2 Verlaufsstruktur der Psychotherapie mit dem Tagtraum
Eine elaborierte Systematik und ein flexibler Umgang mit den klinischen Gegebenheiten schließen sich keineswegs aus, sondern bedingen einander. Die vielfältigen Orientierungshilfen und technischen Mittel, die den angehenden wie den fortgeschrittenen Therapeuten im Rahmen der KIP zur Verfügung stehen, dienen vor allem dazu, sich angemessen und zielbezogen auf das je einzigartige Gegenüber einzustellen. Bevor dies mit einem typischen Behandlungsverlauf veranschaulicht wird, soll erst einmal der Rahmen dafür abgesteckt werden.
Die KIP versteht sich als eine Methode der Tiefenpsychologie. Wer darin ausgebildet ist, wird stets die Konzepte von Übertragung und Gegenübertragung berücksichtigen und gelernt haben, hinter Konflikten innerseelische Abwehrvorgänge zu entdecken. Wer primär oder darüber hinaus in der Verhaltenstherapie zu Hause ist, wird hinter manchen Phänomenen und Techniken der KIP kognitiv-behaviorale Aspekte ausmachen können. Systemiker und Hypnotherapeuten haben einen alternativen Blick auf den Begriff, den man sich vom Unbewussten machen kann, einzubringen. Mit dem psychodynamischen Aspekt allein ist es nicht getan, auch nicht in der KIP (Abschn. 4.4). Unser Tun und seine Wirkungen werden von Konzeptmetaphern gesteuert. Je mehr von ihnen wir im Kopf haben, desto mehr Behandlungsoptionen stehen uns zur Verfügung. Bei zu vielen Studien auf einmal ging allerdings sogar dem Schüler in Goethes Faust »ein Mühlrad im Kopf herum«. Die KIP bietet mit ihrem psychodynamischen Verständnis für den Anfang eine gute Orientierungshilfe.
Im folgenden Abschnitt werden wir uns schrittweise die typische Verlaufsgestaltung einer Psychotherapie mit dem Tagtraum erarbeiten. Hier reiht sich eine Komponente an die andere, um – im Sinne einer Kokonstruktion der Beteiligten – zusammen ein Ganzes zu ergeben, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
2.1 Vom Gespräch zur bildhaften Vorstellung
Imaginativ arbeitende Therapeuten können nicht anders, als Bilder im Kopf zu haben, wenn sie Worte auf der Zunge tragen. Das macht ihre Sprache bildhaft und emotional eingängig. So sind schon im Vorfeld einer ins Auge gefassten Tagtraumübung eine Menge Bilder im Raum. Der Hypnotherapeut mag dabei an die seeding procedure oder an die interspersal technique denken, der Neurowissenschaftler an das Priming-Gedächtnis. Das Vorgespräch zur konkreten Imagination ist – ob bewusst intendiert oder unbewusst eingebracht – vermutlich mit mehr bildhaften Suggestionen angereichert, als sich manche um Abstinenz bemühte Therapeuten träumen lassen.
Mit den anstehenden Themen und Zielen im Kopf entwickelt der Therapeut »Ideen« (griech. eidos: »Bild«) für die Auswahl oder Gestaltung der Motive, mit denen der Tagtraum eingeleitet werden soll. Es handelt sich dabei um eine spezielle Variante von Symbolen, die das Zeug haben, die »Innenschau« auf eine imaginative Bühne zu eröffnen und dort eine Art von »Symboldrama« in Gang zu setzen. Meist bedarf es keiner ausgiebigen Entspannungssuggestion, da die visuelle Fixierung auf ein Bildsymbol die Aufmerksamkeit in ähnlicher Weise absorbiert wie ein zur klassischen Tranceinduktion eingesetztes Pendel.
2.2 Vorstellungsmotive und ihre Funktionen
In der KIP hat das Motiv (lat. movere: »bewegen«) über die schon angesprochene initialisierende Funktion hinaus noch andere Aufgaben zu verrichten. Besonders dann, wenn Problemtrancen zum Selbstläufer geworden sind, dient es der Musterunterbrechung, indem es sich gegenüber dem Alltagsdenken querstellt. Es provoziert auf der anderen Seite dazu, problemschaffende wie lösungsdienliche Muster auf symbolische Weise zur Darstellung zu bringen.
Was Tagträumer und Therapeut da als Szenerie oder Drama vor Augen haben, hat vielschichtige Qualitäten: bildhafte, affektive, sinnliche, körperbezogene und nicht zuletzt symbolische. Die symbolischen Qualitäten sind es, nach denen man die zum Standardrepertoire gehörenden Motive der ersten und zweiten Wahl einteilen und einsetzen kann. Bewährte Motive der ersten Wahl werden als Standardmotive bezeichnet. Sie dienen für den Anfang der Ausbildung und für den Anfang einer KIP als Hilfe zum Einstieg in die Methode. Der angehende Therapeut kann sich im Rahmen der Grundstufe seiner Ausbildung an einem Set von 1 + 5 Standardmotiven (s. u.) im »Lesen« wie in der Handhabung der Symbolik üben, die das Motiv »an sich« hat und in den Tagtraum hineintransportiert.
Jedes der Standardmotive bringt einen besonderen Anmutungscharakter und einen mehr oder weniger zielorientierten Bedeutungshof mit. Nach dem Motiv für den initialen Tagtraum, den ITT (Abschn. 1.3), wird in der Regel als erstes der fünf weitläufiger angelegten Motive eine Wiese vorgegeben. Hier ist der Bedeutungshof großräumiger abgesteckt als bei dem initialen »Blumentest«. Wenn uns jetzt statt der Wiese »ein weites Feld« vor Augen geführt wird? Wenn dieses Feld abgemäht ist und moderig riecht, begleitet von einer Stimmung des Abschiednehmens, die an den Herbst des Lebens denken lässt? Wenn statt der Wiese ein Frühlingsbeet auftaucht, voller Blüten, die von Bienen umschwärmt werden? Wenn der Tagträumer nun losstürmt und eine Blume nach der anderen pflücken will? Oder wenn er wie angewurzelt vor diesem Beet stehen bleibt und sich daran erinnert, dass die Eltern ihn als Kind zurückpfiffen, sobald er aktiv werden wollte? In allen vier Szenen ist dann der Therapeut gefordert, eine angemessene Form der Begleitung zu finden. Das kann sich in der Art und Weise zeigen, in der er emotional mitschwingt und sich äußert, aber auch darin, dass er zum Innehalten oder zum Handeln anregt. All das trainiert man in der Grundstufe der Ausbildung.
Die Grundstufe der KIP hält im Anschluss an die »Wiese« noch vier weitere Standardmotive vor. Zur Auswahl stehen: ein Bach, ein Berg, ein Haus, ein Waldrand. Wer Lust hat, sich mit diesen Motiven eine Weile zu befassen, der mag sich an dieser Stelle etwas Zeit zum Nachsinnen nehmen. (Vielleicht wieder einmal mit dem Blick auf ein leeres Blatt? … Sie können gerne einfach mit einem Bach beginnen – und zwar: jetzt …)
Was für Bilder und Geschichten entwickeln sich wohl auf das eine oder andere Motiv hin? Beispiele zum »Bach« finden sich später in einer Kasuistik (Abschn. 2.5). Im Internet steht eine repräsentative Zusammenstellung von Motiven und ihren Anmutungsqualitäten kostenlos zur Verfügung (Kottje-Birnbacher 2001, siehe Abschn. 6.2). Eine Auswahl von zwölf Fallgeschichten mit x+1 Motiven gibt es im Buchhandel (Ullmann 2001).
2.3 Zwischen Tagtraum und Tagtraum
Kaum haben wir uns mit den Motiven befasst, da sind wir auch schon halbwegs in den Tagtraum eingetaucht. Der Rollenwechsel gehört dazu: mal Beobachter, mal Handelnder in einer Haupt- oder Nebenrolle (Protagonist oder Mitakteur), mal in einer menschlichen oder tierischen Gestalt. Die Rollen des Therapeuten sind von spielerischer und zugleich professioneller Art. Er soll empathisch »dabei sein«, angemessen »mitgehen«, affektive Zustände in Worte fassen, ermutigen oder zur Vorsicht anhalten, hier und da gezielt intervenieren. Was den Tagtraum eigentlich trägt und gestaltet, ist das für die KIP spezifische Element der katathymen Imagination (Abschn. 3.5).
Nach dem Tagtraum ist vor dem Tagtraum. Die dort aufgeworfenen Themen wirken in den nachfolgenden Stunden weiter, während neue Aspekte hinzukommen, bis schließlich ein nächstes Motiv »dran« ist. Unmittelbar auf den Tagtraum folgt eine Nachschwingphase. Der aus dem Hypnoid auftauchende Klient ist dabei noch ganz eingenommen von der Welt seiner inneren Bilder und Stimmungen. Er befindet sich in einem fruchtbaren, aber auch verletzlichen Zustand. Deshalb sollte man seine eigenen Interpretationen für sich behalten und keine Deutungen oder Metaphern einbringen. Jetzt geht es vorrangig darum, den nachschwingenden Affekten (»katathym«) ihren Raum zu geben. Manchmal ist Tröstendes am Platz, manchmal Ermutigendes oder Weiterweisendes. Posthypnotische Suggestionen sind unnötig: Die allmählich verdämmernde symbolische Welt wirkt aus sich selbst heraus nach.
Nach dem Auftauchen aus dem Hypnoid ändert sich auch die Gesprächsbasis. Jetzt rücken meist alltagsbezogene Inhalte in den Vordergrund und ziehen den Fokus der Aufmerksamkeit allmählich von den Inhalten der Imagination ab. Zu einem kunstgerecht geführten Nachgespräch gehört das Kriterium der wiedererlangten Verkehrstüchtigkeit. Man mache sich klar, dass das Tagträumen im Alltag manchmal seine Tücken hat. Deshalb ist es wichtig, das Ende der Nachschwingphase deutlich zu markieren, vergleichbar dem »Zurücknehmen« beim autogenen...