Von Marken und Platzhirschen
Eigentlich hätte dies ein Flug wie jeder andere sein können, wie ihn Edgar Geffroy und Benjamin Schulz zigmal pro Jahr erleben. Doch einer wie heute hat so noch nie stattgefunden, seit sich die beiden kennen. Zwar ist jeder von ihnen oft mit dem Flieger zu Kunden oder auch als Vortragsredner zu Events unterwegs, allerdings wäre es eher Zufall gewesen, wenn beide in derselben Maschine gesessen hätten. Heute ist das Absicht, herbeigesehnt. Ja, herbeigesehnt. Und zwar von beiden.
Sie nehmen sich eine Auszeit und fliegen nach Mallorca. Für ein paar Tage. Tatsächlich … ein paar Tage, in denen sie sich Abstand vom Alltag gönnen.
Beide haben einen anspruchsvollen Job. Die Tage von Edgar sind normalerweise vollgepackt mit Terminen, Telefonaten, Reisen, Strategiegesprächen bei Kunden und vielem mehr. Außerdem ist er auch oft unterwegs. Zu gefragt ist seine Vordenker-Strategie bei allem, was er anpackt. Zu gefragt ist seine Haltung im Verkauf, die den Kunden in einen völlig anderen Blickwinkel rückt.
Bei Ben sieht das nicht anders aus. Als Troubleshooter und gefragter Sparringspartner ist er für seine Kunden da, denn seine Meinung, seine Expertise und seine Hilfe im Personal Branding sind heiß begehrt. Um den Anforderungen an seine Person gerecht zu werden, legt er oft einen sprichwörtlichen Spagat hin. Zumal er mit seiner Agentur werdewelt auch noch ein 25-köpfiges Team führt.
Die Mannschaft ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Was einmal als kleine Allroundagentur angefangen hatte, entwickelte sich zu einer Marketingagentur, die sich nicht erheblich von den Wettbewerbern unterschied. Als Ben aus persönlichem Interesse heraus eine Coaching-Ausbildung absolvierte, kam gleich die erste Anfrage an ihn heran, ob er auch Coaches vermarkten würde. Damit hatte er einen Markt entdeckt und war einer der Ersten, die die Vermarktung von »Weiterbildnern« mit ins Portfolio aufnahmen. Seine Herangehensweise an die Themen dieser neuen Klientel war damals etwas Besonderes auf dem Markt und das Ergebnis seiner Arbeit sprach sich schnell herum. Mehr Coaches kamen zu ihm und seiner Agentur. Bald gehörten auch Trainer, Berater und Speaker zum Kundenkreis von werdewelt. Die eigene Positionierung wurde geschärft und Personal Branding – oder auch Personenmarketing – ist heute das Spezialgebiet um Ben und sein Team.
Klar ist: In Sachen Personal Branding herrscht immer noch zu viel Nichtwissen. Es gibt zu viele Fragen. Zu viel Inkompetenz.
Edgar hat die kürzere Anreise zum Abflughafen Düsseldorf und wartet schon in der Lounge auf seinen Freund. Ben – wie immer in Eile – erreicht mit ersten Schweißperlen des Tages auf seiner Stirn ihren Treffpunkt. Mit einem tiefen Atemzug stellt er sein Handgepäck auf dem Boden ab und umarmt Edgar mit sichtlicher Erleichterung.
»Hey, was ist los, alter Freund? Du siehst so gehetzt aus«, wird Ben von ihm begrüßt.
»Boah, wenn du wüsstest … die letzten Tage, ey, das war der Horror«, entgegnet Ben mit einem Kopfschütteln und wischt sich über die Stirn.
»Komm, lach mal, freu dich, wir fliegen nach Malle! Und nehmen uns ein paar Tage frei. Lass uns das genießen.«
Die beiden unterhalten sich noch eine Weile über die Erlebnisse der letzten Tage und lassen mit jedem ausgetauschten Wort den Stress der vergangenen Woche hinter sich. Dann ertönt der Boarding-Aufruf für Air Berlin Flug YN928B nach Palma.
Je näher sie der Insel kommen, desto mehr lockert sich die Wolkendecke auf. Das trübe Wetter in Deutschland haben sie nun endlich hinter sich gelassen, und Palma begrüßt seine Gäste mit Sonne und schon frühlingshaften Temperaturen an diesem Tag im späten Februar. Die erste Brise mit dem typischen Meersalzduft weht den beiden entgegen. Sie bleiben kurz stehen und inhalieren tief.
»Wie hab ich das vermisst!«, stellt Edgar fest. Sein letzter Besuch hier ist nun schon fast ein halbes Jahr her.
Ben kann ihn gut verstehen. »Irgendwie sollten wir das öfter machen«, blinzelt er seinen Freund an und grinst. Der weiß genau, dass Ben damit nicht scherzt, und lacht beherzt los. »Ja klar … warum nicht? Kann nur gut für uns sein, mal rauszukommen.«
Ben wirkt nun nicht nur deutlich relaxter – in der Tat ist er es auch. Er weiß, dass die Agentur ein paar Tage auch ohne ihn läuft – obwohl er es nicht lassen können wird, zwischendurch seinen Geschäftspartner anzurufen und Wichtiges kurz abzusprechen. Egal … jetzt ist er hier, die Sonne lacht, Edgar ist ohne Stress dabei und sie können ihren Gedanken einfach mal freien Lauf lassen.
Für Edgar ist Mallorca ein Ort zum Auftanken, an den es ihn nicht nur zu geschäftlichen Terminen zieht. Aus diesem Grund kennt er die Insel sehr gut und beschließt, Ben direkt nach ihrem Check-in im Hotel in Camp de Mar noch ein wenig die Gegend zu zeigen. Er hat einen Lieblingsort, der in nur wenigen Minuten mit dem Auto oder auch in etwa einer halben Stunde Fußmarsch zu erreichen ist. Sie entschließen sich, zu Fuß dorthin aufzubrechen.
Der Weg führt zuerst immer leicht bergab und zwischen einigen landestypischen Häusern durch, die zum Teil anscheinend nicht bewohnt sind. Die Fensterläden sind geschlossen und Bewohner sind nicht zu sehen. Bei anderen wiederum stehen Autos im kleinen Hof. Nur recht selten werden die beiden von Autos überholt, während sie auf dem schmalen Seitengehweg Richtung Andratx laufen.
Je näher sie dem malerisch gelegenen Ort direkt am Meer kommen, desto mehr Leben ist um sie herum. Mit jedem Schritt öffnet sich ihnen mehr der grandiose Blick auf den Hafen von Andratx, in dem zur Rechten eine Reihe kleiner Boote liegt – zum Teil mit Planen abgedeckt –, die sich wie mehrere künstlerische Perlenketten aneinanderreihen. Gleich daneben erheben sich Felsen mit buchstäblich hineingebauten kleinen weißen Häusern. Linker Hand des Hafens führt eine Straße in leichtem Bogen an Restaurants vorbei, die zum Teil auf der gegenüberliegenden Seite mit Sitzplätzen ausgestattet sind. Etwa in der Mitte des Hafenbeckens ist ein Leuchtturm zu sehen, hinter dem sich das Meer zu öffnen scheint und nur noch von einer steinernen Landzunge zur Linken unterbrochen wird.
Edgar und Ben laufen zum Wasser und bleiben eine Weile stehen. Sie lassen für einen Moment einfach nur ihre Blicke schweifen. Ben nimmt einen tiefen Atemzug und lässt die Luft nur ganz langsam wieder entweichen.
»Herrlich, oder?«, fragt Edgar.
»Das hat schon was«, entgegnet Ben zustimmend. »Ich kann verstehen, warum du so gerne hierherkommst.«
Sie setzen ihren Gang fort und schlendern die Promenade entlang, wo sich Restaurants, Cafés und Bars aneinanderreihen. Hie und da sitzen Leute. Die Luft ist angenehm mild und die strahlende Sonne tut ihr Übriges, um zum Draußen-Verweilen einzuladen. Edgar erzählt Ben über seinen Aufenthalt hier im Spätsommer letzten Jahres. Zu dieser Jahreszeit waren die Lokale brechend voll. Allerdings zu einem späteren Tageszeitpunkt, denn am späten Nachmittag trudeln Gäste hier erst ganz langsam ein. Doch an diesem Tag im Februar sieht das Ganze ein wenig anders aus.
Edgar führt Ben weiter am Hafen entlang. Sie gehen ganz langsam. Lassen die Zeit einfach mal unberücksichtigt. Dabei tauschen sie viel Privates aus. »Lass uns mal dort hingehen«, meint Edgar plötzlich und deutet links in die enge Gasse hinein, die zu beiden Seiten von typischen mallorquinischen Häuserfassaden eingegrenzt wird und die sie beinahe schon passiert hatten. Sie biegen in das leicht ansteigende Gässchen ein und Edgar deutet zu einer weißen Sitzgruppe, die etwas weiter oben rechts an einer der Hauswände steht. Als sie näher kommen, erkennen Sie, dass die Möbel und Tische alle aus Europaletten gefertigt sind, die allesamt weiß angestrichen und mit gemütlich aussehenden Sitzen und Kissen ausgestattet sind. Sehr originell und einladend.
»Hier sollten wir mal an einem Abend essen gehen«, schlägt Edgar vor. »Ich kenne den Besitzer gut und das Essen ist ein wenig außergewöhnlicher. Schau mal da.« Er deutet zur gegenüberliegenden Seite, wo der gleiche Schriftzug angebracht ist wie hier, wo sie gerade stehen.
»Das ist die Küche.« Mit einem überraschten Lächeln auf dem Gesicht geht Ben die wenigen Schritte zur anderen Seite und steht nun vor einem der beiden großen bogenförmigen, bodentiefen Fenster, hinter dessen Scheibe drei Köche offenbar mit Vorbereitungen beschäftigt sind.
»Normalerweise sind hier auch noch Sitzplätze«, erklärt Edgar und deutet auf die Fläche vor den Fenstern. »Lass uns mal reingehen. Vielleicht können wir gleich einen Tisch für morgen oder übermorgen reservieren. Wollen wir?« Sagt’s und geht zurück zum Eingang auf der Lokalseite.
Ben findet es gut, mit Edgar jemanden zu haben, der gute Tipps zu netten Lokalen hier geben kann. Schließlich ist er jetzt zum ersten Mal überhaupt auf Mallorca.
In Anbetracht der frühen Stunde sind noch keine Gäste anwesend. Eine Frau steht hinter der Bar zur Linken und poliert ein Weinglas. Aus dem Hintergrund kommt der Restaurantbesitzer mit einem Tablett voller frisch gespülter Weingläser. Als er Edgar sieht, stellt er es schnell auf dem Tresen ab und begrüßt ihn mit einem herzlichen Händedruck, danach auch Ben. Sie unterhalten sich eine Weile und Edgar erklärt, dass er mit Ben hier ein paar Tage ›runterfahren‹ will. Auf seine Frage nach einer Reservierung widmet sich der Restaurantbesitzer seinem Terminbuch, das bei der Bar gleich neben dem Telefon liegt. Während dieser nun nach einem freien Tisch sucht, beobachten Edgar und...