»Man kann Mozzarella nicht in den Kühlschrank stecken«
Zum Warmwerden: ein paar Italien-Klischees
Lieber Roberto, du hast mal zu mir gesagt: Wenn du in fremde Länder reist, dann möchtest du als Erstes ihre »dunklen Seiten« kennenlernen.
Das stimmt. Die interessantesten Winkel einer Stadt liegen abseits der Museen, der Restaurants und Touristenattraktionen. Ich beobachte die Welt am liebsten von ihrer finsteren Seite her, das ist ein Faible von mir. Mich interessieren die Reviere der Drogenhändler, der Slang der Pusher …
Und das findest du im Netz. Auch auf Pornoseiten …
Man muss sich die Statistik ansehen: Wer sind die Leute, die Pornoseiten aufsuchen, wie oft tun sie das, wie alt sind sie, was suchen sie dort? Ich will nicht wissen, was für sexuelle Vorlieben die Russen, die Deutschen, die Italiener haben, ich bin vielmehr an den Webseiten interessiert, die am häufigsten aufgesucht werden.
Damit wärst du der erste Mann, den ich je kennengelernt habe, der auf Pornoseiten mit der Brille eines Soziologen schaut.
(lacht) In der Unübersichtlichkeit der Masse kann man gut geheime An- und Verkaufskanäle für Drogen schaffen. Auf manchen Webseiten, die angeblich Escortdienste vermitteln, kann man ohne Weiteres erfahren, wo es Koks zu kaufen gibt. Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: Wenn zwei Leute beim Chatten das Wort »Champagner« benutzen, sprechen sie oft in Wahrheit über Drogen. Und nicht nur das: Die Pornoseiten werden auch von kriminellen Organisationen mit islamistischem Hintergrund benutzt, die dort ihre Informationen austauschen. Ausgerechnet an diesem typischen Ort der Sittenlosigkeit, wo man sie zuallerletzt vermuten würde. Selbstverständlich vermittelt die Statistik dieser Portale aber auch einen Einblick in die sexuellen Gebräuche eines Landes: welche Gelüste die dort lebenden Menschen haben, was sie tun, wenn das Licht erst einmal ausgeknipst ist, wer sie in Wahrheit sind.
Und was könnte man auf diesen Seiten über Italien lernen?
Auf einem Portal für Pornofilme gibt es eine Weltkarte, auf der man sehen kann, welche Suchbegriffe in welchen Ländern am häufigsten eingegeben werden. Für Italien ist das Wort »mom« immer dabei.
Das klingt wie erfunden: Die mutterfixierten Italiener suchen selbst in Pornos noch nach der Mutter!
Unglaublich, aber wahr. Die Karte mit den meistgesuchten Begriffen eröffnet dir Welten, über die sonst niemand ein Wort verlieren würde. Das Wort »Mamma«, das die Italiener wie ein Mantra wiederholen, hat heute mehr denn je eine politische Bedeutung. In Italien, wo das Vertrauen in die Institutionen auf einem historischen Tiefpunkt angelangt ist, muss die Familie für alles herhalten. Wenn man sich auf den Staat nicht verlassen kann, muss man andere Wege finden, um zu überleben oder um überhaupt leben zu können. Die Familie, die Freunde werden auf diese Weise zu einer Art Armee, deren man sich bedienen kann.
Die Liebe der Deutschen zu Italien speist sich besonders aus den Klischees, die es über das Land gibt: Dazu gehört die Großfamilie, dazu gehören auch die angeblich so romantischen Italiener. Für mich ist es aber eines der pragmatischsten Völker, die ich kenne.
Völlig richtig, das ist ein riesiges Missverständnis. Wenn ein Italiener einer Frau den Hof macht, hält man sein Theater für romantisch, er verspricht ihr das Blaue vom Himmel. Er lädt sie nach Hause ein und bewirtet sie wie eine Königin, doch am Ende geht es darum, die Frau ins Bett zu kriegen – oder jemanden zu einer Gefälligkeit zu überreden. Es kommt einzig und allein darauf an, dir das Gefühl zu geben, du seist das Wichtigste auf der Welt. Wenn ich ein italienisches Restaurant betrete und dem Koch ein Kompliment mache, habe ich binnen einer Minute einen neuen Freund. Aber diese Freundschaft ist funktional und oberflächlich, Italiener haben zigtausend solcher Freunde.
Steckt also hinter dem ganzen Gehabe immer Berechnung?
Nein, nicht immer. Es gibt durchaus auch eine wirklich romantische Seite. Aber apropos Romantik: Die Italiener, oder genauer, die Neapolitaner, besitzen eine echte Tugend, nämlich die Verehrung der Frauen. In Neapel, in den Quartieri Spagnoli, wo ich gewohnt habe und nach denen ich mich bis heute sehne, gab und gibt es auch heute noch viele deutsche Touristinnen. Die deutsche Frau mit ihrer porzellanweißen Haut, das ist seit jeher ein neapolitanischer Mythos. Deutsche Frauen haben mir häufig versichert, dass zum Schönsten, was Neapel zu bieten hat, die neapolitanische Höflichkeit gehört. Für die Neapolitaner gibt es überhaupt nur schöne Frauen, und das ist doch großartig.
Ich habe das in Neapel gegenüber Frauen aus dem Norden auch als ziemlich aufdringlich empfunden. Aber lass uns einen Moment beim Klischee der Romantik bleiben: Es gibt da ein Ereignis in meiner Familie, das ich nie vergessen habe. Ich hatte eine wunderbare Tante in Florenz, eine ungewöhnliche Frau, überzeugte Antifaschistin. Als sie meine deutsche Mutter kennenlernte, machten sie zusammen einen Spaziergang – ich weiß nicht mehr, wohin. Danach jedenfalls konnte meine Mutter sich gar nicht mehr beruhigen vor Begeisterung über dieses Erlebnis. Meine Tante schwieg eine Weile, und dann sagte sie:
»Marianne, wenn ich dich so reden höre, verstehe ich endlich, was der Nationalsozialismus war.«
»Warum das denn?«
»Dass du dich für einen simplen Spaziergang so begeistern kannst, erklärt mir, wie ein ganzes Volk über einem Hitler den Verstand verlieren konnte.«
Meine arme Mutter brach in Tränen aus. Aber es steckt doch ein Körnchen Wahrheit darin: Die Italiener lassen sich vielleicht weniger leicht verzaubern.
Oh, davon bin ich nicht so überzeugt, zumal wir es mit einem Volk zu tun haben, das ja doch mit den Nazis verbündet war. Wir Italiener sind vielleicht keine naiven Träumer, aber wir sind sehr wohl verführbar. Das Volk lauscht den Verführungen des Politikers – von Silvio Berlusconi über Matteo Renzi bis Beppe Grillo –, und der politische Verführer macht mit ihm, was er will. Sehr typisch war Achille Lauro, ein Reeder und in den Fünfzigerjahren Bürgermeister von Neapel, der auf seinen Wahlveranstaltungen Hunderte linke Schuhe verteilte, den dazugehörenden rechten Schuh gab es dann erst nach der Wahl. Manchmal verteilte er auch nur Nudeln.
Und klappte das auch nur mit Nudeln?
Ja! Es waren nämlich die langen Maccheroni aus Gragnano, die allerbesten.
Die, die man mit den Händen von oben direkt in den Mund hineinfallen lässt, so wie man das auf Bildern aus dem 19. Jahrhundert sehen kann?
Ja, ja, genau die.
Es ist das erste Mal, dass ich deine Augen leuchten sehe. Kann man auch einen so melancholischen Intellektuellen wie dich für die neapolitanische Küche begeistern?
Und ob! Die Bedeutung der italienischen Küche erkennt man daran, dass sie für uns geradezu identitätsprägend ist, ähnlich wie bei den Juden: Selbst die assimilierten Juden essen kein Schweinefleisch und respektieren den Sabbat. Wenn mein Vater etwas essen soll, das ihm nicht schmeckt, sagt er: »Und das, was ist das? Kommt das aus Mailand?« Er mag einfach keine fremdländische Küche.
Aber Mailand ist doch kein fremdes Land!
Das ist ja der Witz! Er liebt vor allem Pizza und Mozzarella, aber nur, wenn sie aus seiner Heimatstadt kommen. Ihm verdanke ich meine Leidenschaft für die traditionelle neapolitanische Küche. Mein Vater sagte einmal etwas sehr Schönes über den Mozzarella, den auch ich ganz besonders liebe: Man kann keinen Mozzarella exportieren, die Leute müssen herkommen und ihn hier verzehren. Denn nur in Süditalien schmeckt er so, wie er schmecken soll …
… weil er nicht im Kühlschrank aufbewahrt wird?
Das wäre sein Ende! Mein Vater, der immer sehr einfallsreich ist, entwickelte deshalb folgende Idee: »Man müsste Flugreisen organisieren und Busfahrten zur domitianischen Küste, nach Mondragone und zu den griechischen Tempeln von Paestum. Dort müsste man dann einen Mozzarella essen: Das wäre ein wahrhaft unvergessliches Erlebnis. Man kann den Mozzarella doch nicht auf Lastwagen packen und ihn in Kühlschränke stecken!« Einen ausgewanderten Mailänder oder Piemontesen, Florentiner, Neapolitaner wird man auch dann, wenn er längst Deutscher oder Amerikaner geworden ist, immer noch an dem wiedererkennen, was er isst: Cannoli, Pizza, Bagna cauda, Cacciucco. Auf diese Weise bewahrt er sich seine verlorene Identität. Ich beobachte das immer wieder, auch in New York.
Kann man in New York, wo du große Teile des Jahres verbringst, einen guten Mozzarella finden?
Nein, ich jedenfalls habe bisher noch keinen finden können, obwohl ich sehr danach gesucht habe. Es ist wirklich paradox, dass die italienische Küche zwar die ganze Welt erobert hat, aber jenseits der italienischen Grenzen verloren geht, weil sie sich an die lokalen Geschmäcker anpasst: Pizza nach deutscher Art, Mozzarella à l’américaine....