Wo das ganze Geld bleibt
Und weil das in unserer so hochgradig arbeitsteiligen und komplett globalisierten Wirtschaft schon auf der Ebene realer Güter und Dienstleistungen im Einzelnen kaum zu durchschauen ist, ist es mit den völlig abstrakten Geldflüssen noch schwieriger. Wir denken irrtümlicherweise, unsere Einkommen seien immer noch so eine Art Lagervorrat – weil die Wahrheit sich nur nach einem etwas mühseligeren Denkvorgang enthüllt, an dessen Ende die Erkenntnis stehen muss, dass wir alle im Grunde niemals Geld besitzen.
Schon klar, da stecken für ein paar Tage immer ein paar bunte Zettelchen und ein paar Metallplättchen in Ihrer Börse. Und wenn es gut läuft, dann steht vor der Zahl am Ende Ihres Kontoauszugs auch nur selten dieses kleine Minuszeichen. Aber mal ganz ehrlich: Glauben Sie immer noch allen Ernstes, kein anderer Mensch in Europa könne in diesem Moment jene 103 Euro ausgeben, die Sie (oder jedenfalls der Durchschnittsbürger) bar im Portemonnaie haben? Nehmen Sie wirklich an, da »lägen« irgendwo 2500 Euro »auf der Bank«, nur weil diese Zahl in Ihrem Sparbuch steht? Ich hoffe, dass Sie das nicht tun. Herr Fuest, Herr Sinn, Herr Cryan und Herr Ackermann tun das übrigens auch nicht. Was aber folgt daraus?
Meines Erachtens sollte dies zu folgender Sicht der Dinge führen: Unsere sämtlichen Einkommen, all unser schönes Geld wird stets binnen weniger Sekunden schon wieder zu Einkommen für andere. Sowieso, weil keine Bank der Welt mehr Bargeld lagert. (Na ja, derzeit tun es einige wieder, weil sie auf große Giroguthaben Minuszinsen zahlen müssen.) Sondern weil Banken jeden Cent Buchgeld immer sofort an andere verleihen. Das ist halt das, was Banken tun: Sie handeln mit Geld, das ihnen nicht gehört – also mit Schulden. Vor allem aber folgt diese Sicht aufs Geld daraus, dass Sie fast all Ihr Geld für Waren und Dienstleistungen ausgeben – das meiste ist ja am Monatsende weg. Und wenn was übrig ist, Sie also »sparen«, dann geben zwischenzeitlich andere »Ihr« Geld aus. Siehe oben. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Jeder Euro, jeder Dollar, jeder Yen des Planeten ist Einkommen. Ich komme auch darauf später noch einmal zurück. Aber tatsächlich ist es so: Jedes Gehalt, jede Miete, jeder Warenpreis und sogar jeder Unternehmensgewinn (»Profit«) löst sich stets sofort in Einkommen anderer auf.
Eine andere zu Tode zitierte ökonomische Binsenweisheit besagt, dass man jeden verdienten Euro nur einmal ausgeben könne. Bei Lichte betrachtet ist das jedoch seit langer Zeit nur noch purer Unsinn. Vermutlich wissen Sie, dass der 50-Euro-Schein die am meisten verbreitete Banknote ist. Rund 9,5 Millionen Stück hat die EZB aktuell ausgegeben. Wissen Sie aber auch, wie viel dieser 475 Millionen Euro zum Bezahlen benutzt werden? Gerade einmal die Hälfte! Die andere Hälfte wird momentan nicht mal jenes besagte eine Mal ausgegeben. Sie ruht stattdessen in Sparschweinen, Zuckerdosen, Geld- und Kleiderschränken, zu zwei Dritteln in europäischen, zu einem Drittel sonst wo auf der Welt. Bricht darum der europäische Zahlungsverkehr zusammen? Sollten die Fünfziger knapp werden, dann werden einfach neue gedruckt. Und wenn Ihr Gehalt nicht ausreicht, dann nehmen Sie Ihren Dispo in Anspruch. Da wird auch niemand anderem auf der Welt Geld weggenommen, sondern einfach neues »gemacht«. Keine Frage, irgendwann müssen Sie diesen Kredit zurückzahlen. Aber alles Geld der Welt muss eigentlich nur für eine einzige Sache reichen: Der Fluss der Güter und Leistungen darf nicht versiegen. »Zu wenig Geld« gibt es in unserer Epoche des Buchgeldes schon lange nicht mehr. »Zu viel Geld« (d.h. eine zu hohe Geldmenge in Relation zu allen verfügbaren Gütern und Leistungen plus einer für ihren ungehemmten Fluss nötigen, vernünftigen Menge an Krediten), das nennt man Inflation. Ein furchtbares Übel! Aber derzeit »drucken« alle Zentralbanken der Welt Geld wie die Irren. Nur dass das außer Spekulanten – zum Glück! – kaum einer haben will.
Weil wir das ständige Leisten aller für alle technisch und organisatorisch so unglaublich weit entwickelt haben, ist güterwirtschaftlich gesehen kaum noch etwas knapp. Beispiele: Allein Deutschlands Supermärkte werfen jährlich geschätzte 2,5 Millionen Tonnen Lebensmittel weg, also Ware, die nie ein Verbraucher in Händen hatte. Ein Drittel aller Autos in Deutschland wird inzwischen von Herstellern und Händlern selbst zugelassen, um dann irgendwann mit hohen Rabatten als »junge Gebrauchtwagen« beim Endkunden zu landen. Früher gab es eine Frühjahrs- und eine Herbstkollektion. Heute hängen zumindest bei allen großen Textilketten alle vier Wochen neue Klamotten auf den Ständern. Und wenn wir Kunden das wollten, dann könnte die Ware auch alle 14 Tage ausgetauscht werden. Dass Zahnpasta, Deo oder Waschmittel niemals mehr knapp werden können, das werden Sie mir wohl ohnehin glauben.
Kurz: Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel mehr, weil Knappheiten großteils Geschichte sind. Wir haben aber, seit wir sesshaft geworden sind, also seit zehntausend Jahren, fast immer nur mit der Erfahrung der Knappheit gelebt. Entsprechend schwer fällt es uns, diese Denkweise aufzugeben. Und stattdessen Bedingungen für eine gänzlich unbehinderte Wirtschaft des Füreinander-Leistens zu schaffen, die niemanden mehr – und sei es auch nur phasenweise – von der Möglichkeit ausschließt, an ihr teilzuhaben. Nicht: Jederzeit nach Lust und Laune alles kaufen zu können. Aber, wie schon gesagt, um sich ohne Existenzsorgen aktiv in Wirtschaft und Gesellschaft einbringen zu können.
Stattdessen beschäftigen wir uns immer noch vorzugsweise mit dem Problem vermeintlicher Geldknappheit. Die allerdings mehr eine Hypothek des 18. und 19. Jahrhunderts ist. Im Grunde soll Geld volkswirtschaftlich bzw. weltwirtschaftlich bloß die Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln. Für alles, was wir für andere herstellen oder gewerblich für andere tun, für jeden Zwischenhandel, den wir dabei treiben, muss nicht nur ein entsprechender Geldbetrag zur Verfügung stehen. Wundersamerweise steht heute auch für jede Transaktion Geld zur Verfügung. Klar: nicht jedem Individuum für jede beliebige Transaktion. Daran würde auch ein Grundeinkommen von 6000 Euro nichts ändern. Aber wenn wir etwas produzieren, transportieren, distribuieren oder konsumieren wollen, wenn wir das ernsthaft wollen, dann können wir es auch finanzieren.
Nur in einer Welt allgegenwärtiger »natürlicher« Knappheit der Güter musste Geld als künstlich gesetzte soziale Form von Knappheit verstanden werden: als Verknappung der Zugriffsmöglichkeiten auf Güter und Leistungen. Die längste Zeit der Geschichte wurde Geldknappheit, anders kannte man es schließlich nicht, darum über natürliche Knappheiten organisiert – über die der Edelmetalle Silber und Gold. Und da sprechen wir nicht nur über das Mittelalter, die Goldgier der spanischen Konquistadoren und der Glücksritter am Klondyke oder über Kaiser Wilhelms Goldmark, sondern auch noch über die jüngere Vergangenheit.
Heute erinnern sich fast nur noch Experten daran, dass zwischen 1944 und 1973 das globale Währungssystem auf dem Abkommen von Bretton Woods beruhte. Dieses legte fest, dass der Wert des US-Dollars durch einen fixen Goldkurs, nämlich 35 Dollar pro Feinunze, bestimmt war. Die Wechselkurse aller anderen Mitglieder dieses Systems wiederum waren in festen Paritäten an den Dollar gebunden, vier D-Mark zum Beispiel waren stets einen Dollar wert. Und die US-Notenbank war durch das Abkommen von Bretton Woods verpflichtet, jeden Dollar auf der Welt, also auch die Währungsreserven anderer Zentralbanken, jederzeit in Gold einzulösen.
Die Hintergründe für den Zusammenbruch dieses starren Systems, von dem uns heute nur noch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank erhalten geblieben sind, tun hier nichts zur Sache. Der Punkt ist, dass bis vor etwa vier Jahrzehnten alle wichtigen Währungen der Welt zumindest indirekt an die Verfügbarkeit eines einzigen Gutes – Gold – gebunden waren. Doch obwohl die Wechselkurse längst frei, manchmal auch rein spekulativ schwanken, obwohl der Goldpreis heute letztlich nur noch ein Rohstoffpreis unter vielen ist und obwohl die Zentralbanken das Problem der Inflation längst durch weit sensiblere Instrumente regulieren, lebt eine Reihe von Mythen aus diesem System hartnäckig weiter.
Irgendwie stellen wir uns nämlich immer noch das Gold in Fort Knox vor. Nach wie vor irritiert es gerade uns Deutsche, denen die Angst vor plötzlicher Geldentwertung fast in den Genen sitzt, wenn Politiker vorschlagen, die Bundesbank solle endlich ihre nutzlos gewordenen Goldreserven auflösen. Und die meisten Menschen, die sich einen Reichen vorstellen, denken als Erstes immer noch an Dagobert Duck, den Milliardär aus Entenhausen, der täglich in seinen Talern badet. Wer viel Geld hat, der hortet es irgendwo, kann also jederzeit auf seine »Reserven« zugreifen und dafür kaufen, was er will. Weshalb viele »Reiche« wirklich glauben, vom Geld nie genug bekommen zu können. Und weshalb die lautesten Vorbeter der Kapitalakkumulation allen Ernstes glauben, Gier sei gut. Sie alle halten den rein nominalen Wert des Geldes für etwas Reales.
Neben einer naiven Onkel-Dagobert-Idee von »Reichtum« hat die Geldillusion jene zweite, weit trügerischere Seite: Alle anderen Bewohner Entenhausens glauben ständig, dass sie »zu wenig Geld« hätten....