Kein Fernweh, nirgendwohin
Allaa. Meine Schule war eingemauert, so richtig, wie ein Gefängnis, ganz typisch für eine syrische Schule. Das ganze Schulgebäude inklusive Bolz- und Basketballplatz war von einer Mauer umgeben. Wer zu spät zum Unterricht kam, sollte nicht unbemerkt hereinkommen können, sondern musste sich beim Hausmeister oder Pförtner anmelden. Und wenn einer den Unterricht schwänzen und früher abhauen wollte, nun, der sollte nicht unbemerkt hinauskommen. Aber es war total easy, über die Mauer zu klettern. Nur wenn dich der Aufpasser erwischte, gab’s eins auf die Finger! Der Typ musste zur Abschreckung solche mittelalterlichen Methoden anwenden, aber wer ihn mal heimlich nach Schulschluss beobachtet hatte, der wusste, dass er die cooleren Moves draufhat als unsereins! Finger spin, fruit loop, flamingo, den ganzen Shit.
Kaum hatte ich die Mauern hinter mir gelassen, kannte meine Tagesplanung nur ein Ziel: so viel Zeit mit meinen besten Freunden zu verbringen, wie es nur irgendwie ging (oder wie im Fall von Abdul brav so viel zu lernen, wie es nur irgendwie ging). Ich sah meine Freunde (bzw. er die Bücher) öfter als meine Eltern.
Ein paar Jahre später verbrachte ich noch mehr Zeit mit den Freunden und ging alleine in die Restaurants, von denen mein Vater uns immer vorgeschwärmt hatte. Ich stand dort nur regelmäßig vor immer demselben Problem: Der Kellner weigerte sich, die Bestellung aufzunehmen, weil er nicht auf der Zeche sitzen bleiben wollte. Ein vierzehnjähriges Kind könne das doch nicht zahlen und überhaupt – und dann zog ich wortlos einen großen Schein raus und legte ihn demonstrativ auf den Tisch. Danach sprach mich der Kellner ab und an mit »mein Herr« an, und das fühlte sich zwar komisch an, aber auch irgendwie gut.
Seit ich bündelweise Kohle mit mir rumschleppte, war mein Leben ein Krimi geworden. Wie in vielen arabischen Familien mit gewitzten Jugendlichen fand alle paar Monate bei uns »The Italian Job« im elterlichen Wohnzimmer statt: die Mutter im Zimmer nebenan am Telefon, der Vater bei der Arbeit, die Geschwister draußen in der Sonne – wo sonst –, und du hast ohne das geringste Geräusch eine Schublade aus dem Wohnzimmerschrank gezogen, einen langen Brieföffner in der Hand und die Ohren gespitzt in Richtung Mutter. Nun kommt der verzwickte Part! Er nimmt etwa dreißig bis vierzig Sekunden in Anspruch, und dabei darf man dich auf keinen Fall erwischen: Du führst den Brieföffner in einen Spalt im Fachboden über der jetzt fehlenden Schublade. Da oben ist der Schatz, die »Beute«, das Geld deiner Eltern. Jetzt keine falschen Schlüsse ziehen! Genau genommen ist das nämlich dein Geld, das deine Eltern für dich verwahren wollten, aber wenn du sie um einen Teil davon bittest, nie rausrücken. Ihr fragt euch jetzt: Haben die kein Bankkonto? Ich sage: what? Wir sind hier in Syrien. Bank of Arabia? Ein Möbelhersteller! Dessen Schränke mit einbruchsicheren Schlössern versehen sind. Aber unter uns Panzerknackern: Wen interessieren schon Schlösser?
Überhaupt ist das ganze Familiensystem in Sachen Finanzen wahrscheinlich etwas anders, als ihr es in Deutschland kennt. Sparkassen, Juniorsparkonto, Weltspartag? Zu mir sagte meine Mutter: »Allaa, hat dir dein Onkel nicht Geld geschenkt heute?1 Gib das mal her, bevor es verloren geht, wir verwahren es für dich.« Dann verschwinden die Scheine im Wohnzimmerschrank bis zum Tag X. Unbekannt. Ihr hattet eure Juniorcard, um an euer Erspartes zu kommen, ich den Brieföffner. Mir war mulmig zumute, euch nicht. Ihr hattet das KNAX-Heft, ich meinen eigenen Heist-Movie. Ihr hattet stets ein gutes Gewissen, ich ein schlechtes.
Mein erster Coup war der schlimmste. Ich musste ja davon ausgehen, dass meine Eltern genau wissen, wie viel sich in ihrem Geldversteck befand. Nun stimmte der Betrag nicht mehr. Was würde passieren, wenn sie es bemerkten? Würden die Eltern streiten, der Vater die Mutter beschuldigen oder umgekehrt? Als nichts dergleichen geschah, konnte ich davon ausgehen, dass sie keine Ahnung hatten, wie viel Kohle eigentlich in dem Fach war. Und das beruhigte auch irgendwie mein Gewissen. Sagen wir so: Für einige Zeit lag zwischen dem tatsächlichen und dem vermuteten elterlichen Vermögen der exakte Betrag meiner selbst verordneten Taschengelderhöhung.
Und ein Teil dieses Betrags flatterte mir in Scheinen entgegen, ich stocherte schnell noch einmal mit dem Brieföffner nach, es flatterten ein paar mehr Scheine – das dürfte reichen, zu viel durfte ja auch nicht fehlen. Vom randvollen Fach zum halb vollen? Das wäre selbst meinen Eltern aufgefallen.
Ich schob vorsichtig die Schublade wieder hinein und verschwand in mein Zimmer, um nachzuzählen. Yes! Für ein paar Monate würde ich der King in meiner Clique sein – und auch mein eigener. Ich würde im Restaurant mit den Scheinen dem Kellner zuwedeln, so was machen Männer, wenn sie sagen wollen: »Zahlen bitte!« Aber das ist nicht der einzige Weg, erwachsen zu werden, glaubt mir. Sein eigenes Land verlassen zu müssen, weil man gar keine andere Chance hat zu überleben, ist ein anderer.
Heute, sechs Jahre später, stecke ich meiner Mutter mit einem Grinsen gelegentlich Geld zu und sage: »Kuck, ich zahle dir zurück, was ich damals gemopst habe.« Vielleicht war es die Action wert. Das Lächeln auf ihrem Gesicht sagt mir, dass sie es die ganze Zeit über gewusst hat.
Abdul. Bei mir war es eher »Eine verhängnisvolle Affäre« im Jugendzimmer: der Vater mit der Mutter im Wohnzimmer, sie diskutieren. Der Nachteil dabei: im Wohnzimmer stand das eine Telefon; der Vorteil: die unvereinbaren Argumente der beiden ließen darauf schließen, dass sie noch eine Weile zu tun haben würden. Doch ich musste absolut sichergehen – mit leisen Schritten stahl ich mich bis knapp vor die Wohnzimmertür und lauschte. Die alleroberpeinlichste Situation wäre, wenn mein Vater das Telefongespräch mithörte. Ich würde ihm nur schwer morgen noch ins Gesicht schauen können. Mohammed, der Name meines Bruders, fiel in der Diskussion hinter der Tür. Sehr gut! Ein anderer Sohn hätte bald Stress! Ich war außer Gefahr.
Ich tigerte durch die Wohnung auf der Suche nach dem zweiten Apparat. Endlich gefunden, leise zurück in mein Zimmer, die Tür supersoft schließen. Jetzt tippte ich die Nummer ein, Freizeichen. Mein Zeigefinger verblieb auf der roten Auflegtaste, für den Fall, dass jemand anderer aus ihrer Familie ranginge und nicht sie. In diesem Fall: sofortiger Rückzug! Es klickte, jemand hob ab, dann hörte ich ihre Stimme. So aufgeregt war ich noch nie in meinem ganzen Leben. Und dann, gleichzeitig, diese Erleichterung. Sie sprach gedämpft, hatte ja meinen Anruf erwartet, ich sprach ebenso leise – jeder zweite Satz ging dabei im Hintergrundrauschen unter. Es heißt, arabische Männer würden laut sprechen, aber glaubt mir: Am Telefon mit deiner Freundin, mit den Eltern Wand an Wand, entwickeln wir Meisterschaft im Flüstern von Liebesschwüren. Wer einen großen Bruder hat, schaut sich das schon als Kind ab. Wer eine große Schwester hat, natürlich auch. Ich konnnte das Glitzern in ihren Augen sehen, wenn Yara oder Mohammed mit dem oder der Angebeteten sprachen. Später dann bist du es, der leise durch den schnarrenden Lautsprecher ihr Verzücken hören darf, das nur dir und deinen Worten gilt, und dem Geheimnis, das ihr miteinander habt. Niemand darf von euch wissen. »Weißt du, deine Haut ist so schön und rein wie Milch. Nein, nicht Milch, viel schöner als Milch, es ist die Milch von dem schönsten Vogel, den ich je gesehen habe, er war so bunt und farbig und einfach wunderschön, und ich weiß, wo dieser Vogel lebt, am anderen Ende des Landes, ich werde dorthin gehen, auf meinen eigenen Füßen, und ich werde den Vogel für dich fangen, und diesen schönsten Vogel auf der ganzen Welt, des ganzen Universums und aller Universen, den werde ich für dich fangen und mit zurückbringen und in einer Voliere halten, und er wird so schön singen wie sonst kein Vogel, und aus seiner Milch mache ich dann Joghurt für dich, und ich bringe dir diesen Joghurt jeden Tag, jeden Tag bringe ich dir den Joghurt von dem schönsten Vogel aller Universen, damit du jeden Tag weißt, wie schön …« Knack.
Knack? Da atmete jemand Drittes ins Telefon! Gänsehaut! Da. Atmete. Jemand. Ins. Telefon. »Okay, verstehe! Ein rechtwinkliges Dreieck! DankebismorgeninderSchule–tschüss!«, bellte ich in den Hörer und warf ihn weg, er war plötzlich tausend Grad heiß, auch mein Körper glühte. Ich schwitzte.
»Abdul? Hast du den zweiten Apparat?«, rief Vater scheinheilig aus dem Flur.
Wie sollte ich ihm jemals wieder ins Gesicht schauen?
»Bringst du ihn mir?«
Was würde er alles gehört haben? Wann knackte es zum ersten Mal, wann hatte er am anderen Apparat abgenommen und war ins Gespräch eingedrungen? Da sagtest du doch gerade …
»Jetzt? Abdul!?«
Cool bleiben. Ich nahm den Hörer wieder auf, er glitt mir durch meine schwitzige Hand, nicht fallen lassen, so richtig hoch bekam ich den Kopf nicht, sah Vater nur aus den Augenwinkeln an, ganz schnell und kurz, er fixierte mich, sagte kein Wort, ich gab ihm den Hörer. Die nächsten Tage musste er dir nur genau diesen Blick schicken – und du versankst im Erdboden. Die einzige Lösung wäre: auf der Stelle ausziehen. Hier wird’s jetzt kompliziert – in Syrien muss man erst heiraten, dann kann man sein Elternhaus verlassen. Aber wie soll man eine Frau davon überzeugen, dass man der perfekte Mann für sie wäre, wenn man nicht mal in Ruhe mit ihr telefonieren kann?
Syrien? Das...