Kapitel 1 Das Problem: Zur Grundstruktur vom Umgang
Die Situation nach dem 2. Weltkrieg. Probleme der Deutschen. Entwicklung von Umgang als subjektives Problem. Erfahrung als methodisches Mittel. Knigges «Umgang mit Menschen».
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren zunächst verhältnismäßig ruhig verlaufen: Furchtbare Verwüstungen in materieller wie geistigmoralischer Hinsicht mußten mit den Anstrengungen der beteiligten Völker mühsam überwunden werden. Die Geschichte lehrt, daß Phasen, die einen erheblichen Teil der Kräfte aller Menschen dadurch binden, daß die Grundlagen für bloßes Überleben zu sichern sind, kaum Spielräume zum Austrag ideologischer Konflikte eröffnen und wenig dazu anregen, die Voraussetzungen der Wiederaufbauarbeit gründlich zu reflektieren.
Erst ein gewisser materieller Sättigungsgrad und die gestillten Elementarbedürfnisse schufen dem Bewußtsein Freiräume, seinen historischen Standort zu bestimmen und nach Zusammenhängen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Verhältnissen zu fragen, die Ursachen für eventuelle Fehlentwicklungen und politische Katastrophen zu erforschen. Dies wiederum war nicht denkbar, ohne daß die Gesellschaft selbst zum geschichtlichen Gegenstand wurde und gesellschaftliche Bewegungen auf ihre Ursprünge, Verläufe und Folgen hin interpretiert werden konnten. Eine kritische materialistische Sozialwissenschaft hat dafür wiederum erst die Instrumente bereitgestellt, während gleichzeitig das wiedererstarkende gewerkschaftliche Bewußtsein vieler lohnabhängiger Menschen unter kapitalistischen Verhältnissen den Hintergrund eines noch unabgeschlossenen Emanzipationsprozesses bildete.
Es will jedoch scheinen, daß nicht nur diese materiellen Bedingungen, sondern auch ein spezifischer Generationswechsel den Abstand ermöglichten. Eine Generation, die keine persönliche Schuld mehr an die faschistischen Verbrechen band, für die das in der politischen Bildung viel zitierte Wort von der «Bewältigung der Vergangenheit» allenfalls durch geschichtliche Folgelasten wie die Teilung Deutschlands oder die moralische Besudelung unserer Nation wirksam wurde, konnte überhaupt erst radikal zu fragen beginnen, welche Tatsachen unserer Geschichte und welche gesellschaftlichen Triebkräfte für die unsäglichen Verbrechen nach 1933 verantwortlich zu machen seien.
So hat jene jugendliche Protestbewegung Mitte der sechziger Jahre das mangelnde politische Bewußtsein der Massen aufgedeckt und gleichzeitig das willfährige Kleinbürgertum als spezifischen Nährboden für faschistische Ideologien und Rassedünkel jeder Art charakterisiert. Daß «der Mensch» keinen Ausweg findet, sich von der Gesellschaft abzusondern, sich als einzelner zu behaupten, daß er materiell wie ideell von ihren führenden Tendenzen abhängt –, dies ist eine Entdeckung, die durch den Umgang mit der materialistischen Soziologie ermöglicht und an den zeitgeschichtlichen Entwicklungen belegt werden konnte. Mit Hilfe der materialistischen Methode wurde Geschichte entzifferbar, und die Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen gewannen eine Interpretationsgrundlage.
Das Individuum muß im Rahmen der konkreten Umstände aufgesucht werden, wenn es in seiner Komplexität erschlossen werden soll. Es ist also Analyse der wirklichen Lebensverhältnisse zu betreiben. Die Person erscheint dabei sowohl in ihrer Identität als auch in der Schnittlinie gesellschaftlicher Prozesse und Antinomien. Es wird der Standpunkt vertreten, die objektiven Verhältnisse blieben so lange belanglos, wie sie nicht subjektiv wahrgenommen würden.
Das Vorhaben dieses Buches bestreitet nicht die These, daß der Mensch vor allem das Produkt seiner Gesellschaft sei, und es wird hier nicht einem neuen Individualismus das Wort geredet. Pädagogische Untersuchungen über Fragen der Selbstführung und Selbsterziehung wollen nicht von jenem Primat der gesellschaftlichen Vorgänge ablenken; beabsichtigt ist vielmehr, diesen Primat zu differenzieren und zu zeigen, daß der Mensch auch das Werk seiner selbst ist, nämlich der Geschichte seiner personalen Gestaltungsbemühungen. Johann Heinrich Pestalozzi hat den Menschen als Resultat dreier Grundkräfte gesehen: der Natur, der Gesellschaft und seiner selbst.[1]
Die Frage nach dem Umgang zielt deshalb gleichsam auf die nicht belichtete Seite des in vielen anderen Bereichen von Sozialisation besser ausgeleuchteten gesellschaftlichen Prozesses, auf eine Seite freilich, die von außerordentlicher Bedeutung ist. Denn so gewiß einerseits Bildung und Humanität stets mit Machtkonstellation zu tun haben, so gewiß ist andererseits, daß demokratische Verfassungsvorgaben durch Personen und Gruppen ausgefüllt werden müssen, die mit sich selbst human umgehen können, also Menschlichkeit verwirklichen. Nun stehen solcher Verwirklichung freilich generationsübergreifende Hindernisse entgegen, die Hölderlin einmal im Blick auf die Deutschen folgendermaßen benannt hat: «Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele […] Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, daß zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.»[2]
Auf diesem Hintergrund läßt sich das Vorhaben genauer bestimmen. Umgang mit sich selbst soll als die subjektive Komponente eines Sozialisationsprozesses verstanden werden, dessen Richtung zwar weithin durch die objektiven Verhältnisse vorbestimmt ist, der aber doch eine Fülle individueller Gestaltungsmöglichkeiten und folglich auch sozialer Varianten einschließt. Diese subjektive Komponente nun ist von erheblicher pädagogischer Bedeutung, weil Pädagogik als Handlungswissenschaft ihren Beitrag im gesellschaftlichen Prozeß nur auf dem Wege der Bearbeitung von Bewußtsein zu erbringen vermag, eben dadurch aber auf die Weiterentwicklung der objektiven Verhältnisse entscheidend einwirkt. Denn materialistische Theorie hat immer wieder die Aussage erhärtet, daß Verhältnisse nicht schicksalhaft gegeben, sondern von Menschen geschaffen worden sind und folglich auch von ihnen wieder geändert werden können. Nur eine vulgäre, eine um ihre Feinheiten gebrachte materialistische Theorie wird dabei die ästhetische Erziehung und Selbsterziehung gering achten und lediglich auf politische Formation sinnen, um damit die auf Freiheit für alle intendierten Geschichtsprozesse vermeintlich zu beschleunigen.
Eine materialistische Bildungstheorie dagegen, wie sie von Heinz-Joachim Heydorn vertreten wurde (60; 61) und die noch der gründlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung und Übersetzung bedarf, geht davon aus, daß der Mensch nur durch eine zähe und schwere Bildungsarbeit das Erbe der Geschichte sich anzueignen vermag, um mit dieser Ausrüstung kritisch an den Aufbau einer Welt gleicher und freier Menschen zu gehen, in der auch der Kampf um humane Verhältnisse nicht blindlings und erbittert geführt werden kann, sondern im Erkenntniszusammenhang mit den philosophisch überprüften Werten der gesamten bisherigen Überlieferung. Was Heydorn hier im Hinblick auf kritisches und diskursives Denken, besonders auf akademische Analysen und Aneignungsprozesse unerbittlich fordert, wobei er sich der strengen Verpflichtung des Aufklärungsethos unterstellt, ist nicht minder zwingend für den subjektiven und intersubjektiven Umgang zu fordern. Hölderlins Klage über die «Barbaren von alters her» bezeichnet wohl eine gesellschaftliche Verfassung, die Barbarei immer wieder hervorbringt. Die Klage richtet sich aber auch gegen die Barbarei des Gefühlslebens, die mangelnde Arbeit an der eigenen Person, die fehlende Bereitschaft, Humanität wenigstens im Bewußtsein herzustellen und sich daran zu orientieren, um überhaupt die äußeren Mißverhältnisse wahrzunehmen. Hölderlins Klage betrifft die verkümmerte Identität, das Erlöschen eines Leitbildes von Menschlichkeit mit allen Folgen, die daraus für das soziale Leben entstehen.
Die Absicht, aus der dieses Buch geschrieben wird, läßt sich damit in einen pädagogischen Erkenntnisrahmen stellen: Leben und Bewußtsein, wie sie allein menschlichen Subjekten verfügbar sind, sollen unter der Möglichkeit von Entwicklung und Formung analysiert werden. Grundlegende These ist, daß Umgang mit sich selbst von den rohesten und unbarmherzigsten Verhaltensweisen bis zur Entwicklung voller Humanität der eigenen Person gegenüber reichen kann. Den Pädagogen interessiert dabei vor allem, wie die erstaunliche Bandbreite von Sublimation zustande kommt und wie ein sich selbst leitendes Individuum seine Verhaltensspielräume erweitert. Dem liegt freilich die Auffassung zugrunde, daß erst humaner Umgang mit sich selbst Humanität im gesellschaftlichen Maßstab aufbaufähig macht, Menschlichkeit also als ein komplexes Gefüge gesehen werden muß, in der die subjektive Komponente als integrierender Bestandteil gilt.
Wenn die bisherigen Überlegungen richtig sind, dann läßt sich auch die pragmatische Voraussetzung benennen, unter der die Kapitelfolge des Buches steht: Umgang mit sich selbst wird als lernbar verstanden, sonst müßte jedes pädagogische Interesse entfallen. Denn was nur unter statischen Chiffren wie Schicksal, Temperament oder Charakter untergebracht werden könnte, entzöge sich der...