Einleitung
… même si Dieu n’était pas mort, mais seulement exilé.
… als ob Gott nicht tot, sondern nur im Exil wäre (IH 148).
Emmanuel Levinas spricht ganz anders (tout autrement) als die andern. Mit ihm kam ein Ton in die Philosophie, den man zuvor nicht gehört hatte, ebenso befremdlich wie anziehend. Er kommt immer gleich zur Sache. Er gebraucht ohne Umschweife die anspruchsvollsten Begriffe der Philosophie, um die schlichtesten Phänomene zu verdeutlichen. Er stellt in kürzesten Anläufen die weitreichendsten und herausforderndsten Fragen. Er hält sich nicht mit Philologie auf. Er knüpft immer nur in wenigen Punkten an frühere Philosophien an und bewegt sich unter ihnen in waghalsigen Zeitsprüngen. Er wartet plötzlich mit Religion auf, wo man weiter mit Philosophie gerechnet hatte. Oft scheint er selbst überrascht von den Wegen, die sein Denken findet. Dennoch geht sein Denken in strenger Folgerichtigkeit voran, Argument für Argument, völlig nüchtern, ohne jeden Appell an Gefühle, manchmal, trotz oder wegen seines Ernstes, mit einem Anflug von Selbstironie. Es kommt zu schlüssigen, nachvollziehbaren Ergebnissen.
Es geht im Kern um die ethische Verantwortung, die das Leid eines Andern hervorruft. Leid, das Schmerz und Not sein kann, die mich nicht ruhen lassen, die von mir verlangen, etwas zu tun. Leid, das aber auch aus der bloßen Andersheit des Anderen kommen kann, die mich befremdet und feindselig macht und gegen die man nicht leicht etwas tun kann. Leid, das mich, auch wenn oder weil es nicht heilbar ist, trotzdem nicht in Ruhe lässt. Leid, das mich selbst infrage stellt, das mir Fragen stellt, die in die Tiefen der Philosophie reichen und die Grenzen zur Religion überspringen. Leid, das an den Grenzen zur Religion die Fragen der Philosophie neu und anders stellen lässt. Fragen, denen die Shoa den schwersten Ernst gegeben hat, in der Menschen, Angehörige eines Volkes, das für seine Philosophen gerühmt wurde, mitten im 20. Jahrhundert mitten in Europa Millionen von Menschen töten konnten allein deshalb, weil sie anders waren. Die europäische Philosophie, die sich doch als universale Hüterin des Seins und des Guten verstand, hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg, der unter neuen furchtbaren Opfern dem Hitler-Reich ein Ende machte, in der Shoa kaum einen Anlass gesehen, sich zu fragen, ob sie mit ihrer Art zu denken und zu unterscheiden nicht von langer Hand dazu beigetragen hatte, was geschehen war, ob ihre Begriffe von Sein und Nichtsein, Wahr und Falsch, Gut und Böse, Eigenem und Anderem nicht daran mitschuldig waren. Levinas hat das getan.
Seine Philosophie, die sich nur langsam, aber beharrlich Gehör verschaffte, gilt inzwischen als eine der großen des 20. Jahrhunderts. Im deutschen Sprachraum sind zunächst vor allem christliche Theologen auf sie aufmerksam geworden. Ihre Wahrnehmung wurde dadurch nachhaltig geprägt. Nach Martin Buber schien Emmanuel Levinas ein neues Angebot für den christlich-jüdischen Dialog zu machen. Aber Levinas hat sich deutlich von Buber und der Philosophie des Dialogs distanziert, und es geht ihm nicht um Ausgleich unter den Religionen. Sein Denken hält sich nicht in den Grenzen des Dialogs, seine Philosophie zielt nicht auf Gemeinsamkeit und Einheit. Es besteht auf der Andersheit.
Levinas, der Anfang 1906 in Litauen geboren wurde und Ende 1995 in Paris starb, setzt bei der ›Trennung‹ (séparation), dem ›Außereinander‹, der ›Exteriorität‹ an. Danach können wir nicht schon voraussetzen, dass wir mit andern irgendetwas gemeinsam haben, weder ein für alle einheitlich gegebenes ›Sein‹ noch eine ›Vernunft‹, die jenes Sein einheitlich bestimmt und festhält. Jede und jeder ist frei, alles anders zu erfahren und zu beurteilen als andere. Die europäische Philosophie hat sich nach Levinas vorschnell auf Einheit festgelegt, sei es in Gestalt eines Seins oder einer Vernunft oder in der Beziehung beider, einem reinen Vernehmen des Seins, der ›Theorie‹. Sie hat es sich dadurch mit dem Ethischen zu leicht gemacht und die Voraussetzung geschaffen, es zu verkehren.
Das Ethische ist nach Levinas etwas, das nur in der Trennung geschieht. Es ist ein Bezug zu andern, mit denen man nicht schon Gemeinsamkeiten hat, die man als immer anders erfährt und durch die man selbst immer anders wird, ein in nichts feststehender, sondern bewegender, mitnehmender, verunsichernder Bezug. Das Ethische schafft Verunsicherung, bevor es Sicherheit schafft. Es kommt dem eigenen Leben nicht zu Hilfe, sondern stört es. Es unterbricht die Sorge um sich selbst, öffnet für die Belange eines andern und ruft die Verantwortung für ihn wach. Ein anderer nötigt mich, ohne es zu wollen, mich von meinen Interessen ab- und seinem Leid zuzuwenden. Sein Leid lässt mir keine Wahl. Und nur wenn ich keine Wahl habe, nur wenn ich mir das Ethische nicht vorbehalte, mich nicht für oder gegen es entscheide, ist es das Ethische. Sich angesichts des Leids eines andern die Zuwendung zu ihm vorzubehalten, kann nicht ethisch sein. Danach entspringt das Ethische im unmittelbaren Bezug zu andern, im Bezug ohne ein vermittelndes Drittes, auch ohne eine vermittelnde allgemeine Moral. Im unmittelbaren Bezug ist jeder dem andern schutzlos ausgesetzt. Nach Levinas ruft die Schutzlosigkeit das Ethische hervor.
Es hat dann keine Stütze in einer Theorie und sofern es allem Theoretischen vorausgeht, kann es sie auch nicht darin haben. Es bleibt auch selbst immer unsicher. Die Trennung, der unmittelbare Bezug ohne ein vermittelndes Drittes, legt das Ethische weder fest noch gewährleistet sie es, sie fordert es nur heraus. Festlegen und gewährleisten lässt es sich nur aufgrund eines Gemeinsamen, eines einheitlichen Seins oder einer einheitlichen Vernunft. Es wird dann theoretisch formulierbar in Gesetzen, Normen oder Werten. So kann es der eine gegen den andern geltend machen, wird es wechselseitig einklagbar. Man kann dann den andern im Namen des Dritten, des Allgemeinen, zur Rechenschaft ziehen, ohne selbst dafür einstehen zu müssen. Der andere ›fällt‹ dann ›unter‹ ein Allgemeines, ein Gesetz, eine Norm, einen Wert, seine Andersheit wird ›unwesentlich‹, und man ist davon entlastet, sich auf sie einzustellen. Im Namen des Theoretisch-Ethischen kann man sich zum Richter anderer machen. Man kann von ›höheren‹ allgemeinen Maßstäben aus entscheiden, was an andern gut oder böse ist. Man kann in einem ›Wir‹ aufgehen, in dem alle eine ›Moral‹ teilen, die jedem das Recht und die Macht verleiht, über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu dieser Moralgemeinschaft, über Ein- oder Ausschluss zu entscheiden, und muss sich dabei nicht fragen lassen, ob dies seinerseits gut oder böse ist. Moralgemeinschaften bergen, weil sie ›in gutem Glauben‹ andere ein- und ausschließen, die Gefahr des Totalitarismus in sich. Europa ist im 20. Jahrhundert zu großen Teilen totalitär geworden. Die europäische Philosophie könnte, darauf hat besonders Hannah Arendt in ihren Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft aufmerksam gemacht, an diesen Totalitarismen mitschuldig geworden sein.
Opfer der europäischen Totalitarismen wurden, neben vielen anderen, vor allem die Juden. Die Juden haben eine andere Tradition des Denkens hervorgebracht und trotz aller Verfolgungen an ihr festgehalten. In ihr wurden nach Levinas die Anderen im Ansatz anders, nicht von einem Einheitlichen und Gemeinsamen her, sondern aus der Trennung heraus als ›ganz Andere‹ erfahren. Dahinter stand und steht der Gedanke eines Gottes, der in seinem ersten Gebot verlangt, sich keine Bilder, keine Begriffe von ihm zu machen, der immer noch anders ist, als Bilder und Begriffe ihn fassen können, der kein Gegenstand der Theorie sein kann und soll. Dieser Gott sollte allein Gut und Böse hinreichend unterscheiden können. So konnte auch Gut und Böse kein Gegenstand der Theorie sein. Das Theoretische, in dem die Andersheit der Einzelnen zurücktritt und für das sie keine Verantwortung zu haben scheinen, blieb auf diese Weise von Anfang an durch das Ethische begrenzt, in dem die Einzelnen gefordert und füreinander verantwortlich sind. Hier trennt sich die jüdische Tradition, wie Levinas sie sieht, von der europäischen Philosophie des Seins und der Vernunft, die er die ›griechische‹ oder die ›westliche‹ nennt. Diese nahm in ihrem Hauptstrom an, das Tun des Guten setze ein Wissen des Guten voraus, und vertraute darauf, dass dem Wissen des Guten, wenn es nur hinreichend klar sei, das Tun des Guten folgt. Die jüdische Tradition, die Levinas als Tradition der Auslegung der hebräischen Bibel, der Thora, versteht, teilte dieses Vertrauen in ihrem Hauptstrom nicht. Sie rechnete nicht mit einem hinreichend zu klärenden und allgemein festlegbaren Wissen des Guten und erhoffte sich davon auch nicht die Verbesserung des Handelns der Menschen. Weil sie hier im Ansatz anders dachte und sich von hier aus ganz anders entwickelte, ist sie der europäischen Philosophie des Seins und der Vernunft immer fremd geblieben, erschien ihr Denken dem europäischen Denken willkürlich und darum gefährlich. So könnte auch aus der Sicht der...