1. Das Prinzip des Überlebens
Als zentral für das Verständnis des Wesens leidvoller Zustände erachten wir das Prinzip des Überlebens. Im Folgenden stellen wir zunächst grob die Bedeutung dieses Prinzips dar und erörtern, inwiefern es mit psychischem Leiden in Zusammenhang steht. Anhand einzelner Fallbeispiele zeigen wir auf, inwiefern die Mechanismen, die sich aus diesem Prinzip ergeben, spezifisch den Lebensalltag von Menschen beeinträchtigen können. Schließlich leiten wir ein Funktionsmodell ab, das die verschiedenen Mechanismen berücksichtigt und gleichzeitig Grundlage für die therapeutischen Interventionen darstellt.
1.1 Überlebensmechanismen
1.1.1 Homöostase und Verarbeitung überlebensrelevanter Reize
Der menschliche Organismus verfügt über ein evolutionär gewachsenes Steuerungssystem, das dem Prinzip des Überlebens dient. Es umfasst eine Vielzahl hoch automatisierter, unabhängig vom Bewusstsein ablaufender (teilweise aber bewusstseinsfähiger) Mechanismen, welche sich im Laufe der Evolution zur Sicherung des Überlebens entwickelt haben. Dieses Steuerungssystem zielt stets auf einen hypothetischen Zustand ab, den man als „ideale Homöostase“ bezeichnen kann und in dem zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Lebensprozesse im Individuum optimal unterstützt sind, der Organismus sich also in einem völligen Bedürfnis-Gleichgewicht befindet. Abweichungen von der idealen Homöostase sind für das Überleben relevant, je ausgeprägter sie ausfallen und je länger sie anhalten. Jedes Bedürfnis, dessen Befriedigung eingeschränkt ist, erscheint aus der Perspektive des Steuerungssystems als möglicher Beginn einer anhaltenden und lebensbedrohlichen Mangelsituation. Das Individuum tut in diesem Zusammenhang gut daran, diese Abweichungen frühzeitig zu bemerken und möglichst schnell und effizient rückgängig zu machen. Ganz dieser Aufgabe folgend ist das menschliche Steuerungssystem mit der Fähigkeit ausgestattet, einerseits lebensbedrohliche Einflüsse schnell und effizient zu orten (Alarm) und andererseits Situationen zu erkennen, die eine Bedürfnisbefriedigung versprechen (Belohnung). Überdies verfügt es über die Fähigkeit, je nach wahrgenommener Situation entsprechende Verhaltensprogramme in Gang zu setzen, letztlich mit dem Ziel, sich der idealen Homöostase so weit wie möglich anzunähern.
Wie weiter unten genauer ausgeführt wird, ist für das vertiefte Verständnis von Musteraktivierungen und die daraus abgeleiteten Interventionsformen in erster Linie der Teil des Steuerungssystems von Belang, der sich auf Bedrohungen bezieht (vgl. Kasten unten). Dies erklärt sich aus dem Umstand, dass es für den Organismus überlebensnotwendig ist, akute Bedrohungen prioritär zu behandeln. Erst wenn der Organismus in Sicherheit ist, kann er sich der Befriedigung weiterer Bedürfnisse zuwenden (vgl. dazu die Bedürfnispyramide von Maslow, 1943). Ein Spezialfall, bei welchem Bedrohung und das Streben nach Lust und Befriedigung eng miteinander verquickt sind, liegt bei Suchtverhalten vor, auf welches wir in Abschnitt 1.2.5 spezifisch eingehen.
Da die Überlebensaufgabe für einen Menschen (wie für die meisten Säugetiere) alleine nicht zu bewältigen ist, müssen diese überlebenssichernden Mechanismen neben der Erhaltung des einzelnen Organismus auch den Zusammenhalt in der Gemeinschaft gewährleisten. Besonders bedeutsam sind dabei für den Menschen die Mechanismen, welche die Bindung des Säuglings an pflegemotivierte Bezugspersonen sichern.
Motivationssysteme in verschiedenen Therapieschulen
In verschiedenen Therapieschulen und Ordnungssystemen, z. B. in der CFT von Gilbert (2013) oder dem Konzept zur Selbststeuerung nach Bauer (2015), werden drei motivationale Systeme unterschieden:
- das Alarm- bzw. Bedrohungssystem,
- das Belohnungssystem und
- das Bindungssystem.
Dabei wird angenommen, dass die Systeme im Lauf der Evolutionsgeschichte in der genannten Reihenfolge entstanden sind. Da alle drei Systeme, auch wenn sie evolutionsgeschichtlich nicht denselben Epochen entstammen, für das Überleben des Homo sapiens in der Säuglings- und Kleinkindphase bis heute unmittelbar notwendig sind, fassen wir sie im Begriff des Überlebenssystems zusammen und konzentrieren uns in den folgenden Ausführungen auf das Alarmsystem. Dies erscheint insofern sinnvoll, als „Schräglagen“ in den beiden anderen Systemen dem Betroffenen immer in Form einer größeren oder kleineren Alarmreaktion angezeigt werden. Von der überlebensnotwendigen Anzeige, z. B. der Abwesenheit von Nahrung, Wärme und versorgender bzw. beschützender Bezugspersonen in der Kindheit oder im Erwachsenenalter bei realen Notsituationen, unterscheiden wir die Bedürfnisse Erwachsener nach Nähe, gutem Essen, Sex etc., von deren Befriedigung das Leben nicht abhängt.
In dem ständig laufenden Prozess der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen der Erhaltung des eigenen Organismus und der Sicherung des gemeinschaftlichen Zusammenhalts verarbeitet das Gehirn unablässig Informationen (Siegel, 2012). Diese stammen einerseits aus dem Organismus selbst (Hunger, Durst, Infektionen, Körperhaltung etc.), andererseits aus der näheren oder weiteren Umwelt (Geräusche, insbesondere Stimmen anderer Menschen, Gerüche, Mimik, Körperrhythmus anderer Menschen etc.). Das menschliche Gehirn verfügt über eine Vielzahl bei Geburt bereits „verdrahteter“ Reiz-Reaktions-Koppelungen, welche dem Betroffenen ein Ungleichgewicht sowohl im eigenen Organismus als auch in seinen Beziehungen zur Gemeinschaft bzw. den Beziehungen anderer Mitglieder der Gemeinschaft untereinander anzeigen.
Sämtliche eingehenden Reize werden laufend und automatisch hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Überleben des Individuums geprüft. So können beispielsweise schnelle Bewegungen oder laute Geräusche in der Umwelt von bestimmten Neuronengruppen erkannt und als potenziell bedrohlich eingestuft werden. In diesem Fall handelt es sich um angeborene neuronale Strukturen und die damit einhergehenden Reaktionsbereitschaften.
1.1.2 Die Alarmreaktion
Wird nun über die eingehenden sensorischen Informationen ein Ungleichgewicht oder eine bedrohliche Reizkonstellation detektiert, wird dies durch eine zunächst unspezifische emotionale Erregung des Organismus angezeigt. Bleibt der Eindruck der Bedrohung bestehen, wird diese Erregung über Feedbackprozesse zwischen Gehirn und restlichem Organismus ausdifferenziert. Sie mündet in die Innervierung von Muskelgruppen und anderen Organen (Stress-Aktivierung) und kann sämtliche Funktionsebenen des menschlichen Nervensystems, einschließlich der höchsten kortikalen Funktionen nach sich ziehen. Dieser Prozess läuft zunächst im autonomen Nervensystem ab und wird vornehmlich durch die Tätigkeit des Sympathikus bestimmt. Dieser ermöglicht allgemein gesprochen die Mobilisierung von Energie zur Initiierung und zum Unterhalt von Verhaltensprogrammen, die für die Eliminierung der wahrgenommenen Bedrohung vorgesehen sind: Kampf, Flucht, Erstarren und Besänftigung des als bedrohlich empfundenen Gegenübers. Die emotionalen Zustände, welche diesen Aktivierungsprozess begleiten, können als Gefühle zu Bewusstsein kommen.
Eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung und Ausführung der Alarm- und Bewältigungsreaktionen (der Einfachheit halber im Folgenden Alarmreaktion genannt) kommt den Amygdalae (Mandelkernen) zu. Hier werden alle bedeutsamen positiven wie negativen subjektiven Erfahrungen quasi emotional kodiert und können in der Folge während des ganzen individuellen Lebens zum Vergleich mit den gegenwärtigen sinnlichen Eindrücken herangezogen werden. Gleichen Letztere früheren bedrohlichen Erfahrungen, deuten die Amygdalae die Situation als Gefahr und schlagen gewissermaßen Alarm. Die damit zusammenhängenden neuronalen und hormonellen Mechanismen werden mit minimaler zeitlicher Verzögerung (300–400 ms) in „tieferen“ Hirnregionen ausgelöst und laufen damit zunächst bewusstseinsfern ab (LeDoux, 2001).
Abbildung 1.1: Zeitlicher Ablauf einer Alarmreaktion und der Zusammenhang zur Bewusstseinsfähigkeit
Der schwarze Pfeil in Abbildung 1.1 bildet den Verlauf einer Alarmreaktion ab, die mit mittlerer bis hoher physiologischer Erregung einhergeht. Bewusstseinsfähig wird die Reaktion frühestens nach ca. 500 ms. Um sich einer Alarmreaktion bewusst zu werden, braucht es bereits eine aktive Entscheidung, sich auf die bewusste Wahrnehmung der Reaktion einzustellen. Der gestrichelte Pfeil repräsentiert den Verlauf einer Alarmreaktion mit sehr hoher physiologischer Erregung. Überschreitet das Erregungsniveau eine gewisse Schwelle, „schaltet“ das Gehirn die für den Aufbau von Bewusstseinsprozessen notwendigen neuronalen Bahnen nicht „dazu“. In diesem Fall läuft die Reaktion mitunter längere Zeit gänzlich automatisch ab.
Zusammenfassend können die Prozesse, die während einer Alarmreaktion ablaufen, folgendermaßen beschrieben werden: Am Beginn steht die automatische und unbewusste Lenkung der Aufmerksamkeit. Es folgt die Interpretation konkreter Reizkonfigurationen hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Überleben. Werden die eingehenden Signale als bedrohlich eingestuft, baut das Gehirn im Körper als Nächstes einen zunächst unspezifischen emotionalen Erregungszustand auf. Diesem folgt die Auslösung einer Verhaltensreaktion, welche ihrerseits in die Ausbildung einer Gefühlslage als Antwort auf die erlebte Reizsituation mündet. Der ganze Vorgang entspricht der Tätigkeit des impliziten Gedächtnisses. Für...