Anfang
Das Kursbuch erschien von Juni 1965 bis März 1970 im Suhrkamp Verlag.4 Als Herausgeber fungierte Hans Magnus Enzensberger, Chefredakteur war Karl Markus Michel. In den fast fünf Jahren, in denen die Zeitschrift im Suhrkamp Verlag erschien, begleitete sie die Formierung und Mobilisierung sowie den Zerfall der deutschen 68er Bewegung. Das Kursbuch war ihr Forum, der Herausgeber ein Vermittler zwischen den internationalen 68er Bewegungen und teilweise selbst Akteur, indem er issues setzte, die von Bedeutung für den globalen Protest waren. Enzensberger und Michel griffen Ideen und Vorstellungen, konkret: Texte wichtiger Vordenker und Ideengeber der internationalen 68er Bewegungen auf, rekonstruierten sie, spitzten sie zu und dynamisierten damit auch einen Prozess, den wir als Mobilisierungsprozess der 68er Bewegung beschreiben. Der italienische Verlag Mondadori identifizierte die Zeitschrift sogar mit der Bewegung und veröffentlichte 1969 eine über 270 Seiten umfassende Kursbuch-Anthologie unter dem Titel Kursbuch. Die Außerparlamentarische Opposition.5
Der Verleger Siegfried Unseld, seit 1959 Nachfolger Peter Suhrkamps im Frankfurter Verlag, spielte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, eine Literaturzeitschrift zu verlegen – nicht zuletzt, um die eigenen Autoren zu fördern. Darauf ließen sich weder Uwe Johnson, noch der Freund und Schachpartner Martin Walser ein. Hans Magnus Enzensberger nahm das Angebot an, hatte jedoch von Anfang an anderes im Sinn als sein Verleger. Im September 1964 schrieb Enzensberger an seinen Freund Alfred Andersch von der norwegischen Insel Tjøme, wo er mit seiner ersten Frau Dagrun und der gemeinsamen Tochter Tanaquil wohnte, über die Ziele, die er mit der geplanten Zeitschrift verband:
»über meine quasi-zeitschrift haben wir nun nicht reden können. das erste heft soll im märz erscheinen. ich hatte eine zeitschrift im sinn, darin schriftsteller über realitäten schreiben, also nicht bücher sondern wirklichkeit ›rezensieren‹; aber es wird wohl doch nur eine gute literarische zeitschrift daraus werden – denn die autoren interessieren sich kaum für die wirklichkeit, sondern nur für ihr ›oeuvre‹. das sind jedenfalls meine ersten eindrücke. ›von politik‹, antworten sie mir, ›verstehen wir nichts.‹ das schlimme ist, daß sie ganz recht haben: sie verstehen wirklich nichts davon.«6
Doch wie Enzensberger bereits im August des Jahres an Hans Paeschke, den Herausgeber des Merkur schrieb, war er »entschlossen, es notfalls ohne ja gegen die vielgefragten autoren zu machen. das bedeutet, daß ich selber schreiben muß.«7 Natürlich kam es nicht zu dieser one-man-show, wie wir heute wissen, auch wenn Enzensberger immer wieder selbst für seine Zeitschrift zur Feder griff. Die Autoren, die in den folgenden Jahren Beiträge für das Kursbuch schrieben, kamen – ganz im Gegensatz zu Enzensbergers pessimistischer Einschätzung aus dem Brief an Andersch – sehr wohl einer spezifischen Aufgabe des Schriftstellers nach: einer politischen. In einem performativen Akt arbeiteten die Autoren, die Texte für die Zeitschrift beisteuerten, damit – vielleicht ohne es zu wissen oder gar zu wollen – an einer Redefinition des Schriftstellers mit, die das politische Engagement zur conditio sine qua non des Schreibens in den Jahren um 1968 erklärte. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kursbuchs, seines Herausgebers, der 68er Bewegung und den Redefinitionen nicht nur der Rolle des Schriftstellers und der Funktion der Literatur, sondern auch der des Mandats des Intellektuellen zu erklären, ist das zentrale Erkenntnisinteresse dieses Buches.
Den Ausgangspunkt bilden das Zeitschriftenprojekt Kursbuch und sein Herausgeber. In einer sehr interessanten und zeitgenössischen Analyse von Kursbuch 11 verwies Karl Heinz Bohrer 1968 auf das Exzeptionelle an der Position Hans Magnus Enzensbergers im bundesrepublikanischen literarischen Feld der sechziger Jahre. Mit der öffentlichen Distanzierung Günter Grass’ von den »radikalen Studenten« sei deutlich geworden, was, so Bohrer,
»man seit dem 2. Juni 1967 spätestens schon wußte: Es gab außer moralischen Zusprüchen keine politische Resonanz bei Westdeutschlands Literaten. […]8 Es gibt zu dieser Regel drei Ausnahmen: Hans Magnus Enzensberger, Reinhard Lettau und Peter Weiss.«9
Enzensberger war derjenige unter den drei von Bohrer Genannten, der, erstens, das Verhältnis von Literatur und Politik am stärksten von allen thematisierte, der, zweitens, als einziger der dominierenden Schriftsteller in den sechziger Jahren eine eigene Zeitschrift hatte, der damit, drittens, also nicht nur seine eigene Textproduktion, sondern eine Auswahl dessen, was er für wichtig hielt, verbreiten konnte, der, viertens, sein akkumuliertes international valides soziales Kapital genau für dieses Projekt einsetzen konnte, wenn es darum ging, Texte internationaler Autoren zu akquirieren, der, fünftens, ein hohes Maß symbolischen Kapitals akkumuliert hatte (durch sowohl Publikums- als auch Kritikererfolg, flankiert durch Auszeichnungen der maßgeblichen Konsekrationsinstanzen), und der, sechstens, auch durch die Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag, dem er als Autor seit 1957, zudem 1960 und 1961 als Lektor, danach als freier Berater verbunden war, über abgesichertes ökonomisches Kapital verfügen konnte, das man für ein Projekt wie das Kursbuch benötigte.
Den Autor dieser Zeilen hat stets der verengte Blick gestört, den einige Zeitzeugen, aber auch die Nachgeborenen auf dieses Kapitel deutscher Zeitschriften- und Intellektuellengeschichte hatten. Die Trennung des Kursbuchs vom Suhrkamp Verlag wurde entweder mit Heft 15 begründet, das – angeblich10 – den Tod der Literatur verkündet habe, was wiederum Siegfried Unseld so gestört habe, dass er diese Zeitschrift nicht länger in seinem Haus habe dulden wollen; oder aber die Ankündigung von Kursbuch 21 über Kapitalismus in der Bundesrepublik wurde verantwortlich gemacht für den Bruch zwischen Verleger und Herausgeber, nicht selten verknüpft mit der – teilweise verschwörungstheoretischen – Pointe, die Schweizer Anteilseigner, die Gebrüder Reinhart, hätten Unseld zu einer Trennung gedrängt. Beide Erklärungen sind in dieser Ausschließlichkeit und Zuspitzung falsch. Der Blick in die Quellen verrät, dass schon vor Kursbuch 15 die ersten Ausgründungspläne geschmiedet wurden, und zwar schon 1967. Er verrät aber auch, dass noch bis 1970 von beiden Seiten ernsthaft eine weitere Zusammenarbeit erwogen und auch erhofft wurde. Eine Analyse, die den komplexen Verläufen der Auseinandersetzungen zwischen Verleger und Herausgeber gerecht werden will, muss mindestens vier Problemdimensionen akzentuieren: Erstens, wie stand die Entwicklung der Zeitschrift mit der Entwicklung der 68er Bewegung in Verbindung, zweitens, wie verknüpfte sich dieses Bedingungsgeflecht mit den Debatten über eine Redefinition von Literatur, drittens, wie hing dieses Problembündel zusammen mit der Neukonzeption des Mandats des Intellektuellen, und schließlich viertens, was folgte aus diesen Entwicklungen und Debatten für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Politik in den sechziger Jahren.
Dass Schriftsteller sich eingemischt haben in Dinge, die sie nichts angehen, dass sie Petitionen geschrieben, Politiker kritisiert und sich mit sozialen Bewegungen verbündet haben, können wir seit der Geburt des Intellektuellen im achtzehnten Jahrhundert beobachten. Zu Beginn der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts aber kam mit bestimmten Ereignissen und, so die These, dem letzten Aufbäumen der Moderne, eine neue Qualität in diesen Prozess. Der Algerienkrieg steht am Anfang der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Französische Schriftsteller und Intellektuelle11 begehrten auf und kritisierten den Krieg. Sie riefen mit einem Manifest zur Desertion auf. Dieser Aufruf veranlasste den Staat zu harten Restriktionen gegen die Unterzeichner. Dies wiederum hatte eine internationale Solidarisierung zur Folge, die mit Solidaritätsmanifesten begann und hinführte zur Idee und Planung einer internationalen Zeitschrift, zeitweilig Revue Internationale genannt, in der Franzosen, Italiener und Deutsche gemeinsam versuchten, eine neue Art der Literatur und eine neue Art der Kritik zu etablieren, die der wahrgenommenen Realität in ihren Augen adäquat erschien: eine Literatur und eine Kritik mithin, die sich Phänomenen wie Krieg und Repression in spezifischer Art und Weise zu nähern erlaubte. Dieses Projekt, das scheiterte, soll im Zentrum des zweiten Kapitels stehen.
Nach dem Scheitern der Revue Internationale bemühte sich Enzensberger darum, in der Bundesrepublik ein Forum für eine Öffentlichkeit zu etablieren, die, in den Augen der Kursbuch-Macher, sich als Gegenöffentlichkeit zu einer dominierenden manipulierten Öffentlichkeit und der herrschenden veröffentlichten Meinung verstand. Noch im Jahr 1970 war das Konzept der Gegenöffentlichkeit die leitende Idee für das Kursbuch. In einem Brief an einen Autor, der ein Manuskript eingesandt hatte, antwortete der Redakteur auf die vom Autor formulierte Gegenüberstellung von Kursbuch und Öffentlichkeit, dass diese Gegenüberstellung sehr fragwürdig sei, »denn das Kursbuch ist so gut und so schlecht wie die Leute die darin schreiben, und diese Leute sind ein Teil der Öffentlichkeit, jedenfalls jener Öffentlichkeit, für die das Kursbuch ›veröffentlicht‹ wird«.12 Im dritten Kapitel...