Die kühne und herrliche Tochter
In der Franz-Joseph-Straße, in der sich die Kerschensteiner Schule befand, die Therese Giehse von 1908 bis 1914 besuchte, lebte damals die Familie Mann mit ihren beiden Kindern Erika und Klaus. Erika Mann wurde am 9. November 1905 geboren. Im selben Jahr, am 11. Februar, hatten ihre Eltern, Thomas Mann und Katia Pringsheim, geheiratet. Thomas Mann war neunundzwanzig, Katia einundzwanzig Jahre alt. Gleich nach der Hochzeit war das junge Ehepaar in eine große Siebenzimmerwohnung in der Franz-Joseph-Str. 2 gezogen.
1905 war also besonders für Katia ein aufregendes Jahr: Aus der verwöhnten einzigen Tochter, die inmitten von Brüdern in einer sehr begüterten Familie aufwuchs, war innerhalb eines Jahres eine Ehefrau und Mutter geworden. Letzteres gegen den Rat ihrer Ärzte, die ihr aus gesundheitlichen Gründen empfohlen hatten, nicht zu früh Kinder zu bekommen. Die Heirat bedeutete für Katia keinesfalls, dass sie den Tochterstatus ablegte: Sie blieb auch als Frau Mann die Tochter Pringsheim, der jeder Wunsch erfüllt wurde. Katia war doppelt abgesichert: Der Ehemann war ein erfolgreicher, gut verdienender Schriftsteller. Und wenn es einmal knapp wurde, standen die Eltern parat.
Die Eltern, das waren der Mathematikprofessor und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität, Alfred Pringsheim und seine Frau Hedwig, geborene Dohm. Alfred Pringsheim stammte aus einem äußerst vermögenden Elternhaus, das es ihm unter anderem ermöglichte, für seine Familie ein prächtiges Renaissance-Palais in der Arcisstraße zu errichten. Hedwig, eine gebürtige Berlinerin, war die älteste Tochter der bekannten Feministin Hedwig Dohm. Sie hatte eine Zeit lang der berühmten Theatergruppe »Die Meininger« angehört.
Gleich in den ersten Ehejahren wurden drei Söhne geboren, 1883 kam überraschend ein Zwillingspaar zur Welt, Klaus und Katharina, genannt Katia. Sie wurden 1885 protestantisch getauft. Allerdings legte der Vater seinen jüdischen Glauben offiziell nie ab und ließ sich auch nicht taufen, um seine Karriere zu sichern, als es ihm nahegelegt wurde. Nicht weil er so tief im Glauben verhaftet war, sondern weil es ihm sein Stolz verbot. Er wollte sich von niemandem vorschreiben lassen, was er zu tun hatte.
Im Gegensatz zu seiner späteren Frau betrachtete Thomas Mann deren Familie und folglich auch sie selbst durchaus als jüdisch: eine reiche, einflussreiche jüdische Familie in München, deren Salon die Eintrittskarte in die gehobene Kulturszene bedeutete. Katia hatte anscheinend gezögert, den Heiratsantrag anzunehmen, wie aus Thomas Manns Worten hervorgeht, er habe kaum Hoffnung, dass dieses »fremdartige, gütige und doch egoistische, willenlos höfliche kleine Judenmädchen« das »Ja« über ihre Lippen bringen würde. Doch da täuschte er sich.
Zum ersten Mal gesehen hatte er sie schon viele Jahre zuvor in Lübeck, als er noch zur Schule ging. In einer Zeitung war das Gemälde Kaulbachs, das die fünf Pringsheim-Kinder in Pierrot-Kostümen zeigte, abgebildet. Es hatte ihm so gut gefallen, dass er es aufhob.
Nur ein Jahr vor dem Schicksalsjahr 1905 hatte der aus Lübeck stammende Thomas Mann die Villa der Pringsheims in der Arcisstraße 12 zum ersten Mal betreten. In der Literaturszene war er kein Unbekannter mehr. Bereits als Sechsundzwanzigjähriger hatte er sich mit dem 1901 veröffentlichten Roman Buddenbrooks einen Namen als Schriftsteller gemacht. Darin hatte er seine Familiengeschichte und das sie umgebende Beziehungsgeflecht dergestalt verarbeitet, dass er sich die Feindschaft seiner Heimatstadt zuzog.
Thomas Mann wurde 1875 geboren. Sein Vater, Thomas Johann Heinrich, Kaufmann und Senator für Wirtschaft und Finanzen, hatte den Familienbetrieb heruntergewirtschaftet, was allerdings erst nach seinem Tod – er starb 1891 sehr plötzlich – bekannt wurde. Die Mutter Julia war eine geborene da Silva-Bruhns, ihre Mutter stammte aus Brasilien. Nach dem Tod ihres Gatten zog Julia Mann mit ihren jüngeren Kindern – Julia, Carla und Viktor – 1893 nach München. Die beiden älteren Söhne, Thomas und Heinrich, folgten später.
München übte am Ende des 19. Jahrhunderts eine enorme Anziehungskraft auf Künstler aus. Gefördert durch das großzügige Mäzenatentum des Prinzregenten Luitpold, genoss die Kunst hohes Ansehen in der Stadt. Das politische Klima galt als vergleichsweise liberal, kritische Zeitungen siedelten sich an, allen voran die Jugend. Diese, 1896 von Georg Hirth gegründete »Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben«, die ursprünglich »Leben« heißen sollte, wurde schon bald zum wichtigsten Sprachrohr der vielfältigen Münchner Kunst- und Literaturszene. Sie war Teil und Namensgeberin einer Bewegung, die ganz Europa erfasst hatte: Art nouveau in Frankreich, Modern Style in England, Sezession in Österreich und Jugenstil in Deutschland. Die Jugend enthielt nicht nur kritisch-satirische Artikel, die mit der Obrigkeit, allen voran Kaiser Wilhelm II., hart ins Gericht gingen, Althergebrachtes und die »Vergreisung« der Gesellschaft ablehnten. Auf den Titelbildern wurden Frauen auf ganz neue Art und Weise präsentiert, zum Beispiel als wilde reitende Amazonen oder elegante Golfspielerinnen, die gerade zum Schlag ausholen.
Einer der einflussreichsten Philosophen dieser Epoche war Friedrich Nietzsche. Seine »Umwertung aller Werte« betraf auch die Abkehr vom Alter als Inbegriff von Erfahrung und Reife hin zur Jugend. Vom »Leben« sprach man in der Aufbruchstimmung der Jahrhundertwende emphatisch und mit viel Pathos. Die Bewegung bildete einen Gegenpol zur Religion: Der Blick sollte auf das Diesseits gerichtet, die Jenseitsvertröstung aufgehoben werden. Was zählte, war die unmittelbare Gegenwart, der Augenblick. »Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest«, notierte die Malerin Paula Modersohn-Becker am 26. Juli 1900 in ihrem Tagebuch. Es war das Lebensgefühl einer ganzen Generation!
Überschwänglich feierte die Schwabinger Boheme das Leben: Der Dichter Karl Wolfskehl schrieb über München, sie sei neben Paris die einzige Geisteshauptstadt »mit nach allen Seiten offenen Toren, alles aufnehmend, allverstehend und allbildend«. Dem schloss sich Thomas Mann in seiner Novelle »Gladius Dei« an, deren erster Satz den berühmten Ausspruch enthält: »München leuchtete!«
Zur Jugend gesellte sich der Simplicissimus, die von Albert Langen und Thomas Theodor Heine gegründete satirische Wochenzeitschrift. Die erste Ausgabe erschien am 4. April 1896. Die künstlerische Gestaltung lag bei Olaf Gulbransson und Thomas Theodor Heine, der auch das Wappentier entwarf: eine zähnefletschende rote Bulldogge auf schwarzem Grund. Beiträger und Mitarbeiter waren neben Thomas und Heinrich Mann unter anderem Frank Wedekind, Rainer Maria Rilke, Max Halbe, Ludwig Thoma, George Grosz, Heinrich Zille und Hugo von Hofmannsthal. Der »Simplicissimus« stellte die herrschende Ordnung infrage und attackierte die bürgerliche Moral, die wilhelminische Politik, die Kirche, das Militär, die Beamten. Des Öfteren wurden ganze Ausgaben konfisziert, das Blatt war in Österreich-Ungarn verboten, Albert Langen, Thomas Theodor Heine und Frank Wedekind wurden der Majestätsbeleidigung angeklagt und saßen zeitweise im Gefängnis. Und noch eine weitere wichtige Zeitungsgründung erfolgte 1899 in München: Rudolf Alexander Schröder, Alfred Walter Heymel und Otto Julius Bierbaum riefen Die Insel ins Leben, aus der später der Insel Verlag hervorging. Der ehrgeizige Schriftsteller Thomas Mann war also in mehrfacher Beziehung am richtigen Platz und manifestierte das noch mit seiner Heirat.
Trotz frauenbewegter Großmutter war für Katia die weibliche Unterordnung unter den Willen ihres Mannes selbstverständlich. Und auch dass ein Sohn mehr gilt als eine Tochter. Daher war die Enttäuschung groß, als ihr erstes Kind ein Mädchen ist. »Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam, warum, weiß ich nicht«, gesteht sie unumwunden in ihren »ungeschriebenen Memoiren«. Ihre Erstgeborene nannte sie nach ihrem Lieblingsbruder Erik.
Thomas Mann schrieb seinem Bruder Heinrich im November 1905 ohne Umschweife, wie enttäuscht er sei, eine Tochter bekommen zu haben. Ein Sohn sei für ihn »poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst«. Die Großmutter seiner Frau, Hedwig Dohm, reagiert auf seine Klagen mit den Worten, er sei ein »verdammter alter Anti-Feminist«. Damals wusste noch niemand, dass die unerwünschte Tochter einmal sein »kühnes und herrliches« Lieblingskind werden würde.
Doch zunächst bestimmte die Bevorzugung des männlichen Geschlechts weiterhin das Frauenbild der Familie Mann. Rückblickend berichtete die jüngste Tochter Elisabeth dem Filmregisseur Heinrich Breloer bei den Dreharbeiten zu seinem Film über »Die Manns«, sie habe von jeher gewusst, dass sie als Frau im Musikbetrieb niemals Erfolg haben, also nie eine große Konzertpianistin werden würde, sondern dass es nur für den Hausgebrauch reichte. Die Eltern hätten ihr und ihren Geschwistern nicht bloß beigebracht, dass es Mädchen in der Kunst nie so weit bringen würden wie Jungen, es sei für sie selbstverständlich gewesen. Gerade das habe sich fest in ihr eingeschrieben.
Ein Jahr nachdem Erika das Licht der Welt erblickt hatte, folgte endlich der ersehnte Sohn: Am 18. November 1906 wurde Klaus geboren. Erika und Klaus waren nahezu von Anfang an unzertrennlich, bezeichneten...