Brauchen Hunde ein Abitur?
... oder reicht der Quali?
Viele Hunde in Deutschland leben als Familienmitglieder in ihrem Zweibeiner-Rudel. Sie genießen Privilegien wie Sofa und Fahrradanhänger, bekommen hochwertige Nahrung und schicke Colliers. Dafür müssen sie aber auch etwas leisten. Sie sollen der beste Freund des Menschen sein, brav und treu, aufs Wort folgen und rund um die Uhr gute Laune verbreiten sowie Herrchen oder Frauchen motivieren, sich zu bewegen. Das alles klappt mal besser, mal schlechter. Wo es nicht so gut klappt, werden oft Hundetrainer gebucht.
»Bitte, können Sie meinen Hund reparieren?«, sagte neulich eine Kundin zu mir. Allerdings beginnt die Reparatur des Hundes meist bei seinem Halter. Wobei ich das anders nennen würde. Denn wir sind ja keine Dinge, die funktionieren müssen ... oder? Verleitet uns die Leistungsgesellschaft dazu, auch unsere vierbeinigen Freunde so zu behandeln, als wären sie Dinge, und ihnen dadurch die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse vorzuenthalten? In meiner Praxis erlebe ich täglich, dass die Probleme, die Hundehalter mit ihren Vierbeinern haben, auf nicht erfüllte Grundbedürfnisse zurückzuführen sind.
Mit Sorge beobachte ich in den letzten Jahren einen Trend hin zum Leistungshund. Immer mehr Hundehalter verlangen zu viel von ihren Hunden. Teilweise wird völlig aus dem Blick verloren, dass ein Hund kein Sportgerät, kein Entertainer, kein Rundum-Clown, kein Kinderspielzeug ist. Es wird vergessen, was ein schönes Hundeleben ausmacht. Braucht ein Hund wirklich stundenlanges Gassigehen, tägliches Spezialtraining, Events und vieles mehr, was zahlreiche Halter in bester Absicht absolvieren? Sie meinen es gut, sie möchten ihren Hund optimal fördern, indem sie ihn fordern. Auf keinen Fall soll er sich langweilen. Aber womöglich ist das, was wir Menschen für Langeweile halten, beim Hund gar keine. Vielleicht meditiert er ja, wenn er irgendwo sitzt oder liegt und einfach nur schaut. Jedenfalls wollen solche Hundehalter die allerbesten Hundefreunde sein und stressen sich häufig selbst, weil das natürlich ziemlich viel Zeit kostet, die ja meistens knapp ist. Sie übertragen ihr persönliches Leistungsprinzip auf den Hund, der nun nicht mehr einfach Freude macht, weil er da ist. Er muss sich Aufmerksamkeit und Zuneigung verdienen, indem er etwas besonders gut kann oder schnell kapiert oder der Beste in einem Workshop ist. Und wenn nicht, dann sollte er wenigstens der Frechste sein. Klappt das nicht, ist der Halter zuweilen enttäuscht. Und das verunsichert den Hund, der sehr feine Antennen für die Emotionen seiner Menschen hat.
Eine Zeit lang kann es ein Hund kompensieren, wenn eines oder mehrere seiner Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Doch eines Tages eben nicht mehr. Der überforderte Hund wird wie der unterforderte verhaltensauffällig. Er bellt, zieht an der Leine, kann nicht mehr alleine bleiben, leidet an Durchfall, knurrt Fremde an, ist total überdreht. Gerade Hunde, denen eine unbeschwerte Welpenzeit verwehrt wurde, weil ihre Halter in die wichtige Sozialisierungsphase so viel Lernstoff wie möglich hineinpackten, kommen überhaupt nie richtig runter. Mich erinnert das alles an Kinder, die heutzutage manchmal schon im Mutterbauch mit Mozart frühstgefördert und, kaum auf der Welt, zu unzähligen Babyaktivitäten chauffiert werden. Selbst Mandarin, eine chinesische Hochsprache, wird mittlerweile für Kinder ab drei Jahren angeboten. Engagierte Eltern wollen alles richtig machen und schalten gelegentlich ihre Intuition aus, um auf keinen Fall etwas zu verpassen oder etwas falsch zu machen. Leider handeln immer mehr Hundehalter wie solche Eltern.
Aber wie geht es unseren Hunden damit? »Meine Hündin ist voll bei der Sache«, höre ich oft. »Mein Hund ist total verrückt nach dem Training.«
Genau das ist das Problem. Erstens sind Hunde in der Regel sehr daran interessiert, es ihren Herrchen und Frauchen recht zu machen. Sie wollen in einer harmonischen Umgebung leben, weil ihnen das Sicherheit schenkt. Zweitens bringt das, was ihnen langfristig schadet, oft auch Spaß. Da ähneln sich Vier- und Zweibeiner, und das liegt an der kurzfristigen Ausschüttung des Glückshormons Dopamin. Welche Aktivitäten und wie viel davon es braucht, um Glücksgefühle auszulösen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass ein Übermaß fatale Folgen haben kann. Wir machen auch viel Unvernünftiges, um an eine Prise Dopamin zu kommen, das uns mit einem leuchtenden Lebensgefühl belohnt. Doch früher oder später wird eine Grenze überschritten, und dann steuert man auf einen Burnout zu. Den es im Übrigen auch bei Hunden gibt.
Das heißt nicht, dass ich gegen die Ausbildung von Hunden und ihr Training wäre, damit würde ich ja meinen Beruf ad absurdum führen. Ich arbeite als Hundepsychologin, leite unterschiedliche Trainingsgruppen, unter anderem Hundebeschäftigung im Alltag und Personensuche, und biete Weiterbildungen für Hundetrainer an. Außerdem bin ich Ausbilderin für Hundetrainer und Ausbilderin für Therapiehunde und habe dazu ein Zentrum gegründet: das Wunjo-Projekt.
Ein Training soll den Möglichkeiten des jeweiligen Hundes und seines Menschen angepasst sein. Dabei kann man Hunden durchaus etwas abverlangen, das macht sie stolz und selbstbewusst und stärkt auch die Bindung: Mein Mensch und ich haben etwas miteinander geschafft!
Ich erinnere mich an viele Einsätze mit meinem Hund Wunjo für die Rettungshundestaffel, bei denen wir beide bis an unsere Grenzen gingen – und manches Mal einen Schritt darüber hinaus. Trotz der Brisanz einer solchen Situation achte ich darauf, wie es meinem Hund geht – und diese Sensibilität empfehle ich jedem Hundehalter. Frauchen und Herrchen sollten immer wieder kritisch prüfen, ob sie bei ihren Aktivitäten in gutem Kontakt mit ihrem tierischen Partner sind oder nur noch Leistung erwarten. Und sie sollten den Hund sehr genau beobachten, um eine Überforderung frühzeitig zu bemerken und Verhaltensauffälligkeiten zu vermeiden, die oft nur mit hohem Engagement abzutrainieren sind. Mangelt es einem Hund über lange Zeit an der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, kann sich seine Persönlichkeit verändern. Und dann höre ich »Früher war er ganz anders ...«
Immerhin gibt es in diesen Fällen ein Früher. Überforderte Welpen kennen diesen Zustand gar nicht. Sie werden manchmal vom ersten Tag bei ihren Haltern in ein Formel-1-Leben geworfen, und später wundern sich die Menschen, warum sie so viele Probleme mit den Hunden haben, denen sie so viel beigebracht haben und die so viel leisteten. Ja, gerade deshalb kommt es zu den Problemen!
Mit diesem Buch möchte ich daran erinnern, was Hunde sind. Sie sind wunderbare Wesen, deren Nähe unser Leben bereichert und von denen wir einiges lernen können: Das schöne, gute, einfache Leben in der Natur. Im Jetzt sein. Direkt und aufrichtig sein ... bedingungslose Liebe. Ich möchte aber auch den Blick dafür schärfen, dass die meisten Probleme entstehen, wenn wir die Grundbedürfnisse eines Hundes missachten. Und die Grundbedürfnisse werde ich in diesem Buch ausführlich beschreiben:
- Ruhe/Schlaf
- Bewegung
- Beschäftigung
- Spiel
- Bindung/Beziehung
Ich wünsche mir, dass meine Anregungen auf fruchtbaren Boden fallen. Schließlich wollen wir doch alle dasselbe: ein schönes Leben mit unserem vierbeinigen Gefährten, dem es hundherum gut gehen soll. Und dazu brauchen Hunde kein Abi.
Der Quali reicht allemal!
Und das gilt im Übrigen auch für uns Menschen, wenn wir zu einem guten Team mit unseren Hunden zusammenwachsen wollen. Denn meistens lieben wir sie doch. Und wir wünschen uns nur das Allerbeste für sie. Aber dummerweise wissen wir manchmal nicht, wie wir das unseren vierbeinigen Freunden vermitteln sollen. Es kommt zu Kommunikationsproblemen. Wo ist nun aber der Hund begraben? Bei den Grundbedürfnissen. Und das zeigen Hunde deutlich:
Bellen, beißen, bieseln – Hunde markieren nicht um den heißen Brei herum
Lucy knabberte gern. Allerdings beschränkte sich die belgische Schäferhündin nicht auf die üblichen Accessoires wie Schuhe, sie hatte ihr Repertoire auf Menschenbeine erweitert und schon mehrere Menschen gebissen. »Nicht schlimm«, sagte Frau Huber, ihre Halterin, »nur so ein bisschen gezwickt.«
Das sah das Ordnungsamt anders, zumal einer der Attackierten sich in der Notaufnahme eines Krankenhauses behandeln lassen musste. Nach einer Wesensüberprüfung bekam Lucy Maulkorb und Leinenpflicht verordnet. Frau Huber fand das ungerecht, weil Lucy doch der liebste Hund auf der Welt war. Und wie vorsichtig sie mit Kindern spielte, das müsse man gesehen haben! »Wissen Sie«, erklärte Frau Huber mir, »das liegt an dem ausgeprägten Schutztrieb von der Lucy. Ihre Vorfahren, die waren nämlich alle bei der Polizei.«
Den Titel »Liebster Hund der Welt« führte auch Larry, ein Australian Shepherd, allerdings nur, solange kein anderer Rüde am Horizont auftauchte. Dann wurde er zum Berserker, stellte sich auf die Hinterbeine und knurrte und bellte und geiferte, dass sein Besitzer Mühe hatte, den Hund zu halten. »Das ist, weil der Larry ein Alphatier ist«, schrie er mir durch das ohrenbetäubende Gebell zu.
Im letzten Winter hatte auch Finn so stark an der Leine gezogen, dass seine Besitzerin Frau Schwab sich bei einem Sturz auf einer Eisplatte die Schulter gebrochen hatte. Der nächste Winter stand vor der Tür. Finn zog noch immer an der Leine, als würde zehn Zentimeter vor seiner Nase ein Steak baumeln. »Er ist halt...