3. Einstimmung Das zweite Organisationsprinzip
Die »Einstimmungs«-Überlebensstruktur ist wiederum benannt nach der Kernfähigkeit, die sich hier nicht entwickeln konnte. Menschen mit dieser Überlebensstruktur tun sich schwer, sich auf ihre eigenen Bedürfnisse einzustimmen, die eigenen Bedürfnisse zu kennen. Sie zuzulassen und zu äußern ist für sie mit Demütigung, Verlust und Angst vor Ablehnung verknüpft.
Viele Menschen mit dieser Überlebensstruktur verlegen sich dann darauf, für andere da zu sein, weil sie gelernt haben, mit ihrem Dilemma umzugehen, indem sie feine Antennen für die Bedürfnisse anderer entwickeln und ihre eigenen darüber vernachlässigen. Sie sind die ewig Gebenden auf der Welt, die Schulter, an der sich alle ausweinen, sie nehmen streunende Tiere auf und kümmern sich um verlorene Seelen. Sie können sehr gut auf die Bedürfnisse anderer eingestimmt sein, können sich mit ihnen identifizieren und auf sie eingehen – das Problem dabei ist, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht ausreichend beachten. Da sie diese gar nicht ohne Weiteres kennen, landen sie oft in co-abhängigen Beziehungen, in denen sie bei oberflächlicher Betrachtung als Retter fungieren, die gebraucht werden und für den anderen sorgen. Indirekt erfüllen sie sich so ihr unerfüllt gebliebenes eigenes Bedürfnis nach der Erfahrung, sich auf andere verlassen zu können. Mit ihrem Hang zum Umsorgen ist diese Gruppe überproportional häufig in Berufen vertreten, die sich um das Gemeinwohl sorgen, etwa Psychotherapie, Pflege und Sozialarbeit. Die Identifizierung mit der Rolle der Gebenden in Kombination mit einem begrenzten Gespür für eigene Bedürfnisse kann auf längere Sicht zu Burnout und Verbitterung führen.
Die Entstehung der Einstimmungs-Überlebensstruktur
Die Wurzeln dieser Überlebensstruktur sind in den beiden ersten Lebensjahren zu suchen. In diesem Stadium durchlaufen Gehirn und Nervensystem des Babys eine rasante Entwicklung. In diesen beiden ersten Jahren ist der störungsanfällige Organismus des Säuglings völlig von der Fürsorge der Mutter abhängig. Selbstregulierung erlernt das Kind in dieser frühen Zeit über die Bindungsbeziehung zur Mutter. Genährt und reguliert wird das Baby durch einen Blickkontakt, der auf es eingestimmt ist, über das Gestilltwerden, durch Hautkontakt, Berührung und die Geborgenheit, die es erfährt, wenn es im Arm gehalten wird. Im Idealfall wird dabei sein Bedürfnis nach Bindung, nach Nahrung für Körper und Psyche und nach Regulierung auf liebevolle Weise erfüllt.
Unzureichende Einstimmung, Bindungsabbrüche und Entbehrungen
Es gibt in den ersten achtzehn Lebensmonaten etliche Faktoren, die die Entwicklung eines Babys beeinträchtigen können. Sie alle hängen mit fehlender Einstimmung auf das Kind und mit Verlusterfahrungen zusammen. Die frühe Entwicklungsdynamik für diese Überlebensstruktur läuft wie folgt ab:
➥ Das Baby schreit nach seiner Mutter. Kommt sie nicht oder ist nicht in der Lage, es körperlich und seelisch angemessen mit dem zu versorgen, was es braucht, wird es protestieren.
➥ Bleibt die angemessene körperliche und seelische Nahrung weiterhin aus, ist das Baby frustriert und erlebt eine verzweifelte innere Not. Sein Protest eskaliert.
➥ Bleibt die Erfüllung seiner Bedürfnisse chronisch aus, gibt das Baby psychisch und körperlich auf. Dieser primär parasympathisch gesteuerte Zustand, in dem das Baby fortan schlaff in sich zusammensackt, bedeutet eine tiefe Resignation. Aus dieser Resignation entsteht eine psychobiologische Depression und das Gefühl, es sei aussichtslos zu erwarten, dass die eigenen Bedürfnisse je erfüllt würden.
Die Überlebensstruktur, die sich rund um das Thema »Einstimmung« entwickelt, entsteht in Anpassung an Bindungsstörungen, an fehlende Fürsorge und Zuwendung, an Mangel und Entbehrungen. Säuglinge und Kleinkinder, die eine solche Deprivation erfahren, geben es auf, Fürsorge und Liebe einzufordern. Diese Resignation schlägt sich in der strukturellen Anlage ihres Körpers wie auch ihrer Identität nieder.
Nie Erfüllung zu finden ist den meisten Menschen mit dieser Überlebensstruktur zur zweiten Natur geworden, die ja gelernt haben, von ihrer Umgebung nicht mehr haben zu wollen, als da ist, und es gewohnt sind, mit unerfüllten Bedürfnissen zu leben. Eine Klientin brachte ihre eigene Anpassung an den ständigen Mangel einmal sehr treffend auf den Punkt, indem sie sagte: »Ich bin Expertin darin, noch aus nichts etwas zu machen.«
Das Unvermögen, Bedürfnisse und eigenes Wollen zu äußern
Deprivation und Bindungsstörungen signalisieren dem Gehirn und Nervensystem des Babys, dass es Zeit wird, Strategien in die Wege zu leiten, um sein akut bedrohtes Leben zu schützen. Je nach Schweregrad und Dauer der unterbrochenen Versorgung mit Nahrung und Fürsorge verliert das Baby immer mehr das Gespür für die eigenen Bedürfnisse und die Fähigkeit, sie auszudrücken. Der Verlust eines Umfelds, das auf das Kind eingeht, trägt zu einer wachsenden autonomen Dysregulation bei.
➥ Das Baby lernt, seine Bedürfnisse einzuschränken und an das anzugleichen, was verfügbar ist. Diese Strategie ist durchaus nicht unklug, denn wie sonst sollte ein auf seine Umgebung angewiesener Säugling mit einem Defizit zurechtkommen, auf das er keinen Einfluss hat. Anfangs zeigt diese Reaktion ein gesundes Anpassungsvermögen. Bestehen die Defizite in Sachen Nahrung, Fürsorge und Einstimmung allerdings zu lange fort, hat es negative Folgen für die kindliche Entwicklung.
➥ Das Baby beginnt die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Auch diese Reaktion ist durchaus intelligent. Schließlich wäre es zu qualvoll, die eigenen Bedürfnisse weiter zu verspüren, wenn ohnehin nicht zu erwarten ist, dass sie befriedigt werden.
➥ Das Baby schneidet sich von seinen Bedürfnissen ab. Es unterdrückt sie und verliert schließlich den Kontakt zu ihnen. Es reagiert so, als würde es all das nicht mehr brauchen, wird taub für seine Sinneswahrnehmungen und Gefühle. Es hat keinen Zugang mehr zu den körperlichen Signalen, die mit Bindungsbedürfnissen und der benötigten körperlichen und emotionalen Nahrung in Verbindung stehen.
➥ Dysregulierte Mütter benutzen ihre Säuglinge oder Kleinkinder mitunter zu ihrer eigenen Regulierung. Viele Kinder von Müttern, in denen selbst eine verzweifelte innere Not tobt, lernen, Antennen dafür zu entwickeln, was ihre Mutter braucht, statt zu spüren, was sie selbst brauchen. Im Erleben des Babys hat es absoluten Vorrang, die Not der Mutter zu lindern, was dann wichtiger wird, als für sich selbst zu sorgen.
➥ Es entsteht eine gestörte Beziehung zum Essen. Entweder Essen rückt für das Kind zu sehr in den Vordergrund oder es wird vernachlässigt.
Entstehungsfaktoren der Einstimmungs-Überlebensstruktur
➥ Familiäre Traumen, Tod der Mutter oder schwere Krankheit in den beiden ersten Lebensjahren.
➥ Mütter mit massiver eigener Entwicklungsproblematik. Eine Mutter, die selbst nie ein sicheres Bindungsverhalten entwickeln konnte, kann dem Säugling oder Kleinkind keine sichere Bindung bieten. Hat eine Mutter in ihrer eigenen Entwicklung zu wenig Fürsorge und Nahrung aller Art bekommen, fehlen ihr die Ressourcen, um für ihr Baby zu sorgen und es zu nähren. Steht eine solche Mutter vor der Aufgabe, ihrem Baby etwas zu geben, was sie selbst nie erhalten hat, kann es sie in Konflikte stürzen, weil sie unbewusst nicht selbst die Gebende sein will, sondern möchte, dass ihr Baby ihr die Liebe gibt, die sie selbst nie bekommen hat.
➥ Längere Trennung von der Mutter. In diesen frühen Lebensjahren kann eine solche Trennung weitreichende Auswirkungen auf Babys haben und sie dabei beeinträchtigen, eine starke Bindungsfähigkeit zu entwickeln.
➥ Eine emotional unzugängliche Mutter. Die Mutter mag zwar körperlich präsent sein und das Kind angemessen ernähren und versorgen, aber wenn sie dabei chronisch unter Depressionen leidet, von Wut zerfressen wird oder dissoziiert ist, beeinträchtigt dies ihre Fähigkeit, emotional auf das Kind einzugehen und es mit allem zu versorgen, was es nährt.
➥ Familienstreitigkeiten. Scheidung, Arbeitslosigkeit, ein oft abwesender Vater, um nur einige Beispiele zu nennen, können sich stark darauf auswirken, wie zugänglich eine Mutter für das Baby ist.
➥ Heimunterbringung des Kindes oder Freigabe zur Adoption.
➥ Eigene gesundheitliche Probleme des Kindes, vor allem in Verbindung mit Operationen, längeren Krankenhausaufenthalten oder chronischen Erkrankungen im frühkindlichen Stadium. Selbst chronische schwere Koliken können die Bindungsbeziehung stören.
Bewältigung des Defizits an Nahrung für Körper und Seele durch Abschneiden vom eigenen Erleben
Länger anhaltende Störungen des Bindungsverhältnisses und der nährenden Zuwendung bewältigen Babys, indem sie aus dem Kontakt mit dem, was sie erleben, herausgehen. Dies wiederum gefährdet diverse Aspekte ihrer Entwicklung:
➥ Auszudrücken, welche Bedürfnisse es hat und was es haben will, schmerzt das Kind irgendwann zu sehr und wird daher mehr und mehr unterlassen.
➥ Das Kind weiß irgendwann selbst nur noch begrenzt, was es braucht und will.
➥ Das Kind entwickelt nicht die Fähigkeit, anderen zu signalisieren, was es...