2. Neuroaffektive Grundlagen
„Ich versuche, an nichts zu denken, sondern mich durch langsames, bewusstes Atmen zu beruhigen und mein Gewicht ganz gleichmäßig auf beide Füße zu verteilen, aber ich kann nicht verhindern, dass sich das Gefühl der Minderwertigkeit in mir ausbreitet wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt. Es überschwemmt den Bauchraum, steigt bis unter die Schädeldecke und rinnt in jeden einzelnen Finger.“
(Karen Duve, Dies ist kein Liebeslied)
In der fachwissenschaftlichen Literatur wird zwischen Affekten, primären und sekundären Gefühlen, Stimmungen sowie Emotionen unterschieden (Damasio 2013, 2014, 2015; Merten 2003). Für die Praxis der EFT ist es nicht relevant, sich auf diese sprachlichen Differenzierungen und Definitionen der Grundlagenwissenschaften zu beziehen. Ich verwende die Begriffe Emotion, Affekt und Gefühl und meine damit unser gefühltes Erleben von uns selbst in der Welt.
2.1 Emotionen
In der emotionsfokussierten Psychotherapieprozessforschung haben sich bestimmte Emotionstypen als therapeutisch relevant erwiesen, die ich in Kapitel 4 vorstellen werde.
Bis in die Mitte der 1960er-Jahre beherrschten lerntheoretische, behavioristische Konzepte die psychologische Forschungslandschaft. Emotionen fanden als etwas nicht Objektivierbares keine Berücksichtigung. Pointiert formulierte Ulich (1995):
„Stellen Sie sich vor, Sie sagen zu einem Psychologen: ‚Ich habe Angst.‘ Ein orthodoxer Behaviorist oder ein Physiologe hätte Ihnen vor einigen Jahrzehnten dann etwa so geantwortet: ‚Was Sie da in bedauerlich mißverständlicher Weise Ihre ‚Ängste‘ nennen, das ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein meßbarer Zustand Ihres Körpers, z. B. Änderungen im Tonus der Muskulatur, der Drüsen- oder Darmtätigkeit. Man hat Ihnen beigebracht, diese körperlichen Prozesse mit irgendwelchen, letztlich beliebigen Worten zu belegen. ‚Angst‘ ist für uns Wissenschaftler ein hypothetisches Konstrukt, mit dem wir hilfsweise das bezeichnen, was Sie leider nur ganz subjektiv und privat an Ihrem eigenen Körper wahrnehmen können. Ich darf Sie nun bitten, sich ein wenig frei zu machen, damit ich die Elektroden anlegen kann.“
(S. 56)
Doch Emotionen sind mehr als nur physiologische Zustände auf humoraler, neuronaler und muskulärer Ebene, die zur Anpassung an veränderte Bedingungen beitragen. In der EFT sehen wir Emotionen als grundsätzlich adaptiv an. Sie helfen uns, komplexe Situationen schnell und automatisch zu verarbeiten, sodass wir adäquat auf diese reagieren können. Sie helfen uns bei der Bewertung, welche Situationen förderlich für unser Wohlbefinden sind – oder eben nicht. Sie geben uns Hinweise auf unsere Bedürfnisse und motivieren uns zu unserem Handeln. Sie beeinflussen nachfolgende „höhere“ kognitive Verarbeitungsprozesse wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis- und Entscheidungsprozesse oder moralisches Urteilen. Der Ausdruck von und die Kommunikation über Emotionen tragen zur Selbstregulation sowie der Regulation unserer Beziehungen bei.
Frijda (1996) schreibt in den Gesetzen der Emotionen, dass Gefühle aus der automatischen Bewertung komplexer situationsbezogener Informationen vor dem Hintergrund unserer Wünsche, Ziele, Werte sowie in Hinblick auf unser Wohlbefinden entstehen. In jeder Emotion sind zentrale Bedürfnisse enthalten. Wird eine Emotion aktiviert, setzt sie Handlungstendenzen frei: In Angst ist das Bedürfnis nach Schutz enthalten, das uns in Flucht- oder Kampfbereitschaft versetzt; liebevolle Gefühle motivieren uns, uns dem begehrten „Objekt“ zuzuwenden.
„Eine Emotion ist eine Veränderung in der Handlungsbereitschaft der Person (…). Ich meine damit die Art und das Ausmaß der Bereitschaft, eine Beziehung mit der Welt herzustellen oder zu verändern, d. h. mit einem Objekt in der realen Welt, der Welt der Gedanken, der Phantasien oder auch der Welt als ganzer, wie z. B. in der Freude oder der Depression, als Weltoffenheit oder Weltverschlossenheit für was auch immer. (…) Unter Emotionen verstehe ich den Komplex von Reaktionen, die durch ein emotional bedeutungsvolles Ereignis hervorgerufen werden. Das sind Gefühle im Sinne des inneren Erlebens sowie Ausdrucksbewegungen, physiologische Reaktionen, manifestes Verhalten, Gedanken und anderes mehr.“
(S. 206 f.)
Emotionen sind damit ein Kompass, der uns auf unserem Lebensweg und in der Therapie die Richtung hin zu einer resilienten Selbstorganisation, einer positiven Beziehung zu uns selbst und anderen und damit zu einem zufriedenstellenden Leben weist.
2.2 Somatische Marker
Für die EFT ist die Hypothese der somatischen Marker, die von Damasio (2015) formuliert wurde, interessant. In ihr findet sich der von Gendlin beschriebene (Bodily) Felt Sense wieder:
„Hätte der Mensch nicht die Möglichkeit, Körperzustände zu empfinden, die genetisch als unangenehm oder angenehm definiert sind, gäbe es in seinem Leben kein Leid und keine Seligkeit, keine Sehnsucht und kein Erbarmen, keine Tragödie und keinen Ruhm.“
(Damasio 2015, S. 16)
Damasio beschreibt die Veränderung von Körperzuständen, die als Signale an das Gehirn gesendet werden, als somatische Marker. Diese Körperzustände, die das Muskel-Skelett-System, das Hormon- und Nervensystem umfassen, sind die erste, spontane, hochautomatisch ablaufende Reaktion auf äußere oder innere Reize. Diese Veränderungen werden an somatosensible Rindenfelder des Gehirns gesendet und dort verarbeitet. Die körperlichen Reaktionen sind angeboren, werden im Verlauf des Lebens aber durch Sozialisationsprozesse weiterentwickelt. Sie entstehen über die neurophysiologische Verknüpfung von Emotionen mit Merkmalen der Situation, in der sie entstehen, beispielsweise als Wohlgefühl, wenn sich unsere Eltern liebevoll um uns kümmern. Sie verändern sich je nach Situation, sodass sie unsere Anpassung an die Umwelt ermöglichen. Die bewusste Wahrnehmung dieser Körperzustände ist die Grundlage für unsere Gefühle und unser Selbsterleben. Damasio bezeichnet das Selbst als „ständig neuerzeugten neurobiologischen Zustand“ (2015, S. 144). Die bewusste Wahrnehmung dieser Gefühle hilft uns dabei, gemäß unserer zentralen Bedürfnisse zu handeln und „kluge“ Entscheidungen zu treffen.
2.3 Emotionale Schemata
2.3.1 Was unter einem Schema zu verstehen ist
Somatische Marker sind Teil emotionaler Schemata. Von Geburt an wachsen neuronale Verbindungen in einer rasanten Geschwindigkeit zu komplexen Informationsnetzwerken, den Schemata, zusammen. Zunächst enthalten sie viszeral, präverbal-affektive Elemente, mit der Entwicklung unseres Sprachvermögens auch verbal-konzeptuelle. Schemata können als flexibles, schnelles Verarbeitungssystem adaptiv sein und uns dabei helfen, in unserem Leben zurechtzukommen; sie können aber auch maladaptiv werden.
Wir definieren emotionale Schemata, egal ob adaptiv oder maladaptiv, als „das Selbsterleben in der Welt umfassende Handlungsstrukturen, die kognitive, affektive, motivationale und relationale Aspekte integrieren“ (Greenberg, Rice & Elliott 2003, S. 111). Schemata können als Informationsnetzwerke aufgefasst werden, in denen generelles Wissen über uns und die Welt enthalten ist; sie ermöglichen uns auch Voraussagen: Wenn ich eine gute Note mit nach Hause bringe, werden sich meine Eltern freuen und mich ins Kino einladen. Entsprechend fühle ich mich entspannt oder vorfreudig erregt. Schemata antizipieren Situationen und ermöglichen es uns, die Komplexität der Welt zu strukturieren.
Sie sind eine innere Repräsentation unserer Lebenserfahrung, in der relevante Hinweisreize und die zugehörige (gelernte) emotionale Reaktion im Sinne der somatischen Marker miteinander verknüpft sind. Sie steuern unsere Wahrnehmung, Gedächtnisprozesse und unser Selbsterleben. Sie wirken dabei in der Regel implizit, das heißt vorbewusst und der willentlichen Kontrolle entzogen. Sie sind keine statische Struktur oder eine Art Speicher, dessen Inhalt auf immer festgelegt ist, sondern können als Prozess aufgefasst werden, in dem neben sprachlichen und affektiven Elementen auch körperliche Empfindungen, Handlungstendenzen sowie Sinneseindrücke wie (Erinnerungs-)Bilder und Gerüche je nach innerer oder äußerer Situation miteinander interagieren.
Das Interventions- und Veränderungsziel der EFT sind maladaptive emotionale Schemata, die, wenn sie aktiviert sind, zu individuellem emotionalen Leiden, zu Beziehungsschwierigkeiten, einem negativen Selbstbild und / oder problematischen Verhaltensweisen führen. Nur ein aktiviertes Schema ist dem Bewusstsein und damit therapeutischer Veränderung über die entsprechenden Empfindungen, Erinnerungen sowie Handlungstendenzen zugänglich.
In einer Situation können ein oder mehrere Schemata aktiviert sein. Sie interagieren und konstruieren von Moment zu Moment unser Selbstempfinden, das damit hochidiosynkratisch ist. Frijda schreibt, „dass ein und dasselbe Ereignis in verschiedenen Personen oder auch in ein und derselben Person zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Emotionen auslösen kann“ (1996, S. 208). Für die Therapie bedeutet dies, dass wir von Sitzung zu Sitzung und von Moment zu Moment innerhalb einer Therapiestunde aufmerksam dafür sein müssen, wie eine Klientin gerade organisiert ist. Sie kann in der einen Woche ganz hoffnungsvoll und tatkräftig erscheinen, in der Woche darauf der Verzweiflung und Resignation nahe sein, im Verlauf der Sitzung aber wieder zuversichtlicher werden.
2.3.2 Wie Schemata dysfunktional werden können
Dysfunktionale (maladaptive) Schemata können durch ein inkonsistentes Einfühlungsvermögen...