Das Sender-Empfänger Modell der Wirklichkeit
Das Wirkliche ist ebenso zauberhaft, wie das Zauberhafte wirklich ist.
Ernst Jünger (1895 - 1998)
in „Sizilischer Brief an den Mann im Mond“
Es gibt Erlebnisse, über die zu sprechen die meisten Menschen sich scheuen, weil sie nicht in die Alltagswirklichkeit passen und sich einer verstandesmässigen Erklärung entziehen. Damit sind nicht besondere Ereignisse in der Aussenwelt gemeint, sondern Vorgänge in unserem Inneren, die meistens als blosse Einbildung abgewertet und aus der Erinnerung verdrängt werden. Bei den Erlebnissen, die hier gemeint sind, erfährt das vertraute Bild der Umgebung plötzlich eine merkwürdige, beglückende oder erschreckende Verwandlung, erscheint in einem anderen Licht, bekommt eine besondere Bedeutung. Ein solches Erlebnis kann uns nur wie ein Hauch berühren oder aber sich tief einprägen.
Aus meiner Knabenzeit ist mir eine derartige Verzauberung ganz besonders lebendig in der Erinnerung geblieben. Es war an einem Maimorgen. Das Jahr weiss ich nicht mehr, aber ich kann noch auf den Schritt genau angeben, an welcher Stelle des Waldweges auf dem Martinsberg oberhalb von Baden (Schweiz) sie eintrat. Während ich durch den frischergrünten, von der Morgensonne durchstrahlten, von Vogelsang erfüllten Wald dahinschlenderte, erschien auf einmal alles in einem ungewöhnlich klaren Licht. Hatte ich vorher nie recht geschaut, und sah ich jetzt plötzlich den Frühlingswald wie er wirklich war? Er erstrahlte im Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl der Zugehörigkeit und seligen Geborgenheit durchströmte mich.
Wie lange ich gebannt stehen blieb, weiss ich nicht, aber ich erinnere mich der Gedanken, die mich beschäftigten, als der verklärte Zustand langsam dahinschwand und ich weiterwanderte. Warum dauerte die beseligende Schau nicht weiter an, da sie doch eine durch unmittelbares tiefes Erleben überzeugende Wirklichkeit offenbart hatte? Und wie konnte ich, wozu mich meine überquellende Freude drängte, jemandem von meinem Erlebnis berichten, da ich sogleich spürte, dass ich keine Worte für das Geschaute fand? Es erschien mir seltsam, dass ich als Kind etwas so Wunderbares gesehen hatte, das die Erwachsenen offensichtlich nicht bemerkten, denn ich hatte sie nie davon reden hören, oder war das eines ihrer Geheimnisse?
In meiner späteren Knabenzeit hatte ich auf meinen Streifzügen durch Wald und Wiesen noch einige solche beglückende Erlebnisse. Sie waren es, die mein Weltbild in seinen Grundzügen bestimmten, indem sie mir die Gewissheit vom Dasein einer dem Alltagsblick verborgenen, unergründlichen, lebensvollen Wirklichkeit gaben.
Die vorstehende Schilderung eines meiner visionären Kindheitserlebnisse habe ich als Vorwort schon in meine berufliche Autobiographie LSD - Mein Sorgenkind (Stuttgart 1979) aufgenommen, denn jene mystischen Wirklichkeitserfahrungen waren auch der Grund, warum ich den Beruf des Chemikers ergriffen habe. Sie weckten in mir das Verlangen nach einem tieferen Einblick in den Bau und das Wesen der materiellen Welt. In meiner beruflichen Tätigkeit stiess ich auf psychoaktive Pflanzenstoffe, die unter bestimmten Bedingungen den geschilderten spontanen Erlebnissen ähnliche, visionäre Zustände hervorzurufen vermögen. Jene Untersuchungen über bewusstseinsverändernde Wirkstoffe, von denen LSD weltweit bekannt geworden ist, führten mich auf das Problem des Zusammenhanges zwischen Bewusstsein und Materie, das heisst, zwischen innerer geistiger Welt und äusserer materieller Welt. Es ist dies das Problem der Wirklichkeit, die offensichtlich durch eine Wechselbeziehung zwischen innerer und äusserer Welt zustandekommt.
Zur Erleichterung des Verständnisses der nachfolgenden Überlegungen soll definiert werden, was unter den Begriffen „äussere Welt“, „innere Welt“ und „Wirklichkeit“ hier zu verstehen ist.
Mit der äusseren Welt ist das gesamte materielle und energetische Universum gemeint, zu dem auch wir mit unserer Körperlichkeit gehören.
Als innere Welt wird das menschliche Bewusstsein bezeichnet. Das Bewusstsein entzieht sich einer wissenschaftlichen Definition, denn man braucht das Bewusstsein, um darüber nachzudenken, was Bewusstsein ist. Es kann nur umschrieben werden als rezeptives und kreatives geistiges Zentrum der menschlichen Persönlichkeit.
Es gibt zwei grundlegende Unterschiede zwischen äusserer und innerer Welt. Während nur eine äussere Welt existiert, ist die Zahl der inneren geistigen Welten so gross wie die der menschlichen Individuen. Ferner ist die Existenz der äusseren materiellen Welt objektiv nachweisbar, während die innere Welt eine rein subjektive geistige Erfahrung darstellt.
Und nun die Definition der Wirklichkeit, die hier gemeint ist. Es ist nicht eine transzendentale Wirklichkeit und auch nicht eine Wirklichkeit der theoretischen Physik, die sich nur mit Hilfe mathematischer Formeln ausdrücken lässt, sondern die Wirklichkeit, die man meint, wenn dieser Begriff in der Alltagssprache verwendet wird. Es ist die Welt als Ganzes, so wie wir Menschen sie mit unseren Sinnen wahrnehmen und als geistige Wesen erleben, und zu der wir selbst mit unserer körperlichen und geistigen Existenz gehören.
Die so definierte Wirklichkeit ist ohne ein erfahrendes Subjekt, ohne Ich nicht denkbar. Sie ist das Produkt einer Wechselbeziehung zwischen materiellen und energetischen Signalen, die von der Aussenwelt ausgehen und dem bewusstmachenden Zentrum im Inneren des einzelnen Menschen.
Um dies anschaulich zu machen, kann man den Vorgang, durch den Wirklichkeit entsteht, mit der Entstehung von Bild und Ton bei der Fernsehübertragung vergleichen. Die materielle energetische Welt im äusseren Raum arbeitet als Sender, entsendet optische und akustische Wellen und liefert Tast-, Geschmacks- und Geruchssignale. Den Empfänger bildet das Bewusstsein im Inneren des einzelnen Menschen, wo die von den Antennen, von den Sinnesorganen empfangenen Reize in ein sinnlich und geistig erlebbares Bild der Aussenwelt umgewandelt werden.
Fehlt eines von beiden, der Sender oder der Empfänger, so kommt keine menschliche Wirklichkeit zustande, gleich wie beim Fernsehen der Bildschirm ohne Bild leer und ohne Ton bleiben würde. Im Folgenden soll nun dargelegt werden, was wir aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Physiologie des Menschen hinsichtlich seiner Funktion als Empfänger sowie vom Mechanismus des Empfangens und Erfahrens von Wirklichkeit wissen.
Die Antennen des menschlichen Empfängers sind unsere fünf Sinnesorgane. Die Antenne für optische Bilder aus der Aussenwelt, das Auge, ist in der Lage, elektromagnetische Wellen zu empfangen und damit auf der Netzhaut ein Bild zu produzieren, welches mit dem Objekt, von dem diese Wellen ausgehen, übereinstimmt. Von dort werden die dem Bild entsprechenden nervösen Impulse durch den Sehnerv ins Sehzentrum des Gehirns geleitet, wo aus dem bis dorthin elektrophysiologisch-energetischen Geschehen das psychische Phänomen des Sehens resultiert.
Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass unser Auge und der innere psychische Bildschirm nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der elektromagnetischen Wellen ausnützen um die Aussenwelt sichtbar zu machen. Aus dem bekannten Spektrum elektromagnetischer Wellen, das Wellenlängen von Milliardstelmillimetern, die dem Bereich von Röntgenstrahlen und ultrakurzen Gammastrahlen entsprechen, bis hin zu Radiowellen von vielen Metern Länge umfasst, spricht unser Sehapparat auf den nur sehr schmalen Bereich von 0,4 bis 0,7 Tausendstelmillimeter (0,4 bis 0,7 Millimikron) an. Nur dieser sehr begrenzte Ausschnitt kann von unserem Auge empfangen und von uns als Licht wahrgenommen werden. Alle übrigen Strahlen der grenzenlosen Gefilde elektromagnetischer Wellen im Universum existieren für das menschliche Auge nicht.
Innerhalb des sehr schmalen Spektrums der für uns sichtbaren Wellen, das wir als Licht wahrzunehmen vermögen, sind wir in der Lage, die verschiedenen Wellenlängen zwischen 0,4 und 0,7 Millimikron als verschiedene Farben zu unterscheiden. Im Zusammenhang mit unseren Überlegungen ist es wichtig festzuhalten, dass im äusseren Raum Farben nicht existieren. Im allgemeinen ist man sich dieser fundamentalen Tatsache nicht bewusst, obwohl man das in jedem Lehrbuch der Physiologie nachlesen kann. Was von einem farbigen Gegenstand in der äusseren Welt objektiv vorhanden ist, ist ausschliesslich Materie, die elektromagnetische Schwingungen von unterschiedlichen Wellenlängen aussendet. Wenn ein Gegenstand von dem Licht, das auf ihn fällt, Wellen von 0,4 Millimikron reflektiert, dann sagen wir, er sei blau; sendet er Wellen von 0,7 Millimikron aus, dann beschreiben wir das optische Erlebnis, das wir dabei haben, als rot. Es ist aber nicht feststellbar, ob bei einer bestimmten Wellenlänge alle Menschen das gleiche Farberlebnis haben.
Die Wahrnehmung von Farbe ist ein rein psychisches und subjektives Ereignis, das im inneren Raum eines Individuums stattfindet....