als Wohlstandsverwahrlosung bezeichnet worden ist? Bestehen Zusammenhänge zwischen der materiellen Lage und der Disposition für Erziehungsaufgaben? Wie hätte man sich wirksame gesellschaftliche Förderung und Kontrolle der familiären Erziehungsprozesse vorzustellen?

Das familiäre Erziehungsgeschehen ist nicht «natürlich» reguliert. Der naiven Ideologie, daß leibliche Eltern stets die besten Erzieher ihrer Kinder seien, ist nachdrücklich entgegenzutreten. Kinder sind zunächst biologische Folgen sexueller Kontakte zwischen den Geschlechtern. Das im allgemeinen unter höher organisierten Tieren wirksame Instinktschema der Brutpflege und Aufzucht des Nachwuchses kann nicht auf die menschliche Gesellschaft unmodifiziert übertragen werden, denn der Mensch verfügt nur über Instinktreste, die ihn nicht sicher leiten. An ihre Stelle sind Kultur und Gesellschaft getreten, ohne daß der einzelne dadurch ein auch nur annähernd präzises Verhaltensschema empfinge. Er muß im Gegensatz zum Tier nicht nur reagieren, er kann wählen und handeln, er kann nach Max Scheler auch nein sagen.[1] Von dieser Freiheit macht er – entsprechend seiner Reflexionsfähigkeit – in Akten der Entscheidung Gebrauch.

Es ist also bestenfalls romantische Verklärung der historisch gewachsenen und zur Revision anstehenden Institutionen von Ehe und Familie, diese ohne weiteres die bestmögliche Erziehungsbasis zu nennen. Infolge mangelnder Schulung im Denken von Alternativen, kümmerlicher soziologischer Phantasie und der Auszehrung des bürgerlichen Bewußtseins stagnieren die Erfahrungen mit derzeitigen «Großfamilien» oder Kommunen. Zumindest leiten die häufigen kollektiven Anfangsschwierigkeiten oder die spätere Wiederkehr bürgerlicher Empfindungsmuster, wie sie exemplarisch in «Kommune 2» beschrieben sind[2] und schließlich zum Abbruch des Versuchs führten, immer wieder Wasser auf die Mühlen der Familienideologen, nach deren Behauptung andersartige Sozialformen als die monogame Ehe für die Kindererziehung untauglich sind. Die jetzt bereits aus der Kommunepraxis vereinzelt vorliegenden neuen Erfahrungen über Interaktionsveränderungen zwischen Eltern und Kindern[3] bleiben schlechthin außer Diskussion, weil man sie als sogenannte radikale Versuche auch ethisch verwirft.

Fragen wir weiter: Wie ist es zu erklären, daß die beobachtete aggressive Wendung des Kindes gegen seinen leiblichen Vater in dem Augenblick, da es weitere «soziale Väter» durch die Kommunemitglieder gewinnt, so wenig Aufmerksamkeit in unserer Öffentlichkeit auslöst? Wie verhalten sich Eltern gegenüber Aggressivitäten des Kindes in der Familie? Wie ist die Möglichkeit von mehreren gleichberechtigten sozialen «Eltern» im Erziehungsprozeß zu beurteilen? Könnte man sich konkrete «Patenschaften» als einen Weg in diese Richtung vorstellen?

Der bisher größte geschichtliche Versuch, das Erziehungsmonopol der Familie aufzuheben, wird derzeit im jüdischen Volk durchgeführt. Im Staat Israel ist die sog. Kibbuz-Erziehung in den ländlichen genossenschaftlichen Siedlungen weltweit bekanntgeworden. Die Kibbuz-Erziehung wird nicht etwa erst seit dem 14. Mai 1948, also seit Gründung des Staates Israel praktiziert, sondern bereits seit 1909, als die erste genossenschaftliche Siedlung jüdischer Einwanderer in Palästina zustande kam. Das Datum ist wichtig, denn es eröffnet Raum für materialistische Analysen erzieherischer Veränderungen. Jene jüdischen Siedler strömten seit Ende des 19. Jhds. vor allem aus dem alten zaristischen Rußland nach Palästina, weil es ihnen angesichts der antisemitischen Ausschreitungen im Zarenreich als «gelobtes Land» erschien. Diese Siedlergruppen, von der Vorstellung getragen, ins Land ihrer Väter heimzukehren und den Boden durch Arbeit «erlösen» zu sollen, stießen auf unvorhergesehene Schwierigkeiten. Es zeigte sich nämlich, daß Palästina durch jahrhundertelangen Raubbau an der Natur ein weithin verkarstetes Land geworden war und daß zu einer agrarischen Neuerschließung unvorstellbar zähe Arbeit erforderlich sein würde. Jedes erwachsene Mitglied eines Kibbuz, gleichgültig ob Mann oder Frau, war daher gehalten, seine volle Leistungsfähigkeit dem gemeinsamen Werk zu widmen. Die einzellige Familie, aus der nur der Mann draußen arbeitete, die Frau jedoch die Kinder versorgte und eine kleine abgeschlossene Hauswirtschaft betrieb, dieses übliche bürgerliche Modell erwies sich angesichts übergreifender ökonomischer Zwänge als unbrauchbar. Die Gruppe benötigte mehr an Arbeitsvolumen, um zu überdauern. Die Frauen mußten folglich den privaten Haushalt aufgeben und selbst in den gesellschaftlichen Arbeitsbereich hinüberwechseln. Die bisherige Haushaltsarbeit wie Kochen, Waschen, Nähen, Erziehen wurde kollektiviert.

Mit Bedacht haben wir dabei «Erziehen» an die...

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