1 Körperliche Dimensionen der Entspannungsfähigkeit
Norbert Fessler
Prinzipien eines gesundheitsförderlichen Sports, die in den neuen Lehrplanwerken in den Bundesländern vielfältig verankert sind, legen ein ganzheitlich ausgerichtetes, biopsychosoziales Gesundheitsverständnis zugrunde. Dieses erweitert auch das Verständnis eines Sports in der Schule, der immer häufiger als »Bewegung, Spiel und Sport« ausgelegt wird. Dies zu Recht, denn meist wird übersehen, dass sportliche Formen, den Körper zu bewegen, auf historisch kurzen Beinen stehen. So war Sport noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil einer Körperkultur.
Mit dieser Entwicklung bewegt sich der Schulsport auf der Höhe der Zeit: Die funktionale Ausdifferenzierung des Sports als Bewegungskultur, die z. B. moderne Sportvereine mit ihren Entspannungskursen längst vollzogen haben, wird berücksichtigt. Zweifellos hat die Schule die Aufgabe, nicht nur einem juvenil und leistungssportlich geprägten Sportverständnis zu folgen, sondern vielfältige, in der Schule erfahrbar zu machende Sinnkonstrukte des Bewegt-Seins anzubieten.
In diesem modernen, nicht etwa weiten Sportverständnis ist dem Faktor Entspannung Beachtung zu schenken, bedenkt man, dass (1) die für die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen angemessene Abfolge von Spannung und Entspannung infolge zivilisatorisch-künstlicher Alltagsrhythmen zunehmend verlernt wird und (2) körperlich basierte Zugänge zu Entspannungsmethoden für Kinder attraktiv wie auch gut erlernbar sind und zudem in einen bewegten Schulalltag integriert werden können. Wohl auch deshalb werden in den Grundschullehrplänen der Bundesländer ca. 37 % der Entspannungsthemen dem Sportunterricht zugeordnet, bei den Entspannungstechniken sogar 54 %.
Die Sportwissenschaft hat aus ihrem Fachverständnis heraus keine eigenen Modelle zur Förderung von Entspannungsfähigkeit entwickelt. So verwundert auch nicht, dass didaktisch reflektierte, methodisch durchdachte und empirisch überprüfte Programme für die Schule bislang fehlen. Kind- und jugendgerechte Entspannungsansätze haben deshalb in der Schule allenfalls in wenig überzeugenden Kurzformen im Rahmen der Entwicklung sportbetonter Schulprofile wie der »Bewegten Schule« Einzug gehalten. Anzuführen sind beispielsweise Bewegungspausen im Unterricht mit Spielformen zur Entmüdung und eingearbeiteten Entspannungsübungen. Es stellen sich also grundsätzliche Fragen zu den Voraussetzungen eines Entspannungstrainings in der Schule.
1.1 Entspannungsfertigkeiten und Entspannungsfähigkeit
Entspannung ist, im Anschluss an anspannende Tätigkeiten oder auch diese unterbrechend, ein Zustand der Gelöstheit. Entspanntheit kann durch vielfältige Rituale und Aktivitäten herbeigeführt werden, wie z. B. Joggen, Walking, Spazierengehen, Musizieren, Angeln, Lesen oder Fernsehen bis hin zu problematischen Entspannungsauslösern wie Medikamente (z. B. Schlaf- und Beruhigungsmittel) oder auch übermäßiger Konsum von Alkohol, Tabak oder Drogen.
Die Fokussierung auf Entspannung und die Möglichkeit des Erreichens tieferer Entspannungszustände erfordern ein systematisches Entspannungstraining, das die individuelle Kompetenz steigern soll, auf Verspannungen allgemein und differenziell mit gezielter Entspannung zu reagieren. Differenziell meint, dass eingeübte Entspannungsfertigkeiten die Entspannungsfähigkeit entwickeln und das Individuum in die Lage versetzen, sich in individuell belastenden Situationen durch unmittelbaren Einsatz des Erlernten selbst helfen zu können – dies auch in ungünstigen Kontexten im Alltag, wie beispielsweise während der Arbeit oder auch in einer lärmenden Sporthalle. Ziel ist, die Fähigkeit zu erlangen, einen kontrollierten, relativ stabilen Erregungszustand willkürlich herbeizuführen, dessen Niveau unterhalb des normalen Wachzustandes liegt und zur Reduktion der Zustände physischer wie auch psychischer Anspannungen beiträgt, die sich z. T. gegenseitig bedingen (physisch: z. B. Muskelspannung, Atmung, Puls, Blutdruck – psychisch: z. B. Angst, Stress).
1.2 Klassifizierung und Zuordnung von Entspannungstechniken
Welche Entspannungstechniken aus bewegungsthematischer Sicht relevant und in der Schule im Sportunterricht wie auch im Klassenzimmer ausführbar sind, kann aus dem in Abb. 2 dargestellten Klassifikationsmodell (vgl. erstmals Fessler, 2006) abgeleitet werden.
Entscheidend ist zunächst die Entspannungsbasis: Für die Schule wird es maßgeblich darauf ankommen, Entspannungstechniken von Heilsversprechen und esoterischen Schleiern zu befreien. Ein Entspannungstraining soll vor allem Kompetenzen entwickeln, die auf eine autogene, d. h. selbst entstehende und selbst verantwortete Steuerung abzielen. In der schulischen Praxis muss dies dazu führen, Techniken wie Yoga oder Qigong von ihren philosophisch-religiösen Fundamenten zu entkoppeln. Es sollte bei der Vermittlung dieser und anderer Techniken nicht darum gehen, auf eine transzendente Ausrichtung und diesseitige vergeistigte Vervollkommnung des Individuums abzuzielen, sondern primärpräventive und alltagsgebräuchliche Zielsetzungen zu verfolgen und, nicht zuletzt auch mit Blick auf den Sportunterricht, Körperbezüge herzustellen.
Abb. 2: Kriterien zur schematischen Verortung von Entspannungstechniken
Ein Entspannungstraining für die Schule ist somit eher funktional, z. B. in Kontexten wie Gesundheit, Stressmanagement oder Resilienz, auszulegen, wie dies bei westlich orientierten Techniken, die überwiegend im letzten Jahrhundert entwickelt wurden, in der Regel der Fall ist2. Dabei kann der Entspannungsansatz sowohl systematisch sein, d. h. auf in sich geschlossenen Entspannungssystemen beruhen (z. B. Hatha-Yoga), oder auch kompositorisch sein, d. h. aus verschiedenen Entspannungstechniken zusammengefügt.
Um ein Entspannungstraining für den Sportunterricht, aber auch für andere Schulfächer fruchtbar zu machen, sind schließlich Kriterien wie Entspannungsauslösung, Entspannungsinduktion, Entspannungsaktivität und Entspannungsreaktion aus einer den Körper betonenden Perspektive zu beachten: Bei der Entspannungsauslösung sollten im Kontext von Sport und Gesundheit Verfahren gewählt werden, die im unterrichtlichen Rahmen in der Schule eingeübt, späterhin jedoch selbstinstruktiv in den Alltag integriert werden können. Unter dem Aspekt der Entspannungsinduktion sind Techniken zu bevorzugen, die Bezüge zum Körper aufweisen und die Aufmerksamkeit auf körperliche Prozesse richten (z. B. Schwereübungen beim Autogenen Training). Entspannung durch tatsächlich ausgeführte Körperarbeit verdeutlicht das Kriterium Entspannungsaktivität, mit dem sich körperlich passive von körperlich aktiven Techniken unterscheiden lassen (z. B. Autogenes Training gegenüber der Progressiven Relaxation oder Yoga). Aus bewegungsthematischer Sicht ist schließlich das Kriterium Entspannungsreaktion anzuführen, mit dem reflektiert werden kann, in welchem Ausmaß die jeweilige Entspannungstechnik physische und/oder psychische Auswirkungen haben soll.
1.3 Entspannungstechniken für Schule und Schulsport in der Grundschule
Für Schule und Schulsport in der Grundschule sind aus den vorgenannten Gründen Techniken zu empfehlen, die körperorientiert und bewegungsbasiert ausgerichtet sind, sich somit in Bewegungskontexte einbinden lassen, vergleichsweise leicht lehrbar und lernbar sind und nicht zuletzt auch empirischer Wirkungsprüfung standhalten. Unter diesen Voraussetzungen sind für Kinder in der Grundschule die Progressive Muskelrelaxation (PMR), Qigong und vor allem Hatha-Yoga als Einzeltechniken3 hervorzuheben.
Auch das Autogene Training als körpererspürende Methode gehört dazu, ist aber sehr formelhaft und bewegungslos auszuführen und sollte aus Motivationsgründen grundsätzlich in Fantasiereisen eingebettet sein. Weiterhin sind Techniken wie Eutonie, Massage und Stretching anzuführen, deren Übungen und Bewegungen entspannungsmethodisch umzudeuten und zu entwickeln sind.4 Zu den einzelnen Techniken:
Die Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson (1934/2006) greift die reziproke Wechselbeziehung von Psyche und Körper auf. Entsprechend werden Muskelgruppen des ganzen Körpers nacheinander in einer vorgegebenen zeitlichen Abfolge gespannt und entspannt (z. B. Faust ballen). PMR bietet sich aufgrund seines intensiven Körperbezugs an, und es lassen sich direkte bewegungs- und sportartenorientierte Bezüge herstellen. Im Vergleich zu den meisten anderen Entspannungstechniken sind sehr einfach handhabbare Bewegungsvollzüge gefordert, die leicht erlernbar sind und schnell zu Entspannungsempfindungen führen. Lehrer können sich ohne größeren Aufwand kundig machen und Kurzformen wirksam in den Unterricht einbauen. Da...