„Soll und Haben“ ist ein 1855 veröffentlichter Zeit- und Bildungsroman, der die Romanschreiberkarriere von Gustav Freytag eröffnet. Dieser Roman, der gewisse gesellschaftliche Themen und Probleme von großer Brisanz in Bezug auf die vorherrschenden sozialhistorischen Verhältnisse verarbeitet, hat beim Lesepublikum jener Zeit große Wirkung gefunden und wurde nach kurzer Zeit der Bestseller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser Roman wird vom Freytags zeitgenössischen Romanschreiber Fontane wie folgt bewertet: „Wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir diese bedeutsame literarische Erscheinung die erste Blüte des modernen Realismus nennen.“[66] Diesem Urteil Fontanes, das die hervorragende Begeisterung zusammenfasst, mit welcher dieser Roman vom Lesepublikum rezipiert wurde, stimmt Böschenstein bei, der ihn für ein „konstitutives Moment des realistischen Schreibens“[67] hält.
Die im Roman „Soll und Haben“ erzählte Handlung spielt sich vor einem gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Hintergrund ab, der mehrere Zeichen von Umbrüchen vernehmen lässt. Das im Roman dargestellte Gesellschaftsgebilde besteht aus sozialen Gruppen, nämlich dem Bürgertum, dem Judentum, und dem Adel. Ihre jeweiligen Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, Argumentations- und Denksysteme sowie Vorstellungen und Verhaltensweisen gegenüber den laufenden gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmen den Verlauf der Romanhandlung. Darüber hinaus besteht die Arbeiterklasse, die überhaupt nicht zu Wort kommt und meistens im Handlungsverlauf sehr marginal ist. Um den Leser in den Kontext der laufenden ökonomischen Umbrüche unter dem Vorzeichen einer starken Industrialisierung mit einhergehenden soziokulturellen Umgestaltungen einzuweihen, lässt der Böschenstein Erzähler den Freiherrn von Rothsattel, den Hauptrepräsentanten der adligen Sozialgruppe, von einer
Zeit [sprechen], wo eine Menge von neuen industriellen Unternehmungen aus dem Ackerbau aufschloss, wo durch die hohen Schornsteine der Dampfmaschinen, durch neuentdeckte Kohlen- und Erzlager, durch neue landwirtschaftliche Kulturen große Summen erworben und noch größere Reichtümer erhofft wurden. Die vornehmsten Grundbesitzer der Landschaft standen an der Spitze ausgedehnter Aktienunternehmungen, welche auf einer Verbindung moderner Industrie […] beruhten[68]
Der hier ein auktoriales Erzählverhalten einnehmende Erzähler zieht absichtlich bei dieser Beschreibung der gesellschaftlichen Umwelt das Augenmerk des Lesers auf den Durchbruch des überwuchernden wirtschaftlichen Neuen, das eine kulturelle und soziale Modernisierung zur Folge hat. Das ökonomische Kriterium ist so bestimmend für die Handlung und die gesellschaftliche Stellung der Figuren, dass das Erfassen der dargestellten Gesellschaft notwendigerweise mit einer Inbetrachtziehung von ökonomischen Parametern erfolgen kann, „da beide Aspekte in komplexen wechselseitigen Beziehungen verknüpft sind.“[69]
Derartige Beschreibungen von einer Gesellschaft mit umgestaltenden soziokulturellen Rahmenbedingungen durchziehen den Roman und weisen offensichtlich auf einen Übergangsprozess hin, im Laufe dessen der traditionale Ackerbau rasant durch die Industrien abgelöst wird, die landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse durch Mechanisierung stark modernisiert werden, manche unternehmungslustigen Leute anhand ihrer Investitionen riesige Reichtümer rasch erlangen und das Aktienunternehmen die wirtschaftliche Landschaft tief umgestaltet. Diese emphatische Darstellung der soziokulturellen Romanumwelt lässt offensichtlich einen Durchbruch der modernen Handlungs- und Denkmuster und weiterhin eine Abkoppelung von den traditionalen Verhaltensgewohnheiten erkennen. Da Sozialdiskurse der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit sind, ist es nötig, nach dem sozialgeschichtlichen Kontext der Romanproduktion und dementsprechend nach den Zusammenhängen zwischen dem im Roman dargestellten Gesellschaftsgebilde und den historischen Verhältnissen zu fragen.
Die Modernisierung der Ökonomie im Zuge der Industriellen Revolution mit ihren Kennzeichen wie etwa den neueren Erfindungen in Wissenschaft und Technik, der raschen Entwicklung des Maschinenbaus, den revolutionären Produktionstechniken in mehreren Wirtschaftsbereichen, der anwachsenden Mechanisierung der Landwirtschaft und Modernisierung von Transportmitteln durch die Entwicklung des Eisenbahnbaus hatte bei der einsetzenden zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den qualitativen und quantitativen Aufstieg der ökonomischen Verhältnisse in Deutschland zur Folge. Alle oben angeführten modernen wirtschaftlichen Verhältnisse, die einige Historiker als die „ersten Gründerjahre“ bezeichnet haben, bewirken logischerweise tiefgründige soziale und kulturelle Wandel, die das Leben von Menschen stark prägen und die traditionellen kulturellen Praxen zu verdrängen trachten. Diese Verhältnisse, die die Spezialisten einhellig mit dem Begriff „Modernisierung“ etikettieren, sind offensichtlich durch:
innovative, sich rasch beschleunigende Prozesse in Wirtschaft und Technik bestimmt, die eine radikale Veränderung auch der politischen und sozialen Verhältnisse zur Folge haben […] so dass im Idealfall Modernisierung und Modernität, technischer Fortschritt und demokratische Kultur […] aufeinander verwiesen seien[70]
Das soziale und kulturelle Leben gerät mithin in ein Spannungsverhältnis zwischen der überwuchernden Modernisierung und der immer standhaltenden alten Ordnung, die viele Zeitgenossen nostalgisch aufrechtzuerhalten trachten. Wie sehr mehrere Zeitgenossen den Auswüchsen der immer an Boden gewinnenden Modernisierung zu widerstehen versuchen, formuliert Neumann folgenderweise:
Unsere ganze moderne Wirtschaftsgeschichte ist ein Wachsen der sittlichen Solidarität und Gemeinschaft, ein Wachsen der Gleichmäßigkeit und Continuität (sic!) der ökonomischen und sozialen Existenz. Dass mit dem Übergang zu so viel Neuem auch viel Irrtum und Ausschweifung, viel drückende Überspekulation (sic!), viele Fehler aus Unkenntnis der Verhältnisse verbunden waren –das ist natürlich. Das Gute und Neue will stets erkämpft und mit Lehrgeld bezahlt sein.[71]
Dieser Ansicht, der zufolge das durch die rasante wirtschaftliche Modernisierung hervorgerufene Neue weniger mit großer Begeisterung aber vielmehr mit riesiger Angst vor seinen negativen Begleiterscheinungen wahrgenommen wurde, stimmt Gutzkow, einer der repräsentativsten Denker der Epoche bei, wenn er folgendes sagt: „Unser Volk wird sich seinen innersten Trieb zu einem höheren Kulturleben nicht nehmen lassen, und mag auch die Materie sich mit Dampf, Elektrizität und Börsenschwindel noch so geltend machen.“[72]
Bei näherem Hinsehen stellt Gutzkow mit diesen Worten heraus, dass eine vorbehaltlose Hingabe zum von jenem Modernisierungsschub geprägten Leben kulturschädlich sei und stellt der vorherrschenden Modernität das Konzept ‚höheres Kulturleben’ gegenüber, das überhaupt nicht als Gegensatz des modernen Kulturlebens zu verstehen ist. Unter ‚höherem Kulturleben’ versteht Gutzkow eine Vermittlungs- und Orientierungsinstanz zwischen der herrschenden Modernisierung und der alten Ordnung, denn diese Instanz stellt den Vorteil dar, „die alten Denk- und Wahrnehmungsformen nicht zu strapazieren und dem vom ‚Fortschritt’ schwindligen Zeitgenossen noch einmal den Schein einer gültigen Orientierung [zu] vermitteln.“[73] Das „höhere Kulturleben“, das jede radikale Stellungnahme ausschließlich zugunsten entweder des Modernismus oder des Konservatismus verwirft, verlangt vom Zeitgenossen eine vermittelnde kulturelle Selektion sowohl in dem von Modernisierung markierten soziokulturellen Neuen als auch in dem von bürgerlicher Tradition geprägten Alten.
In diesem soziokulturellen Kontext besteht das Gesellschaftsgebilde hauptsächlich aus drei Sozialgruppen, nämlich dem Bürgertum, dem Adel und dem Proletariat. Darüber hinaus existiert das seit mehreren Jahrhunderten nach Europa eingewanderte Kulturvolk des Judentums, das immer mehr an wirtschaftlichem Einfluss gewinnt. In diesem in sozialgeschichtlicher Hinsicht aus der gescheiterten Märzrevolution von 1848 resultierenden gesellschaftlichen Gebilde sind die Funktionen gruppenweise ausdifferenziert. Laut eines Abkommens zwischen den beiden führenden Sozialgruppen soll dem Bürgertum die ökonomische Führung zukommen und daher tritt es in Konkurrenz mit dem wirtschaftlich erfolgreichen Judentum, während der Adel die politischen Privilegien behalten soll. Allerdings sind die politischen Ansprüche des Bürgertums überhaupt nicht vorbei. Es gibt sich mit diesem Abkommen zufrieden, denn
im Zuge seiner ökonomischen Vorrangstellung hat es sein politisches Gewicht, mit freilich deutlich veränderten Zielbestimmungen, gegen Ende der fünfziger Jahre verstärkt geltend machen, ja eine spezifische...