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Einführung in die Philosophische Ethik

AutorAndreas Vieth
Verlagneobooks Self-Publishing
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783738026580
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Das Buch behandelt traditionelle Themenfelder der philosophischen Ethik: Glück, Reichweite der Ethik, Non-Kognitivismus, Egoismus, Utilitarismus, Deontologie, Konsequenzialismus, Tugendethik, Wertethik, Realismus, Freiheit, Moralpsychologie, Solidarität, Loyalität. Diese Problemhorizonte befinden sich jeweils in einem offenen Feld systematischer Optionen. Offen ist es, weil sich Philosophen zur Entwicklung eigener Positionen hier erst systematisch verorten müssen. Die vorliegende Einführung stellt daher keine konkrete Position der Ethik als 'Ethik des Autors' vor. Vielmehr vermittelt sie in der Diskussion klassischer Themenfelder der Ethik philosophische Kompetenzen bei der Beurteilung und Präsentation konkreter Ansätze der Ethik. Es wird gezeigt, wie die Diskussion in diesen Themenfeldern von metaphilosophischen oder metaethischen Vorannahmen strukturiert wird. Das Buch ist für das Studium der Philosophischen Ethik im universitären Kontext konzipiert. (ethik.andreasvieth.de)

Andreas Vieth, Privatdozent, Dr. phil., Jahrgang 1968. Lehrt hauptamtlich Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. (philosovieth.de)

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Leseprobe

2 Reichweite der Ethik


Abbildung 2: Eingangstor zum Stammlager (Auschwitz I) des Konzentrationslagers Auschwitz (1945)[< 27]

Auf dem Bild finden wir offensichtlich den Eingang zu einem Fabrikgelände. Was wird dort hergestellt? Die Schranke ist großzügig geöffnet, einige stehen herum (Bedienstete? Besucher?). Es ist scheinbar ein herrlicher Tag, da die Sonne die Ziegelsteingebäude links an der Eingangsstraße erwärmt. Bäume ergänzen die Szenerie freundlich. Sicherlich ist die Arbeit angenehm. Nur der Schriftzug hätte sorgfältiger gestaltet werden können. Das „B“ ist seitenverkehrt. Hoffentlich arbeitet man auf dem Fabrikgelände sorgfältiger. Aber der Spruch macht doch Sinn! Durch Arbeit werden wir materiell unabhängig und eine produktive Tätigkeit kann uns mit Freude erfüllen. Arbeit ist ein wichtiger Wert. Nun, diese Bildbeschreibung ist grotesk. Es fehlt nur noch der Hinweis auf die im Bild fehlende Musikkapelle, mit der die Todgeweihten in Auschwitz „freundlich“ begrüßt wurden. Auf dem Bild ist ein Eingang zu sehen. Es ist auch der Eingang zu einer Fabrik, aber einer, in der nur der Tod industriell hergestellt wird. Millionenfach wurden Gefangene in Auschwitz ausgebeutet und dann in Birkenau ermordet. Der Sinnspruch ist also zynisch, aber das verkehrte B ein verzweifeltes (oder hoffnungsvolles?) Zeichen des Gefangenen Jan Liwacz.

Man gewinnt den Eindruck, dass die Ethik offensichtlich nicht bis Auschwitz reichte. Hätten die Bürger, ihre Regierung, der Beamtenapparat und das Militär einfach nur mehr Moral haben müssen? Kann die richtige Ethik eine neues „Auschwitz“ verhindern? Haben die Einzelnen (bis auf Menschen wie Jan Liwacz) die Gebote der Moral verloren? Wird man durch die Beschäftigung mit Ethik ein besserer Mensch? In diesem Kapitel ist der Frage nachzugehen, wie weit die Ethik reicht. Man kann sich fragen, warum man moralisch handeln soll. Ist es nicht besser zum eigenen Vorteil zu handeln oder nach ökonomischen Prinzipien? In welchen Formen kann man in der Ethik die Begründungsfrage stellen? Und: was ist eigentlich Begründung? Philosophen beschäftigen sich mit den Prinzipien ethischer und moralischer Argumente. Werden sie zu besseren Menschen, wenn sie die Struktur des Normativen und Evaluativen durchschaut haben?

|2.1 Warum moralisch Handeln?

|2.2 Dimensionen des Normativen und Evaluativen

|2.3 Begründung

|2.4 Reichweite der Ethik: eine skeptische Sicht[< 28]

2.1 Warum moralisch Handeln?


Eine der sonderbarsten Fragen der Ethik ist die Frage der Überschrift zu diesem Abschnitt. Warum soll ich moralisch Handeln? Im Alltag stellt sich zunächst eine andere [[die primäre Frage: Was soll ich tun?]] Frage: Was soll ich tun? Mögliche Antworten auf diese Frage sind: Man darf nicht lügen, obwohl ein Terrorist an meiner Haustür steht und eine Person bedroht, die bei mir zu Hause ist. Oder: Man darf in der Straßenbahn nicht schwarz fahren. Erst, wenn man über Antworten dieser Art verfügt, ist die [[die sekundäre Frage: Warum soll ich das tun?]] Frage dieses Abschnittes möglich. Sie ist also sekundär. Warum soll ich mich gemäß dem geltenden Lügenverbot verhalten? Warum soll ich das Schwarzfahrverbot faktisch respektieren?

Für Immanuel Kant sind sekundäre Fragen dieser Art unsinnig. Wer Einsicht in seine Pflicht hat, handelt ihr entsprechend. Er kann nur durch äußere Einflüsse daran gehindert werden. Solche äußeren Einflüsse können Hinderungsgründe in der Umgebung des Handelnden ebenso sein, wie seine eigene (der Vernunft gegenüber äußerliche) Begierde. Denn jemand kann die Fahrkarte kurz vor Fahrtantritt stehlen oder wir halten es für besser auf der Fahrt ein Eis zu genießen. Insofern kann auch unsere innere Begierde der innerlichen Einsicht gegenüber äußerlich sein. Im Bereich des moralischen Denkens gilt ihm die sekundäre Frage als sinnlos.

Das liegt daran, dass moralische Einsicht für Kant selbst ein nicht nur vernünftiges (Gründe erkennendes) Einsichtsvermögen ist, sondern auch ein motivierendes (Motivationen lieferndes). Moralisch gutes Handeln ist Handeln aus Pflicht. Und Handeln aus Pflicht ist das, was „passiert,“ wenn man in der richtigen Weise moralische Einsicht hat und keine äußeren Gründe ihr entgegenwirken. (Kant 1785, S. 396.) Mögen diese (gegenüber der Moral) äußeren Gründe selber wieder (im Bezug auf die Handelnde) äußere oder innere sein.

Kant hat eine zweigeteilte Motivationstheorie. Zum einen gibt es die genannte Vernunftmotivation (die Einsicht in die Pflicht motiviert unmittelbar), zum anderen das Begehren (die Wertungen unseres Begehrens motivieren unmittelbar). (Vgl. später Kap. 12.4.) Darin unterscheidet sich Kant von David Hume, der die Vernunft als ein nicht-motivierendes Einsichtsvermögen konzipiert. Zur Einsicht in die Pflicht müssen, nach Hume, Emotionen und Affekte als motivierende Faktoren faktisch hinzukommen. Man hat also einerseits die Einsicht und andererseits ein Gefühl; und nur letzteres macht die Einsicht motivational wirksam. In einer solchen Ethik wird die Frage danach, was man tun soll, zwar als Einsicht in die Pflicht gegeben, aber man kann sich fragen, warum man ihr gemäß [< 29]handeln soll. Denn es muss etwas Äußeres (ein inneres Außen und ein äußeres Außen) passend hinzu kommen (vgl. Kap. 14.1).

Nun kann die sekundäre Frage „Warum moralisch Handeln?“ [[Zwei Varianten der sekundären Frage]] zwei Formen annehmen. Zum einen kann man danach fragen: Warum sollte mich ein Ge- oder Verbot motivieren? Habe ich eine Einsicht, so muss es – nach David Hume – noch einen weiteren Grund geben, diese handlungseffektiv werden zu lassen. (Hume 1978, 3.1.1.) Es geht also um den Zusammenhang zwischen [[(1) Einsicht/Motivation]] Einsicht und Motivation zum Handlungsvollzug. [[(2) interne/externe Gründe]] Zum anderen kann man danach fragen: Warum sollten wir uns im Handeln an den Ge- und Verboten der Moral orientieren. In diesem Fall geht es um die Frage, warum die moralische Einsicht als Antwort auf die primäre Frage eine bessere sein könnte als etwa andere Gründe. (Baier 1978.)

Man könnte sich zusätzlich zu moralischen Gründen gegen das Lügen beispielsweise auch medizinische vorstellen: Wer lügt, hat Angst, entdeckt zu werden. Und diese Angst könnte „krank“ machen. Angenommen eine solche medizinische These wäre begründet: Dann hätte man nicht nur moralische Gründe, die Wahrheit zu sagen (Einsicht in die Pflicht), sondern auch medizinische (Sage die Wahrheit, wenn Du gesund bleiben möchtest). Die medizinischen Gründe wären allerdings nicht mehr so „durchschlagend,“ wenn es eine Tablette gäbe, die die ungesunden Auswirkungen der Lügen-Angst beseitigen würde.

Wenn sie philosophisch als sinnvoll gelten dürfen, fordern uns beide Formen der sekundären Frage auf, Gründe dafür anzugeben, warum wir uns gemäß Antworten auf die primäre Frage „Wie soll ich handeln?“ verhalten sollen. Nun haben diese Gründe etwas gemeinsam, das für das Verständnis der sekundären Frage wichtig ist. Die [[Nicht-moralische Gründe als Motivation]] Gründe, die als Antworten möglich sind, müssen selbst zumindest in dem Sinne nicht-moralische sein, dass sie nicht als Antworten auf die primäre Frage dienen können. (Hare 1992, Kap. 11.) Antworten auf die primäre Frage liefern uns moralische Gründe. Antworten auf die sekundäre Frage liefern uns nicht-moralische Gründe dafür, gemäß moralischen Gründen zu handeln. Im Kontext einer Humeschen Ethik soll die sekundäre Frage kurz erläutert werden.

Zur [[Variante 1: Einsicht und Affekt]] ersten Form der sekundären Frage: Gesetzt eine Person hat eine entsprechende vernünftige Einsicht als Antwort auf die primäre Frage, dann ist für Hume der Grund dafür, dass sie auch entsprechend handelt, nicht die Einsicht selbst, sondern es sind motivierende Affekte und Emotionen. Diese bilden Personen zum Beispiel dadurch aus, dass sie in ihre Kultur hineinwachsen. Ob jemand faktisch die Motivation hat, bestimmten Einsichten zu folgen, ist eine empirische Frage. Warum soll ich mich gemäß dem Lügenverbot verhalten? Übliche Gründe sind: [< 30] Weil ich nur eine Person sein kann, die Anerkennung in meiner Kultur erfährt (gelobt und nicht getadelt wird), wenn ich normgemäß motiviert bin. Nur, wenn ich mich moralisch (gemäß den Normen) verhalte, werde ich in meinem sozialen Leben glücklich. Und Personen wollen glücklich sein. Die Tatsache, dass es in einer Gesellschaft eine Praxis des Lobens und Tadelns gibt, ist der externe Grund dafür, dass ich der Einsicht in die Pflicht gemäß handele.

Wie jemand in einer Kultur glücklich wird, ist eine empirische Frage, da Normen kulturspezifisch variieren. Weil Kant ein solches Normverständnis ablehnte (moralische Normen sind invariante vernünftige Motivationen) und Hume nicht, macht die sekundäre Frage für Hume Sinn. Für Kant ist sie im Prinzip unsinnig – die erste Variante der sekundären Frage stellt sich für ihn nicht, weil er die Begierde als in ihrer Grundtendenz gegen die Vernunft wirkende Motivation erachtet. Zwar kann die Begierde in uns, die Vernunfteinsicht in ihrer...

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