Eine Brise streifte sein leuchtend rotes Fell. Jay lag auf dem heißen Boden, versteckt hinter hohen vertrockneten Grasbüscheln. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf jedes Geräusch, das sich durch die Vibration des Bodens auf seinen Körper übertrug. Jede noch so winzige Bewegung konnte eine Gefahr für ihn bedeuten.
Aus dem Profijäger war ein Gejagter geworden, schon seit Tagen befand er sich auf der Flucht. Jemand hatte seine perfekt getarnte Höhle entdeckt und sich mit seiner Beute davon gemacht. Da war ihm klar geworden, dass er nie mehr dorthin zurückkehren konnte. Von nun an musste er jede seiner Unternehmungen mit Vorsicht angehen. Der kleinste Fehler konnte sein Verhängnis werden.
Schon seit geraumer Zeit stellten ihm immer wieder Menschen nach, und Jay glaubte, den Grund dafür zu kennen. Jeder Teil des südchinesischen Tigers wurde wie ein kostbarer Schatz auf den Märkten gehandelt, gerade seine Seltenheit machte ihn besonders begehrenswert. Aber Jay stellte sich geschickt an, bisher war er seinen Jägern stets entkommen, und allmählich gelangte er zu der Erkenntnis, dass die Menschen doch nicht so klug waren, wie im Dschungel allgemein behauptet wurde.
Doch diesen einen Jäger fürchtete er. Jay konnte sich nicht mehr an die Umstände erinnern, aber sie mussten einander schon früher begegnet sein. Er erkannte ihn am Geruch. Mit Grausen stellte er sich vor, wie der Mann ihn töten, ihm das Fell abziehen würde, um anschließend das Fleisch von seinen Knochen zu lösen. Der Gedanke genügte, um ihn vor Angst zu lähmen.
Seine Flanken dehnten sich im Rhythmus der leisen Atemzüge, Hunger quälte ihn. Seit der Flucht, war ihm kein einziger Beutezug gelungen. Der Jäger hatte sich an seine Fersen geheftet und verfolgte ihn unermüdlich. Diesmal schien er fest entschlossen den Tiger zu erlegen.
Hier oben auf dem Hügel fühlte Jay sich für einen Moment sicher. Durch das Gewirr der hohen Grashalme blickte er ins Tal hinab, wo er seinen Verfolger vermutete. Plötzlich bewegte sich etwas in der Ferne. Jay schaute auf und erkannte ein junges Reh, das unbefangen den Wald verließ, um am Bach seinen Durst zu stillen. Vorsichtig spähte er aus seinem Versteck hervor. Von dem Jäger war weit und breit nichts zu sehen. Langsam und tief geduckt schlich er zum Bach hinunter. Beim Anblick der verlockenden Beute lief ihm das Wasser im Maul zusammen. Mitten in der Bewegung erstarrte das Reh und hob den Kopf. Es blickte genau in Jays Richtung, schien ihn jedoch nicht wahrzunehmen. Jay wagte nicht sich zu rühren. Erst als das Reh sich nach langen Sekundenwieder dem Wasser zuwandte und unbekümmert weitertrank, setzte er seinen Weg fort.
Der Tiger war bereits bis auf wenige Meter an das Tier herangekommen, als dieses sich abrupt abwandte und mit großen Sprüngen auf den Waldrand zulief. Nun begann auch Jay zu rennen, doch das Reh hatte ihn bereits bemerkt. Panisch flüchtete es immer tiefer in den Wald, aber der Tiger hatte bereits die Verfolgung aufgenommen. Immer näher kam er seiner Beute.
Gerade als er zum Sprung ansetzen wollte, vernahm er ein lautes Geräusch. Irritiert drehte er den Kopf und sah eine Herde Büffel durch das Tal donnern. Der Boden erzitterte unter ihren Hufen, und eine gewaltige Staubwolke erhob sich. Es mussten Hunderte sein. Vor Erregung begann Jay zu zittern. Das Reh hatte inzwischen die Gelegenheit genutzt, um sich in Sicherheit zu bringen..Jay hatte es bereits vergessen. Er hatte nur Augen für die kräftigen Leiber der Büffel. Der Hunger machte ihn unvorsichtig. Ohne darüber nachzudenken, mit welchen Gefahren ein solches Unterfangen verbunden war, machte er kehrt und jagte direkt auf die Herde zu. Erst jetzt erkannte der Tiger, worauf er sich eingelassen hatte. Er befand sich im Zentrum eines Wirbelsturms. Der Boden unter seinen Füßen bebte entsetzlich, der Staub nahm ihm die Sicht. Er versuchte, sich auf eines der Tiere zu konzentrieren, doch ehe er einen Angriff starten konnte, hatte er sein Ziel wieder aus den Augen verloren. Verunsichert hielt er inne. Ein neues Geräusch mischte sich in den Lärm der Büffelherde. Vom Waldrand erklangen mehrere schrille Schreie. Eine Horde Affen machte sich einen Spaß daraus, die rasenden Büffel anzuspornen. Durch den Nebel erkannte Jay, dass die Büffel direkt auf den Baum zurasten, auf dessen Äste die Affen tobten. Er sammelte seine letzten Kräfte und konzentrierte sich auf eine der Kühe, die den Abschluss der Herde bildeten. In halsbrecherischem Tempo jagte er auf sie zu. Das Tier versuchte, nach links auszuweichen, doch Jay folgte der Bewegung mühelos. Kurz nachdem sie den Baum passiert hatten, setzte er zu einem gewaltigen Sprung an und bekam seine Beute zu fassen. Er riss das Maul auf um sein Werk zu vollenden, da traf ihn ein harter Schlag direkt auf die Nase. Unter dem plötzlichen Schmerz lockerte Jay seinen Griff und die Kuh nutzte diese Chance, um dem Tiger zu entkommen. Verärgert erkannte Jay einen großen Pfirsich, der aufgeplatzt zu seinen Füßen lag. Aber es war zu spät. Die donnernden Tritte der Büffel verebbten bereits in der Ferne.
„Bravo, Tony! Das war ein Volltreffer!“, rief einer der Affen und klatschte begeistert in die Hände, während ein zweiter Affe, dem der Glückwunsch gegolten hatte, gerade nach einem neuen Pfirsich griff. Jay blickte nach oben und stieß einen wütenden Schrei aus, der den Affen namens Tony kurz zurückschrecken ließ. Doch Sekunden später prasselten mehrere Pfirsiche aus verschiedenen Richtungen auf den Tiger nieder. Jay schnaubte, sein Rücken schmerzte von den harten Schlägen. Vergeblich versuchte er, einen seiner Peiniger zu fassen zu kriegen. Die Affen, die sich in der Nähe des Stammes aufhielten, flohen laut kreischend in die Baumkrone. Als sie jedoch begriffen, dass der Tiger gar keine Lust hatte, den Baum zu erklimmen, pflückten sie eifrig neue Früchte. Erschrocken zog Jay den Kopf ein, als der erste Pfirsich sein Ohr streifte. Die Affen schienen mehr und mehr Gefallen an dem Spiel zu finden, von ihrer sicheren Warte aus schnitten sie Grimassen und schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel. Wütend umklammerte Jay den Baumstamm und versuchte, daran zu rütteln, doch der Baum war fest verwurzelt und ließ sich kaum erschüttern. Wieder sah Jay einen Pfirsich auf sich zukommen. Schnell hob er die Pfote, um das Geschoß abzuschmettern, doch die hart geworfene Frucht traf ihn genau an der Stirn, wo er jene schwarze Fellzeichnung trug, die ihn schon immer von anderen Tigern unterschieden hatte. Drei waagerechte Striche und ein senkrechter Strich bildeten dort das chinesische Zeichen für König. Nun fühlte er sich wirklich in seinem Stolz verletzt.
„Jetzt ist es genug“, hörte er im selben Moment einen älteren Affen mit einer schrillen, aber dominanten Stimme rufen. Augenblicklich hörte der Obstregen auf.
„Unsinn, Bonga. Wir müssen den Tiger doch irgendwie vertreiben“, sagte Tony, der gerade Anstalten machte, den nächsten Pfirsich zu werfen.
„Tony!“ Bonga warf ihm einen Blick aus seinen großen runden Augen zu. Jay war erstaunt, welche Macht sich in diesem einzigen Blick verbarg, als er Tony schmollend murmeln hörte: „Nie darf man Spaß haben.“
In diesem Moment erklang ein Gewehrschuss. Das Geräusch kam aus der Ferne, dennoch wusste Jay, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. Eilig entfernte er sich, um nach einem Versteck Ausschau zu halten. Die Affen stimmten ein triumphierendes Lied an, das ihn noch wütender machte.
Unter der brennenden Nachmittagssonne schleppte er sich bergab. Der Weg zum Fluss erschien ihm unendlich lang. Sein Magen schmerzte vor Hunger und der Durst brannte in seiner Kehle. Er war ein großes Risiko eingegangen, als er versucht hatte, die Büffel zu jagen. Hätte der Jäger ihn entdeckt, wäre es um ihn geschehen gewesen. Auch das Gelände um den Pfirsichbaum war von weitem gut einsehbar. Aber Glück gehörte nun einmal zum Spiel. Jay hatte oft Glück. Glücklich hingegen war er nie, denn er besaß keinen einzigen Freund. Die Tiere mieden seine Nähe. Dabei versuchte er schließlich nur zu überleben. Das Töten machte ihm keinen Spaß. Und manchmal hatte er große Lust, einfach mit jemandem zu plaudern. Wie jetzt. Er dachte an den weisen indischen Elefanten, der am Fluss des Friedenslebte. Vielleicht wusste er ja eine Antwort auf die Frage, die ständig in seinem Kopf kreiste: War es möglich, sein Leben vollständig zu ändern? Längst war ihm die Lust zum Jagen vergangen, vor allem wollte er nicht länger ein Gejagter sein. Aber würde Lobado jemanden mit seinem Ruf überhaupt empfangen?
Während er seinen Gedanken nachhing, vernahm Jay plötzlich ein leises Geräusch aus einiger Entfernung. Unverzüglich versteckte er sich im Gebüsch und lauschte. Der Hunger war augenblicklich vergessen, ebenso wie der Durst und selbst die nutzlosen Gedanken. Mit all seinen Sinnen konzentrierte er sich auf das einzig Wesentliche: Allein in diesem Dschungel zu überleben, bis eines Tages seine Stunde kommen würde.
Und in der Tat täuschte ihn sein Instinkt nicht. Von weitem näherte sich eine Gestalt. Deutlich nahm Jay den vertrauten Menschengeruch wahr. Der Mann war von kräftiger Statur, mit seinem vorgewölbten Bauch erinnerte er an einen Bären. In einer Hand trug er ein Gewehr, mit der anderen hielt er einen toten Hasen, auf dessen Fell das Blut wie eine Blume erblühte. Leise pfeifend setzte der Mensch seinen Weg fort, offenbar war er mit seiner Beute zufrieden. Jay duckte sich und vermied jede Bewegung. Das war nicht der Mensch, der ihn verfolgte. Doch die Erleichterung verflog, sobald der Jäger stehen blieb und sich...