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Lexikon der populären Ernährungsirrtümer

Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker - Aktualisierte Neuausgabe

AutorSusanne Warmuth, Udo Pollmer
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783492974417
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Zu viel, zu süß, zu fett, zu salzig - die Verbote der gesunden Ernährung machen die Lust aufs Essen nicht selten zum Frust. Dabei beruhen viele dieser Ernährungsweisheiten auf Mißverständnissen, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten, sagen Udo Pollmer und Susanne Warmuth. In der um viele Stichworte aktualisierten Neuausgabe ihres Bestsellers werfen sie einen kritischen Blick auf unsere liebgewonnenen Ernährungsrituale, untersuchen den Wahrheitsgehalt von Kampagnen der Nahrungsmittelindustrie und nehmen zahlreiche andere Fehlinformationen aufs Korn: von A wie Alkohol bis Z wie Zucker.

Udo Pollmer, geboren 1954, gilt als Deutschlands renommiertester und streitbarster Ernährungsspezialist. Seit 1995 ist er wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften und veröffentlichte die Bestseller »Lexikon der Ernährungsirrtümer«, »Lexikon der Fitneß-Irrtümer«, »Eßt endlich normal« und »Pillen, Pulver, Powerstoffe«. Er lebt bei Heilbronn.

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Leseprobe

Abnehmen


Wer abnimmt, tut seiner Gesundheit etwas Gutes


Gebetsmühlenhaft ermuntern, drängen, beschwören Ärzte und Ernährungsexperten mehr oder weniger dicke Zeitgenossen, ihrer Gesundheit zuliebe abzuspecken. Schließlich gilt Übergewicht als klassischer Risikofaktor für eine ganze Reihe gefürchteter Zivilisationsleiden. Das »Deutsche Ärzteblatt« offeriert eine lange Liste von Krankheiten, die mit Übergewicht korrelieren können: »Übergewicht und Adipositas [Fettsucht] begünstigen die Entstehung kardiovaskulärer [Herz-Kreislauf-] Risikofaktoren … Das gehäufte Auftreten kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Hypertonie [Bluthochdruck], Hyperlipidämie [hohe Blutfettwerte] und Diabetes mellitus [Zuckerkrankheit] erklärt die erhöhte Inzidenz [das vermehrte Auftreten] arteriosklerotischer [auf Gefäßverengungen zurückzuführende] Komplikationen wie Herzinfarkt und Schlaganfall. Außerdem ist Übergewicht mit anderen Krankheiten wie Gallensteinerkrankungen, Venenleiden, Herzinsuffizienz [Herzschwäche], degenerativen Gelenkerkrankungen [Abnutzung], Gicht und bestimmten Karzinomen [Krebs] assoziiert. Diese Begleit- und Folgeerkrankungen haben eine Verkürzung der Lebenserwartung in Abhängigkeit von Ausmaß und Dauer zur Folge.«[1]

Das klingt bedrohlich. Klar doch, daß jeder, der nicht krank werden oder gar sterben will, etwas gegen seinen im übrigen unästhetischen Bauch oder Reithosenspeck unternehmen sollte. Dabei wird eine ganz entscheidende Frage übersehen: Sind abgespeckte Dicke gesünder als dicke Dicke? Ganz abgesehen von den möglichen Nebenwirkungen einer Abmagerungskur. Das Ziel »Schlankheit« scheint so positiv besetzt zu sein, daß kritische Fragen außerhalb unserer Denkgewohnheiten liegen. Deshalb wollen wir sie hier stellen.

Die bekannteste Nebenwirkung des Abspeckens mit Diäten gleich welcher Art ist der Jo-Jo-Effekt, der mit schöner Regelmäßigkeit zu einem höheren Endgewicht führt. Immerhin hat sich dieser Effekt in der Gemeinde herumgesprochen. Weit seltener erfahren Diätwillige, welche schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen das Abnehmen für sie haben kann – unabhängig davon, ob sie das mühsam errungene niedrigere Gewicht auf Dauer halten oder nicht: Herzrhythmusstörungen bis hin zum Infarkt, Gallensteinbildung, Osteoporose und Knochenbrüche, erhöhter Harnsäurespiegel, Störungen der Leberfunktion, Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt, Verlust von Muskelmasse am ganzen Körper und auch am Herzen, Diabetes, Freßattacken und Eßstörungen.

Stellvertretend für viele andere wissenschaftliche Untersuchungen sei die amerikanische Iowa Women’s Health Study mit 35.000 Teilnehmerinnen genannt. Sie belegt, daß sowohl unfreiwilliges Abnehmen (aufgrund von bestehenden Krankheiten) als auch Diäten diverse andere Erkrankungen begünstigen. Menschen, die Diäten absolviert hatten – egal, ob mit oder ohne Erfolg –, erkrankten später vermehrt an Diabetes und erlitten häufiger Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Auch Oberschenkelhalsbrüche kamen in dieser Gruppe öfter vor. Der Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm urteilt nach einer detaillierten Analyse aller bis 1998 vorliegenden Studien mit insgesamt Hunderttausenden von Teilnehmern, daß »keine einzige davon bisher belegen konnte, daß Abnehmen einheitlich mit einem klinisch relevanten gesundheitlichen Vorteil, das heißt verminderter Sterblichkeit, verbunden ist«.

Bis heute gibt es nicht einmal einen Beweis dafür, daß Übergewichtige durch Abnehmen wenigstens ihr Herz-Kreislauf-Risiko vermindern – weswegen man ihnen meistens zum Abspecken geraten hatte. Im Gegenteil: Häufig nimmt gerade die Sterblichkeit durch Herzinfarkt nach dem Gewichtsverlust zu. In manchen Studien sogar um 50 Prozent und mehr. Es ist dabei egal, ob das Abnehmen durch Crash-Diäten oder angebliche »Soft«- oder »Psycho«-Diäten erfolgte, ob die wohlfeilen Ratschläge von Frauenzeitschriften oder Ortskrankenkassen, von Psychologieprofessoren oder Schauspielern erteilt werden. Der Körper reagiert auf Nahrungsverknappung immer in der gleichen Weise – egal, welche Theorie dahintersteht.

Im »Kassenarzt« wurde angesichts der penetranten Abnehmpropaganda durch Organisationen, die es eigentlich besser wissen müßten, die provokante, aber durchaus ernstgemeinte Frage gestellt »Bringt die AOK die Dicken um?« »Mit ihrer Pfundskur«, so lesen wir weiter, »unterstützt und propagiert die ›Gesundheitskasse‹ äußerst fragwürdige Ernährungsdogmen, deren Befolgung Abspeckwilligen eher zum gesundheitlichen Schaden sein dürfte.« Je mehr Versicherte in die Diätfallen der Krankenkassen tappen, desto besser für deren Mitarbeiter. Denn wenn der Krankenstand steigt, sind wenigstens diese Arbeitsplätze sicher.

Angesichts der nicht ungefährlichen, zum Teil sogar lebensbedrohlichen Begleiterscheinungen von Diäten (von denen Kinder nicht ausgenommen sind) muß die Frage erlaubt sein, wem – außer den Organisationen und Einrichtungen, die damit ihre Brötchen verdienen – der entsagungsvolle Kampf um die Pfunde überhaupt etwas bringt? Vergleicht man die Gefahren von Diäten mit anderen risikoreichen Verhaltensweisen, so lassen sie sich durchaus mit denen des Rauchens vergleichen. Deshalb fordern böse Zungen bereits, daß wenigstens Frauenzeitschriften und Gesundheitssendungen stets mit dem Hinweis versehen werden sollten: »Abnehmen gefährdet Ihre Gesundheit!«

 

  • Fettarme Diäten sind ideal zum Abnehmen
  • Schlanke leben länger
  • Der Film »Super Size Me« beweist, daß Fast food dick und krank macht

 

Literatur:

L. Lissner, K. D. Brownell: Weight cycling, mortality, and cardiovascular disease: a review of epidemiologic findings. In: P. Björntorp, B. N. Brodoff (Eds): Obesity. New York 1992, S. 653

J. G. Wechsler et al.: Therapie der Adipositas. Deutsches Ärzteblatt 1996/93/S. B1751

S. A. French et al.: Relation of weight variability and intentionality of weight loss to disease history and health-related variables in a population-based sample of women aged 55–69 years. American Journal of Epidemiology 1995/142/S. 1306

M. W. Schwartz, J. D. Brunzell: Regulation of body adiposity and the problem of obesity. Arteriosclerosis, Thrombosis, and Vascular Biology 1997/17/S. 233

S. Syngal et al.: Long-term weight patterns and risk for cholecystectomy in women. Annals of Internal Medicine 1999/130/S. 471

H. J. Richter: Bringt die AOK die Dicken um? Kassenarzt 2003/H. 4/S. 14

Wer abnimmt, lebt länger


Ob sich durch Abspecken der aktuelle Gesundheitszustand verbessert, ist eine Sache, ob man deswegen auch tatsächlich länger lebt, eine andere. Doch jahrzehntelang hielt man es offenbar für überflüssig, dieser entscheidenden Frage nachzugehen. Dann endlich, Anfang der neunziger Jahre, überprüfte die amerikanische Gesundheitsbehörde, ob Übergewichtige für das Abnehmen mit mehr Lebensjahren belohnt werden. Dafür analysierte sie sechs Studien, die zwischen 1950 und 1990 durchgeführt worden waren. In der abschließenden Bewertung heißt es lapidar: »Zusammenfassend ergeben sich aus den sechs Studien keine Belege, daß sich durch Gewichtsreduktion die Lebenserwartung von Übergewichtigen verlängert.«

Bei der gleichen Gelegenheit untersuchten die Forscher auch, wie sich Gewichtszunahmen oder Gewichtsschwankungen, die auf den Jo-Jo-Effekt zurückzuführen sind, auf die Lebenserwartung auswirken. Dafür wurden 13 Langzeitstudien ausgewertet. Das Ergebnis war überraschend und schockierend zugleich: »Für das Abnehmen, auch wenn es nur mäßig oder wenig ausgeprägt ist, findet man eine erhöhte Sterblichkeit.« Am längsten leben erstaunlicherweise die, die im Laufe ihres Erwachsenenlebens langsam, aber stetig immer ein bißchen zunehmen.

Der Vorstellung, daß Abnehmen die Lebenserwartung erhöht, liegt ein Trugschluß zugrunde. Selbst wenn »Normalgewichtige« länger leben würden als »Wohlbeleibte«, wer sagt, daß Dicke nach dem Abnehmen tatsächlich die gleiche Lebenserwartung haben wie von Natur aus Schlanke? Ein Windhund wird beim Wettrennen einen Mops überholen, aber hat ein abgemagerter Mops bessere Chancen, den Windhund abzuhängen? Ein »abgemagerter Dicker« ist nun mal etwas anderes als ein schlanker Mensch.

Das bestätigt eine Studie aus Israel. Dort verfolgten die Ärzte fünf Jahre lang das Gewicht von über 9.000 Männern. Mehr als ein Viertel von ihnen hielt in dieser Zeit Diät, teils aus gesundheitlichen Gründen, teils einfach nur, um abzunehmen. In den folgenden 18 Jahren starb jeder Dritte. Ergebnis: Männer, die im Untersuchungszeitraum mehr als fünf Kilogramm abgenommen hatten, hatten ein 30 Prozent höheres Risiko zu sterben als Männer, deren Körpergewicht stabil geblieben war. Um auszuschließen, daß diese starken Gewichtsverluste durch eine Krankheit bedingt waren, rechneten die Autoren noch einmal, ließen aber dieses Mal die Todesfälle der ersten Untersuchungsjahre unberücksichtigt. Das Ergebnis blieb: Gewichtsabnahme – egal, aus welchen Gründen – erhöht die Sterblichkeit.

Das Überraschende: Ganz gleich, ob die Versuchsteilnehmer zu Beginn der Studie unter-, normal- oder übergewichtig waren, die niedrigste Sterblichkeit fanden die Forscher immer bei denjenigen, die im Laufe ihres Lebens ein wenig zugenommen hatten. Das galt auch für fette Menschen! Selbst wer sein Gewicht plus/minus ein Kilo hielt, war – im statistischen Mittel – etwas schlechter dran als diejenigen, die leicht zunahmen.

 

Gewichtsverluste erhöhen die Sterblichkeit. Geringfügige Gewichtszunahmen senken sie. Die Zahlen am Ende der Säule geben an, wie viele Personen aus einer...

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