Der Krieg
Das vorliegende Buch enthält eine schwer erträgliche Zumutung: Die Leserinnen und Leser müssen sich auf die Täter einlassen – auf deren Logik, Denken, Kalkulieren und Handeln. Fortlaufend werden auf den folgenden Seiten Einzelheiten erörtert, Zahlen und tagespolitische Winkelzüge, die in Anbetracht des Ergebnisses – des Holocaust – banal und oft genug verwirrend erscheinen. Aber die Zumutung ist notwendig. Denn es gibt keinen anderen Weg, die politischen Prozesse zu untersuchen, die der Entscheidung zur »Endlösung« vorausgingen.
Die Analyse setzt mit dem 1. September 1939 ein und endet mit der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942. So amoralisch und rassistisch die antijüdische Politik schon seit 1933 angelegt war, die wichtigsten Voraussetzungen, die zum Holocaust führten, wurden erst im Krieg geschaffen. Weit über das in den ersten sechs Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bereits erreichte Maß hinaus beförderte der Krieg die Atmosphäre des Nicht-Öffentlichen, atomisierte die Menschen, zerstörte ihre noch vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen. Da außenpolitische Rücksichten kaum mehr zählten, entstand eine Situation, die in der Sprache der Täter die »einmalige Gelegenheit« genannt wurde: Es sei erforderlich, »die Aktion« jetzt durchzuführen, so rechtfertigte ein Vertrauter Heydrichs die für das Jahr 1941 geplante Massenabschiebung von einer Million Menschen, »weil sich während des Krieges noch die Möglichkeit« biete, »ohne Rücksicht auf die Stimmung der Weltöffentlichkeit verhältnismäßig rigoros vorzugehen«.[1] Als Hitler zur gleichen Zeit im engsten Kreis über die »Judenfrage« sprach, argumentierte er zwiespältig: Einerseits »würde der Krieg die Lösung dieser Frage beschleunigen, andererseits träten aber auch viele zusätzliche Schwierigkeiten auf«.[2] Schließlich notierte Goebbels im März 1942 zum selben Thema: »Es wird hier ein ziemlich barbarisches, nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. (…) Gott sei Dank haben wir jetzt während des Krieges eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt sind. Die müssen wir ausnützen.«[3]
In den ersten 24 Monaten des Zweiten Weltkriegs wurden die Juden, die unter deutsche Herrschaft gerieten, auch Opfer jener Diskriminierungspolitik, die zuvor schon in Deutschland und Österreich erprobt worden war. Im besetzten Polen, in Holland und Frankreich, in den abhängigen Staaten Slowakei, Rumänien und Ungarn wurden sie nach deutschem Vorbild enteignet und ihrer politischen Rechte beraubt.
Die inhärenten Konsequenzen solcher Marginalisierung hatte einer der energischsten Arisierer, der Reichskommissar für Österreich Josef Bürckel, schon im Herbst 1938 zu Ende gedacht: »Man darf nie vergessen«, so hatte er geschrieben, »will man arisieren und dem Juden seine Existenzgrundlage nehmen, dann muss man die Judenfrage total lösen. Ihn nämlich als Staatsrentner (zu) betrachten, das (…) ist unmöglich. Also muss man die Voraussetzungen schaffen, dass er ins Ausland kommt.«[4]
Den außenpolitisch ohnehin problematischen Weg der Zwangsauswanderung verbaute sich die deutsche Führung mit dem Krieg erst recht. Ebenfalls infolge des Krieges gerieten immer mehr Juden, erst Hunderttausende, dann Millionen unter deutsche Herrschaft: Schon nach der Zerstörung Polens waren es nicht mehr einige hunderttausend, sondern mehr als zweieinhalb Millionen. Außerdem wurde die Situation der Verfolgten deshalb immer bedrohlicher, weil sie vom Oktober 1939 an zusätzlich zu Objekten jener neuen, übergreifenden Politik wurden, die in immer weiteren Teilen des deutsch beherrschten Europa die Um- und Aussiedlung, die »ethnische Entflechtung« vieler Millionen Menschen bezweckte. Dem systematischen Mord an den europäischen Juden waren verschiedene Deportationsprojekte des Reichssicherheitshauptamts vorausgegangen. Sie entstanden unter spezifischen Rahmenbedingungen – und scheiterten aus Gründen, die ich auf den folgenden Seiten darstelle.
Im Herbst 1939 wollten Hitler, Himmler und Heydrich an der ostpolnischen Grenze ein »Judenreservat Lublin« schaffen. Sie legten das Projekt binnen weniger Monate zu den Akten, da sie es mit anderen – militärischen und ökonomischen – Zielsetzungen nicht vereinbaren konnten. Gut dokumentiert ist die Absicht, die Juden nach Madagaskar zu deportieren. Der Plan entsprang der Kontinentalblock-Konzeption Hitlers, die den Sieg über England, den Bestand des Hitler-Stalin-Pakts und die Kollaboration Vichy-Frankreichs voraussetzte. Gedacht war an die Errichtung eines »deutschen Kolonialreichs Mittelafrika« als »wirtschaftlichem Ergänzungsraum«. Im Rückblick erscheint das Vorhaben absurd. Bedenkt man aber, dass die Achsenmächte in Gestalt der italienischen Truppen längst in Addis Abeba und Mogadischu standen, dass Algerien, Marokko und Tunesien zum geschlagenen Frankreich gehörten, dann wird eher verständlich, warum im Sommer 1940 in der Kanzlei Hitlers bereits über künftige Gouverneursposten in »Deutsch-Ostafrika« gesprochen wurde.
Militärisch und außenpolitisch begründete Heydrich das Madagaskarprojekt im Sommer 1940 in folgender Weise: »Die Juden sind uns wegen unseres Rassenstandpunktes feindlich gesinnt. Wir können sie daher nicht im Reich brauchen. Wir müssen sie beseitigen. Eine biologische Vernichtung wäre aber des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig. Wir werden daher den Feindmächten nach dem Siege die Auflage erteilen, mit ihrem Schiffsraum die Juden mit ihren Sachen nach Madagaskar oder sonst wohin zu schaffen.«[5] Ich gehe mit H.-G. Adler davon aus, dass mit »Endlösung« – dieses Wort gab es schon – im Sommer 1940 noch nicht Vernichtung im Sinne eines systematischen Massenmords gemeint war.[6]
Erst im Frühjahr 1941 planten Heydrich, Eichmann und andere die »biologische Vernichtung« der Juden. Die Arbeitsunfähigen sollten in Reservaten an Hunger und Entbehrung zugrunde gehen, die Arbeitsfähigen ziellos »nach Osten« deportiert werden, dort Sümpfe trockenlegen und Straßen bauen – »wobei«, so Heydrich später, »zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen« werde. Bald darauf wurde beschlossen, die wehrfähigen jüdischen Männer in den zu besetzenden Territorien der Sowjetunion zu liquidieren. Der Plan fügte sich in das neue imperiale Programm der »Ostraumlösung« ein und enthielt die Absicht, das europäische Judentum in absehbarer Zeit auszurotten: mit sogenannten biologischen, aber – gemessen an der dann folgenden Praxis – noch »konventionellen« Mitteln. In seinen mörderischen Implikationen übertraf das Programm den Madagaskarplan bei weitem, und es enthielt schon alle Merkmale des Völkermords, doch unterschied es sich noch wesentlich von der wenig später favorisierten Vernichtung in den Gaskammern.
Auch das Vorhaben des Frühjahrs 1941 scheiterte im Herbst desselben Jahres an der Roten Armee. Trotz aller Niederlagen setzte sie der deutschen Offensive deutliche Grenzen. Aber die Protagonisten des Dritten Reichs hatten die »Abwanderung« der europäischen Juden längst fest einkalkuliert und die Deportation zur Grundlage ihrer Kriegs- und Nachkriegsplanung gemacht. Im Hinblick auf die »baldige Gesamtlösung« raubten sie den Juden alle Subsistenzmittel, trieben sie in improvisierte Ghettos oder Lager: immer in der Annahme, das geschehe nur für wenige Monate – bis zur endgültigen Abschiebung. Da das Vorläufige zur immer beständigeren »Last« wurde, entstanden Schritt für Schritt gewissermaßen realpolitische Voraussetzungen für die »Endlösung«.
In dem Buch »Vordenker der Vernichtung« haben Susanne Heim und ich den offenkundigen Zusammenhang dargelegt, der zwischen »völkischer Flurbereinigung« und der damit verbundenen »Neuordnung Europas« einerseits sowie der Vernichtung von Minderheiten andererseits bestand. Wir konnten zeigen, wie verschiedene Expertengruppen aus ganz unterschiedlichen Motiven eine Reduktion der (ost-)europäischen Bevölkerung um mehrere Zehnmillionen Menschen in Betracht zogen: Die einen erarbeiteten Konzepte zur »Aussiedlung aller Polen«, um auf diese Weise »Siedlungsraum« zu gewinnen; andere schlugen für breite Landstriche Osteuropas vor, »die Bevölkerungsdichte herabzusetzen«, um damit die Landwirtschaft zu rationalisieren, die infolge fortgesetzter Erbteilung keine Überschüsse für den Markt abwarf; wieder andere wollten 30 Millionen Russen durch eine künstlich ausgelöste Hungersnot umkommen lassen, um dann Kontinentaleuropa mithilfe des ukrainischen Getreides »blockadefest« zu machen. Aus dieser Perspektive war der Mord an den europäischen Juden der unter Kriegsbedingungen vorgezogene und am weitestgehenden verwirklichte Teil noch umfassenderer Vernichtungsabsichten.
Unsere Kritiker wandten seinerzeit ein – und dieser Einwand könnte auch gegen das vorliegende Buch erhoben werden –, es handelte sich um Pläne, die ebenso wirklichkeitsfern wie hypertroph waren und niemals funktioniert hätten. Es mag dahingestellt bleiben, wie und ob diese für eine nahe Zukunft gedachten Projekte ohne die Standfestigkeit...