| Kapitel 1 |
Eine Einladung
Eine Woche bevor ich die Einladung zu der Reise erhielt, die mich eine längst vergessene Suche wiederaufnehmen lassen sollte, lag ich mit Freundinnen aus dem College auf einem Steg. Es war unser zweites Treffen, nachdem wir dreißig Jahre lang getrennt voneinander unsere Leben gelebt hatten und erwachsen geworden waren. Ich war mittlerweile fünfzig und konnte endlich mit einem gewissen Mitgefühl über die herzzerreißend jungen Gesichter auf den Fotos in unserem Jahrbuch lachen. Wir hatten einander belanglose alte Verletzungen verziehen und betrachteten uns mit Weitblick und Menschlichkeit. So viel Gelächter war ich gar nicht gewöhnt – normalerweise saß ich stundenlang allein in einem Zimmer und schrieb, bis meine Familie zum Abendessen nach Hause kam. Hin und wieder unternahm ich einen Ausflug in die Bibliothek oder traf mich höchstens einmal mit einer Freundin zum Kaffee. Meistens war ich jedoch alleine unterwegs. Und nun war ich hier auf einer Art Stegparty. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem Buch der Jugendbuchautorin Judy Blume. Es gab kaltes Bier und Nachos, und der Steg samt der dazugehörigen Hütte, die sich Aloise, mit der ich während des Studiums zusammengewohnt hatte, mit ihrem Mann gebaut hatte, kam mir vor wie ein Stück vom Himmel.
Als ich so dalag, erinnerte ich mich, wie viele Fragen an das Leben ich gehabt hatte, als Aloise und ich uns als Studentinnen eine Mietwohnung über einer Kneipe geteilt hatten, deren pulsierendes buntes Licht zu mir ins Zimmer gedrungen war. Damals spürte ich manchmal, dass sich meine gewohnte Welt veränderte hatte und ich einen Blick auf etwas Schönes, Fremdes erhaschen konnte. Durch diesen kurzen Blick wurden Steine, Äpfel, Straßen und Bäume zu etwas anderem als einem geschichtslosen Chaos: Ich sah die Stadt in eine Art unhörbare Musik oder schillernde Transparenz getaucht, voller rätselhafter Bedeutung. In diesen Momenten gab es nichts Gewöhnliches mehr. Wenn dieser kurze Augenblick vorüberging, wie es stets der Fall war, blieb ich leer zurück. Ich hatte das Gefühl, die Welt hätte versucht zu sprechen. Das gesamte Sein schien aufgeladen von einem leuchtenden Sinn, über den ich unbedingt mehr wissen wollte.
Während meiner Jugend empfand ich durch diese transzendenten Momente immer ein paar Minuten der intensiven Verbundenheit und Zugehörigkeit zu dieser Welt. Es war, als wäre ich ein Fitzelchen verirrter Energie – als würde ich manchmal, für einen kurzen Moment der Glückseligkeit, durch Zufall mit dem Stromkreis verbunden werden, zu dem ich eigentlich die ganze Zeit hätte gehören sollen. Doch dann war ich wieder abgekoppelt, und die vertraute Schwermut kehrte zurück. Die Vision, die ich in diesen intensiven Augenblicken kurz erblickt hatte, war kraftvoll und lebendig, aber sie war auch auf eine rätselhafte Art gefährdet. Etwas sagte mir, dass dieses Leben mit seinen einfachen, liebenswerten Dingen – Kraniche am Horizont beispielsweise, das Licht der Morgendämmerung auf den Flügeln der Möwen oder die Schönheit des Spiels von Licht und Schatten in den Treppenaufgängen der Stadt – dass dieses Leben mehr war, als es zu sein schien, und dass es auf eine Weise gefährdet war, die ich noch nicht verstand. Ich fragte andere, ob sie das Gleiche empfanden, ich las meine Studientexte daraufhin, ob sie mir eine Erklärung liefern konnten, ich suchte auch auf spirituellen Pfaden; aber die einzig wahre Quelle war die natürliche Welt selbst, ihre greifbaren Gegenstände, ihr Licht und ihre Formen.
Ich fand Gesellschaft in Dichtern, die mir die einzigen Menschen zu sein schienen, die mich verstanden. William Wordsworth hatte geschrieben, dass in seiner Jugend die Erde und »jede Alltagssicht« für ihn von Licht umhüllt zu sein schienen, von einer Art »frischem Schein«, verklärend wie in einem Traum. Und als er dann älter wurde, klagte er, dass »nichts die Stunde wiederbringen kann/Da Leuchten durch das Gras, da Glut durch Blumen rann …«. Ich wusste, was er meinte. Nachdem ich von der Universität abgegangen war, ließ diese Wahrnehmung nach, um stattdessen meiner »Nestbauphase«, wie meine Töchter es nennen würden, Platz zu machen. Ich ließ mich auf die Ehe mit einem Mann ein, der hoffte, ich wäre jemand, der ich in Wahrheit nie würde sein können. Er wurde krank und starb nach zwei langen Jahren schwerer Krankheit, und manchmal glaubte ich, er wäre vor lauter Enttäuschung über mich gestorben. Unsere kleine Tochter half mir, nachdem ihr Vater gestorben war, Holz zu schlichten und den Kamin zu säubern, indem sie sich mit einem Eimer darunter stellte und ich von oben auf dem Dach mit einer Drahtbürste den Ruß herausputzte.
Dann lernte ich meinen zweiten Mann kennen. Er war Maurer, Steinmetz, Experte für Kamine – und alles wurde besser. Mit ihm bekam ich eine zweite Tochter und ging ganz darin auf, eine Familie zu gründen. Auch wenn es eine schöne Zeit war, zog sich die alte, geheimnisvolle Vision einer Welt – oder meine verlorene Welt – hinter Suppentöpfen, Tilgungsraten und dem Füttern der Ziegen zurück. Im Stillen verzweifelte ich daran, ob ich jemals wieder einen Zugang zu dieser Welt bekommen würde, die ich gleich unter – oder irgendwie innerhalb – dieser so uninspirierten gefunden hatte.
Aber nun schien sich diese Phase ihrem Ende zu nähern. Wir waren nach Montreal gezogen, die Drahtbürste für den Kamin hatte ich zurückgelassen. Meine Töchter wurden immer unabhängiger, und ich war zu Aloise an den See gefahren, zusammen mit den alten Freundinnen aus meiner Jugend, einer Zeit, in der sich alles nur darum gedreht hatte, was für Möglichkeiten wir hatten. Während ich so in der Sonne lag und die Wellen gegen den Steg plätscherten, wurden mein jüngeres und mein älteres Ich eins.
Ab und an verkündete eine von uns, was sie im Lauf der Jahre gelernt hatte. Denise war es, die sagte: »Ich habe gelernt, jederzeit eine Einladung annehmen zu können, wenn das für mich heißt, dass ich reisen kann. Wenn mich jemand fragt: ›Denise, hast du Lust, in den Rockies Skifahren zu gehen?‹ oder ›Wir wollten uns zu viert Scarlett Johansson am Broadway anschauen, aber Hadley kann jetzt doch nicht mit‹, wisst ihr, was ich dann sage?«
»Nein, Denise«, sagte ich. »Was denn?«
»Meine Sachen sind schon gepackt.«
Ich war beeindruckt.
»Und das ist wirklich so. Bei mir im Wandschrank steht eine gepackte Tasche, mit der ich jederzeit loskann. Sie enthält einen kleinen Kulturbeutel, nur mit dem Allernötigsten, Unterwäsche, ein paar Sachen zum Wechseln. Ich muss noch nicht mal einen Blick hineinwerfen.«
Diese Vorstellung gefiel mir sehr. Ich weiß nicht genau, ob es daran lag, dass es Juli war, ich auf den silbergrauen Brettern von Aloises Steg lag und mich von der Sonne wärmen ließ. Das leise Plätschern der Wellen schläferte mich ein, hin und wieder hörten wir einen Seetaucher, bauschige, weiße Wolken zogen vorüber – und die Idee von Denise faszinierte mich mehr und mehr.
»Das mache ich auch«, sagte ich. »Sobald ich zu Hause bin, packe ich meine Sachen.«
»Du musst es aber auch tun und es nicht nur behaupten.« Denise nahm einen Schluck von ihrem Bier, der Schalk blitzte in ihren Augen – wie vor dreißig Jahren. Sie war immer diejenige gewesen, die einen dazu gebracht hatte, seine Geheimnisse zu verraten, ohne dass sie selbst etwas von sich preisgab. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren, und ich spürte, wie ein wenig von ihrer Abenteuerlust auf mich abfärbte, als ich mir vorstellte, wie ich meinen kleinen Koffer packte und ihn in meinem Wandschrank verstaute.
»Stopf bloß nicht zu viel rein«, warnte sie mich. »Nur das, was du unbedingt brauchst. Das ist der Schlüssel. Nimm nicht viel zum Anziehen mit.«
Daran hielt ich mich. Sobald ich wieder zu Hause war, packte ich eine Tasche und prahlte mit meiner Abenteuerbereitschaft. Mein Mann Jean und meine jüngste Tochter Juliette schwiegen, wie so häufig, wenn ich etwas verkündete. Sie kennen mich genau und wissen, dass es das Zusammenleben mit mir ungemein erschwert, wenn sie mich in Frage stellen. Sie sind es gewöhnt, dass ich intuitiv durchs Leben gehe und dass es dabei zu unerklärlichen Wendungen kommen kann. So ist es für mich beispielsweise eine Qual, mich an ein Kochrezept zu halten oder meinen Tag planen zu müssen. Es kann sein, dass ich Feigen in den Eintopf gebe, das Geländer in der U-Bahn hinunterrutsche oder mich auf dem Weg in die Bücherei anders entscheide und in einem Tretboot auf dem Kanal lande. Warum Der Wind in den Weiden lesen, wenn man selbst der Maulwurf oder die Ratte sein kann?
Das neue Reisegepäck war nur ein weiteres Beispiel für meine Sehnsucht nach dem Unvorhergesehenen. Doch selbst ich war überrascht, als wenige Tage später ein Anruf kam und sich meine Reisetasche tatsächlich als nützlich erweisen sollte. Es war an einem Samstagmorgen um sieben Uhr – normalerweise rief mich kein Mensch um diese Zeit an.
»Hättest du denn Interesse«, fragte mich Noah, ein Schriftstellerkollege, »auf einem Schiff durch die Nordwestpassage zu fahren?«
»Die Nordwestpassage?«
»Ja«, sagte er. »Du hast vielleicht gehört, dass russische Eisbrecher manchmal Passagiere mitnehmen. Sie möchten einen Schriftsteller an Bord haben, und ich kann nicht, deshalb würde ich dich vorschlagen. Zuerst wollte ich dich aber fragen, ob das überhaupt etwas für dich wäre.«
Ich dachte an Franklins Gebeine, an die Segel der britischen Entdeckungsreisenden in der Kolonialzeit, an eine weite Tundra und an die Möglichkeit, diese zu erkunden, ein Privileg, das bisher nur Inuit, Männer wie Franklin und...