Kapitel 2 hat das HG-Konzept in der allgemeinen Entwicklung der Landschaft der stationären Altenpflege verortet. Es wurden Gründe aufgezeigt, die für diese neue Form, stationäre Altenpflege zu denken und zu organisieren, sprechen.
In Kapitel 3 geht es darum, das Konzept der stationären Hausgemeinschaften in seinen wichtigsten Elementen darzustellen, wobei solche Aspekte besonders betont werden, die in Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind.
Die unterschiedlichen Quellen sind sich darin einig, dass insbesondere Vorerfahrungen aus dem europäischen Ausland, namentlich das Cantou-Modell aus Frankreich und die so genannten Hofjes aus den Niederlanden, eine Vorbildfunktion für das HG-Konzept hatten und dann maßgeblich durch das KDA auf die deutschen Verhältnisse angepasst wurden.[49]
„Die Konzeptionen von Hausgemeinschaften wurden anfänglich besonders durch Projekte in den Niederlanden (Anton-Pick-Hofje) und in Frankreich (Cantous) beeinflusst. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) analysierte diese sehr verheißungsvollen Projekte des benachbarten Auslands und stimmte die dort erfolgreich angewendeten Konzepte auf die deutschen Gegebenheiten und den Bedarf in Deutschland ab.“[50]
Als weitere mögliche Vorbilder werden zudem die Group Living Facilities / Group Homes in Schweden, die Pflegewohnungen in der Schweiz, sowie die Abbeyfield Societies in Großbritannien genannt.[51]
Festzustellen ist hierbei, dass diese Entwicklung im europäischen Ausland mitunter schon Jahrzehnte vor den ersten Ansätzen in Deutschland eingesetzt hat: Während ambulante Ansätze in Deutschland seit den 1990er Jahren, stationäre sogar erst seit der Jahrtausendwende diskutiert werden, setzten die Entwicklungen im europäischen Ausland teilweise bereits in den 1950er und 1960er Jahren ein.[52]
Einige Elemente sind all diesen Modellen im Großen und Ganzen gemeinsam und bilden auch die wesentlichen Eigenschaften der Hausgemeinschaften:
Es handelt sich um relativ kleine Gruppen für i.d.R. 6 bis 12 Bewohner.
Nicht die Pflege, sondern die normale Alltagsgestaltung steht im Mittelpunkt.
Häufig gibt es eine Hauswirtschafts- oder Präsenzkraft, die tagsüber den personellen Dreh- und Angelpunkt dieser Wohnform darstellt.
I.d.R. verfügt jeder Bewohner über ein Einzelzimmer. Auf der anderen Seite gibt es eine Betonung des Wohn- und Gemeinschaftsbereiches:
Privatsphäre einerseits und Gemeinschaft andererseits werden gefördert.
Der Schwerpunkt liegt häufig bei der Demenz.
Es gibt einen definierten räumlichen Mittelpunkt, um den sich das Leben gruppiert. Im Falle der niederländischen Hofjes ist dies der Innenhof (= Hofje), i.d.R. wird der Mittelpunkt jedoch durch die Wohnküche bzw. die Kochstelle definiert.
Die Gemeinschaft und die Alltagsnormalität stehen im Vordergrund.
Der Einbezug der Angehörigen ist oft fester Bestandteil des Konzeptes.[53]
Hiermit sind bereits die wichtigsten Elemente des HG-Konzeptes in verkürzter Form benannt. Noch offensichtlicher werden hierbei auch die elementaren Unterschiede zum ‚klassischen‘ Wohnbereichskonzept: Keiner der benannten Punkte (mit Ausnahme des Schwerpunktes ‚Demenz‘ im Falle segregativer Demenz-Wohnbereiche) ist typisch für das Wohnbereichskonzept.
Besonders elementar ist, dass diese Wohn- und Betreuungsformen (so auch das HG-Konzept) einen Mittepunkt im doppelten Sinne aufweisen:
Der Mittelpunkt wird in personeller Sicht durch die Hauswirtschafts- oder Präsenzkraft (vgl. oben) gebildet.
Der Mittelpunkt in räumlicher Hinsicht wird im Falle der Hofjes durch den Innenhof gebildet (siehe oben), im Falle der französischen Cantous durch den Herd: „Cantou bedeutet Feuerstelle im Haus, um die man sich zu versammeln pflegt(e). Um diesen „magischen“ Mittelpunkt herum spielt sich das gemeinsame Leben ab.“[54]
Auch das ‚deutsche‘ HG-Konzept verzichtet nicht auf diese beiden Aspekte:
Die Rolle der Präsenzkraft ist elementar für das HG-Konzept. Da es sich um eine neue Aufgabenzuschreibung handelt, kommt ihr im Change-Projekt eine besondere Aufmerksamkeit zu (vgl. Kap. 3.5.1).
Der räumliche Mittepunkt wird im HG-Konzept im Sinne des KDA durch die zentrale Wohnküche gebildet (vgl. Kap. 3.4.1).
Das KDA definiert die stationären Hausgemeinschaften in einer frühen Veröffentlichung aus dem Jahr 2000 wie folgt:
„Eine Hausgemeinschaft ist eine räumliche und organisatorische Einheit, in der sechs bis acht ältere und pflegebedürftige Menschen leben.“[55] Und weiter:
„Alle Pflege- und Betreuungsleistungen, die nicht von den Bewohnern selbst, den Angehörigen und/oder Freunden geleistet werden können, werden über die Präsenzkräfte im Zusammenhang mit den Tagesaktivitäten oder/und über den hauseigenen pflegerischen Dienst erbracht.“55
Die Zahl von sechs bis acht Bewohnern wurde in frühen Veröffentlichungen als ideale Größe angenommen, in späteren Publikationen wird diese Zahl auf bis zu zwölf Bewohner ausgeweitet,[56] was nicht zuletzt betriebswirtschaftlichen Belangen Rechnung tragen soll.
Deutlich wird im zweiten Teil dieser Definition insbesondere die veränderte Rolle der Pflege (vgl. hierzu ausführlich Kap. 3.5.2): Leistungen der Pflege und Betreuung sollen zunächst einmal von den Bewohnern selbst, nachrangig von Angehörigen
oder Freunden, nachgeordnet von der Präsenzkraft (= keine Pflegekraft, vgl. Kap. 3.5.1) erbracht werden. Erst wenn all dies nicht ausreicht, soll die Berufsgruppe der Pflegenden kompensatorisch tätig werden.
Die Formulierung ‚hauseigener pflegerischer Dienst‘ deutet dabei bereits an, dass dieser Pflegedienst nicht zwangsläufig fester Bestandteil der jeweiligen HG ist, sondern ggf. wie ein externer Dienstleister in die HG kommt, um punktuell seine Dienstleistungen zu erbringen.
Dies ist ein bedeutender Aspekt im Übergang eines bestehenden Teams zum Konzept der Hausgemeinschaften, da sich insbesondere die Pflegekräfte mit einer deutlich veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung ihrer Rolle auseinanderzusetzen haben. Dies bedarf im Zuge eines entsprechenden Change-Projektes besonderer Aufmerksamkeit.
Gemäß Kaiser, Gudrun (2012) sind Hausgemeinschaften „konzeptionell in erster Linie auf Humanität und Lebensqualität, insbesondere auch auf Überschaubarkeit, Geborgenheit, Vertrautheit und Normalität des Wohnmilieus ausgerichtet.“[57]
Dies stelle eine Abkehr vom ‚klassischen‘ institutionalisierten Pflegeheim-Modell (der 3. Generation) dar.[58]
Diese Abkehr wird von Müller/Seidl (2003) als ‚Paradigmenwechsel‘ innerhalb der stationären Pflege bezeichnet, der sich in folgende Aspekte ausdifferenzieren lasse:
1. Deinstitutionalisierung im Sinne von Überschaubarkeit und Kleinräumigkeit und damit insbesondere einem (stationären) Milieu, das förderlich ist für die Aufrechterhaltung der Person-Umwelt-Beziehung dementer Bewohner.
2. Personen- und Alltagsorientierung und damit eine Abkehr von der Defizitorientierung (die im Umkehrschluss der stationären Pflege im klassischen Wohnbereichskonzept unterstellt wird).
3. Abkehr vom maximalen Versorgungsprinzip: Es geht um Alltagsnormalität. Therapeutische Maßnahmen haben in den Hintergrund zu treten.
4. Gestaltung des sozialen Milieus – in erster Linie durch die Präsenzkraft, die (tagsüber) den Alltag in der HG begleitet.[59]
„Bei dem Konzept der heimverbundenen Hausgemeinschaft steht (…) die Aufrechterhaltung von möglichst viel Alltagsnormalität im...