Das Thema Erziehung ist seit einigen Jahren verstärkt wieder in der öffentlichen Debatte, in den Medien und der Politik vertreten. Die Pisa-Studie hat das Dilemma des Bildungsnotstandes an deutschen Schulen öffentlich gemacht. Die Schul-Amokläufer von Erfurt und aktuell von Emsdetten schrecken Eltern und Pädagogen auf. Die Berlin-Neuköllner Rütli-Schule hat im Frühjahr 2006 für Aufsehen gesorgt, als Lehrer vor aufmüpfigen Schülern öffentlich resignierten. Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen verändert sich rasant. Sie wird globalisierter, digitalisierter und unüberschaubarer. Werte und Normen befinden sich im ständigen Wandel. Was heute noch richtig scheint, kann morgen schon falsch sein. Zahlreiche Eltern, Lehrer aber auch die Kinder und Jugendlichen fühlen sich unsicher, hilflos und alleingelassen. Mütter und Väter wissen nicht mehr genau, was das Beste für ihre Kinder ist. Aus Angst, Fehler in ihrer Erziehung zu machen, ziehen sie sich von ihrer Erziehungsaufgabe zurück oder reagieren aus Überforderung, Hilflosigkeit und nervlicher Anspannung heraus mit Gewalthandlungen. Sigrid Tschöpe-Scheffler stellt fest, dass der Unterstützungsbedarf von Eltern sowie pädagogischen Fachkräften noch nie so hoch war, wie es aktuell der Fall ist (vgl. Tschöpe-Scheffler 2003, S. 9).
Aktuell werden erfolgreich zahlreiche seriöse und weniger seriöse Erziehungsratgeber veröffentlicht und verkauft, sowohl von Wissenschaftlern auf der einen Seite als auch von Prominenten auf der anderen Seite. Im Fernsehen spiegeln Sendungen wie „Die Super Nanny“ und „Die Super Mamas“ die Brisanz und Aktualität des Themas wieder.
Elternkurse befinden sich deutschlandweit im Aufschwung. Über deren Qualität und Wirkungsweise gibt es jedoch in Deutschland bislang nur wenige Studienergebnisse. Wichtige Forschungsarbeit auf diesem Gebiet leistet Sigrid Tschöpe-Scheffler, Autorin des Buches „Elternkurse auf dem Prüfstand“ und Professorin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln (vgl. ebd., S. 9).
Es gibt jedoch auch kritische Stimmen hinsichtlich der positiven Wirkung von Elternbildung auf die gesellschaftliche Entwicklung. Dazu gehört Allen Cane, ein englischer Soziologe, der das Buch „Die Elternparanoia“ schrieb, in dem es um gesellschaftlich geschürte elterliche Ängste geht.
Kindererziehung, Elternbildung sowie Erziehungsprobleme stehen seit einigen Jahren vermehrt auch im Interesse der politischen Parteien. Dabei steht die Idee im Vordergrund, dass insbesondere inkompetentes elterliches Erziehungsverhalten das Verhalten der Kinder negativ beinflusse. Durch die Aussagen einiger Politiker könnte man den Eindruck gewinnen, alle sozialen Probleme und jedes asoziale Verhalten von Kindern (Kriminalität, Teenagerschwangerschaften, Drogen etc.) seien bedingt durch eine mangelhafte elterliche Erziehung, so Cane (vgl. Furedi 2002, S. 229).
Ein englischer konservativer Politiker, Sir Keith Joseph, vertrat bereits 1972 die These, dass Verhaltensweisen, die zu „Armut und Unterpreviligierung“ führten, innerhalb der Familien weitergegeben würden. Als mögliche Option, dies zu verhindern, plädierte er dafür, junge Eltern besser auf ihre Elternrolle vorzubereiten. Zu seiner Idee wandten Kritiker ein, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unterpreviligiertheit und negativer Erziehung sei noch gar nicht belegt.
Mehr als zwanzig Jahre später, im Oktober 1996, veröffentlichte in Großbritannien die Labour Party die Schrift „Tackling the Causes of Crime“ (Bekämpfung von Verbrechensursachen). In diesem Diskussionspapier wird ein direkter Zusammenhang zwischen asozialem kindlichen Verhalten und negativem elterlichen Erziehungseinfluss hergestellt (vgl. ebd., S. 229f).
Im Jahr 1998 wird zudem ein Beratungspapier „Supporting Families“ (Familien unterstützen) verfasst. In diesem erklärt die Regierung ihre Vorhaben in Form von verschiedenen Programmen, z.B. zur Vorbereitung auf die Ehe, zur Rettung der Ehe, zu Projekten, die Eltern bei der neuen Situation „Geburt ihres Babys“ unterstützen, sowie zu politischen Eingriffsmaßnahmen im Falle elterlichen Versagens bei der Kindererziehung (vgl. ebd., S. 233).
Dieser Politisierungsprozess mit der Sündenbockstellung der Eltern innerhalb der britischen Gesellschaft ist nach Canes‘ Ansicht die Folge eines gesellschaftlichen Wandels, der mit familiärem Zerfall, hoher Kriminalität, allgemeinem asozialen Verhalten und Misstrauen zusammenhängt. Familie und Kirche verlieren gesellschaftlich und moralisch an Wert. Die Menschen verlieren Orientierungsmaßstäbe, fühlen sich verunsichert bezüglich moralischen Werten und Normen und sind unzufrieden mit dem Weg, auf dem unsere Gesellschaft sich befindet.
Diese Verunsicherung führt zur Suche nach schnellen und einfachen Lösungen, z.B. zur Schuldzuweisung bei offensichtlich unmoralisch handelnden Personen, in diesem Fall den Eltern als Verantwortlichen für die schlecht erzogenen Kinder. Zunächst wurden einige wenige, arme Randgruppenfamilien politisch diffamiert. Etwas später, im Zuge von steigenden Ehescheidungsraten, galten auch ledige Mütter als mitschuldig am moralischen gesellschaftlichen Verfall. In den 90er Jahren waren auch die „Versager-Väter“ moralisch bedenklich. Mit wachsender Verunsicherung innerhalb der Gesellschaft stieg auch die Zahl der schuldigen Elterngruppen, bis schließlich zum heutigen Zeitpunkt alle Eltern als potenzielle Schuldige im Visier der Politik stehen (vgl. ebd., S. 230f).
Cane gibt jedoch zu bedenken, dass es falsch ist, die Eltern allein verantwortlich zu machen für alle gesellschaftlichen Probleme und moralischen Werteverfall. Elterliches Verhalten wird selbst durch die Gesellschaft und deren kulturelle, soziale und moralische Vorstellungen geprägt. Die von Eltern vermittelten Werte entspringen ebenfalls der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 231).
Diese Wertevorstellungen sind nur heute, in einer globalisierten Welt, zunehmend pluralistisch, was wiederum zu weiteren Verunsicherungen führt.
In Canes‘ Augen sind verbesserte elterliche Erziehungsmethoden kaum dazu geeignet, die wichtigen gesellschaftlichen Probleme zu lösen, insbesondere die gesellschaftliche Verunsicherung hinsichtlich moralischer Werte und sozialer Probleme wie die Verbesserung des Gesundheitssystems, des Bildungswesens und der sozialen Einrichtungen. Er sieht in der Politisierung der Kindererziehung eher eine Instrumentalisierung durch die Politiker zu gunsten einer „billigen“ sozialpolitischen Werbekampagne anstelle einer effektiven Methode zur Beseitigung gesellschaftlicher Probleme. Selbst konstruktive politische Ideen seien kaum geeignet zur Lösung elterlicher Probleme, da Politik „zu grob“ und nicht feinfühlig genug für die emotionale Eltern-Kind-Beziehung sei. Politische Einmischung in „private Probleme“ könnte innerfamiliäre Situationen eher noch verschlimmern, z.B. indem das Selbstvertrauen der Eltern weiter schwinde (vgl. ebd., S. 232). Weitere Beispiele für solche politisch verursachten Verschlimmerungen nennt Cane allerdings nicht.
Statt dessen vertritt Cane die konservative Auffassung, Eltern sollten ihre Kinder so erziehen, wie sie es für richtig halten, und wie es in der Vergangenheit auch üblich war (vgl. ebd., S. 232). Er warnt außerdem davor, dass elterliches Verhalten in Zukunft stärker kriminalisiert werden könnte, im Zuge der von ihm diagnostizierten „Professionalisierung der Kindererziehung“. Dabei bezieht er sich auf 122 amtliche Anordnungen britischer Behörden, die Ende 1999 an Eltern von straffällig gewordenen Kindern ergingen. Die Eltern wurden darin amtlich aufgefordert, ihren Kindern mehr Disziplin beizubringen und Eltern-Fortbildungskurse zu besuchen (vgl. ebd., S. 234).
Cane plädiert für den Schutz der Elternrechte und den Glauben an deren naturgegebenes Verantwortungsbewusstsein. Er glaubt, die Politisierung der Kindererziehung und die Idee, Politiker wüssten besser als die eigenen Eltern, was gut für die zu erziehenden Kinder ist, sei eine Beleidigung der Würde der Eltern. Der Staat habe kein präventives Eingriffsrecht, lediglich ein Recht auf Eingriff im Fall eines das Kind bedrohenden Schadens (vgl. ebd., S. 235). Auf die Definition des Begriffs Schaden und wann dieses das Kind schädigende Verhalten aus seiner Sicht gegeben ist, verzichtet Cane aber.
Die britische Regierung verstärkte unterdessen ihre Bemühungen um eine Integration von Elternbildungsprogrammen im öffentlichen Leben. Der britische Innenminister Jack Straw sprach sich für eine Änderung der Kindererziehungskultur aus, so dass Eltern sich bei der Suche nach Rat und Hilfen bei ihrer Kindererziehung nicht länger als Versager sondern als „fürsorgliche, verantwortungsbewusste Eltern“ sehen könnten. In Großbritannien wurde seitens der Regierung ein Programm mit dem Namen „Sure Start“ initiiert, welches sich nicht nur auf die Weiterbildung sozial schwacher Familien...