Tanja Kinne & Georg Theunissen
Erlebnispädagogik und Empowerment – erlebnispädagogisches Lernen für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten (geistiger Behinderung)
Der Begriff Empowerment stammt aus der US-amerikanischen Sozialarbeit und steht für einen Prozess, in dem Menschen in marginaler Position ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, sich dabei ihrer eigenen Fähigkeiten bewusst werden, eigene Kräfte entwickeln und soziale Ressourcen nutzen (dazu Theunissen, 2009). Leitperspektive ist die selbstbestimmte Bewältigung und Gestaltung des eigenen Lebens. Dieser Autonomieaspekt wird zugleich als eine wesentliche Voraussetzung psychischer Gesundheit erachtet, da die menschliche Entwicklung wesenhaft an Selbstbestimmung in sozialer Bezogenheit gebunden ist. Während in der traditionellen Behindertenhilfe (Heilpädagogik) der behinderte Mensch als defizitäres Mängelwesen betrachtet und als alleiniger Adressat bürokratisierter sozialer Dienstleistungen behandelt wird, macht der Empowerment-Ansatz die Betroffenen mit ihren Bedürfnissen in ihrer Lebenswelt zum Gegenstand der Betrachtung. Für die helfenden Berufe bedeutet dies ein Abschiednehmen von der Gepflogenheit, behinderte Menschen als Versorgungsobjekte zu betrachten und zu behandeln. Anstelle einer Betreuung, Versorgung oder Behandlung geht es nun um Assistenz, Begleitung, Unterstützung, Kooperation, Parteinahme und Konsultation. Dieser Perspektivenwechsel basiert auf dem Vertrauen in die Stärken, Potenziale und Ressourcen, die behinderte Menschen haben, und auf der Zuversicht, dass sie fähig sind, ihr Leben autonom in individueller und/oder kollektiver Selbsthilfe zu bewältigen und zu gestalten (vgl. ebd.).
Die somit grob umrissene Empowerment-Philosophie stellt an alle Professionellen im Bereich der Heil- oder Sonderpädagogik neue, herausfordernde Anforderungen: Sie sollen die Entwicklung von Selbstbestimmung und emanzipierter Beteiligung ihrer Klientel unterstützen und sich selbst soweit wie möglich zurücknehmen. In Bezug auf Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung1, deren Autonomiebestrebungen bislang durch fürsorgliche Belagerung oftmals eher blockiert wurden und deren Selbstermächtigung nicht vorbehaltlos angenommen werden kann, ergeben sich hierbei oft paradoxe Handlungsanforderungen. Allein die Forderung „Sei selbstbestimmt!“ macht dies eindrücklich deutlich. Es kann also nicht darum gehen, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung einfach unter der Parole der Selbstbestimmung in die Normalität zu entlassen. Vielmehr braucht es pädagogische Konzepte, die die betroffenen Personen darin unterstützen, „enthindernde Kräfte“ zu entwickeln und ein Leben in größtmöglicher verantwortbarer Selbstbestimmung zu führen.
1 Erlebnispädagogische Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung
Innerhalb des einführenden Beitrages in diesem Buch wurde das große Potenzial der Erlebnispädagogik dargestellt. Bei näherer Betrachtung zeichnet es sich gerade innerhalb eines von der Empowerment-Philosophie getragenen Gesamtkonzepts als hochanschlussfähig aus. Damit wäre schon eine Bedingung für die Fruchtbarkeit erlebnispädagogischer Angebote beschrieben. Erst innerhalb eines stimmigen pädagogischen Gesamtkonzepts können sich ihre Wirkungen im alltäglichen Leben entfalten. Denn fernab vom Alltag durchgeführte erlebnispädagogische Unternehmungen stellen nur dann ein sinnvolles Angebot dar, wenn ihre (heil-)pädagogische Wirkung sich auch im alltäglichen Leben der Betroffenen bewähren kann, wenn also der Transfer gelingt. Deswegen bedarf es neben einer sorgfältigen Vorbereitung auch einer gewissenhaften Nachbereitung der Projekte. Überdies bietet es sich an, Erlebnispädagogik als Breitbandangebot zu organisieren, so dass eine einseitige Ausrichtung auf exklusive Outdoor-Aktivitäten vermieden werden kann; und nur unter dieser Perspektive kann ihr Anliegen auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung fruchtbar sein.
Die Erlebnispädagogik findet erst allmählich Eingang in die heilpädagogische Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass diesem Personenkreis nach wie vor wenig zugetraut wird. Neben diesem mangelnden Vertrauen in die Ressourcen werden heute noch viele Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung in ihrer Autonomieentwicklung gedämpft, häufig auf die Stufe eines „ewigen Kindseins“ fixiert und als erwachsene Personen kaum ernst genommen. Hinweis- und Stoppschilder, eine überbehütete und/oder überversorgende Erziehung sowie der kontrollierende Einfluss von Heilpädagogik und Therapie behindern in unnötiger Weise ihr Erwachsenwerden und Erwachsensein. Personen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung haben aber wie alle anderen Mitmenschen ein Recht darauf, aus dem Status eines „unmündigen Educanden“ ins Erwachsensein entlassen zu werden. Mögliche Folgen eines mangelnden Ablösungs-, Verselbständigungs- und Autonomieprozesses hat Seligman in seiner Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“ (1999) beschrieben: Menschen, die die Erfahrung der Unkontrollierbarkeit machen, erleben ihr Handeln als sinnlos und reagieren häufiger als andere mit Apathie, Rückzug, Hilflosigkeit oder gar schweren Depressionen. Ein in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzendes Problem ist die mangelnde Risikoerfahrung, die aus einer überbehütenden Pädagogik oder Rundumversorgung resultiert. In einem überbehüteten Menschen mit komplexer Behinderung werden sich womöglich nicht nur diffuse Ängste vor einer „gefährlichen“ Welt festsetzen, sondern auch das Gefühl, hilflos dieser „Gefahr“ ausgeliefert zu sein. Deswegen glaubt der Betreffende jegliche Risiken meiden zu müssen, außerdem benötigt er stets andere Menschen, um sich sicher fühlen zu können. Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung, die in ihrer Sozialisation in hoher Abhängigkeit gehalten werden und deshalb ein starkes Sicherheitsbedürfnis entwickeln, denen Erfahrungen wie Risiko, Wagnis oder Abenteuer fehlen, wird die Gelegenheit genommen, sich Welt handelnd anzueignen und dabei die Grenzen des Körpers zu erfahren. Zugleich fehlen auch Erfahrungen des eigenen Könnens, so dass sich auf dem Hintergrund dieser Sozialisationserfahrung des „Nichtdürfens“ das innere Bild des „Nichtkönnens“ verfestigt. Folglich wird jede „gefährliche“ Handlung vorsorglich vermieden – eine Angstbarriere, die in realen Gefahrensituationen oder bei unvorhergesehenen Momenten ins Panische oder zu Katastrophenreaktionen führen kann.
Von daher macht Erlebnispädagogik mit sogenannten geistig behinderten Menschen Sinn. Sie bietet ihnen ausgezeichnete Möglichkeiten, Abenteuer zu erleben, Lernprozesse nachzuholen und neue Erfahrungen zu machen, die für ein relativ selbstbestimmtes Leben und auch für alternative Freizeitperspektiven unabdingbar sind. Damit leistet die Erlebnispädagogik auch einen wichtigen Beitrag zur personalen und sozialen Integration von Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung. Ihr Bestreben ist einerseits eine allgemeine Persönlichkeitsbildung, indem durch Erlebnisräume mit Abenteuercharakter Möglichkeiten einer aktiven Auseinandersetzung mit der Welt geschaffen werden. Zugleich sollen dadurch physische und psychische Grenzen erweitert sowie der Sinn für das Ästhetische entfaltet werden. Andererseits erzeugt sie therapeutische Wirkungen, wenn es um mehr Selbstvertrauen, Angstabbau, soziales Lernen sowie um die Förderung „handfest“ erfahrener Stärke- und Schwächeerlebnisse und einer realistischen Selbsteinschätzung geht. Aufgrund von Beobachtungen und Erfahrungen in erlebnispädagogischen Maßnahmen sind wir davon überzeugt, dass psychosoziale Probleme nicht selten „authentischer“, realer und schneller bewältigt werden können als durch zahllose heilpädagogische Therapie- und Förderstunden. Gerade das erlebnispädagogische Setting ist von großem therapeutischen Nutzwert und leidet weniger unter einer „Verkrampfung“ als manche heilpädagogische Förderstunde oder (Psycho-)Therapiesitzung.
2 Grundsätze erlebnispädagogischen Arbeitens bei Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung
Generell gelten alle im Einführungsbeitrag beschriebenen erlebnispädagogischen Leitorientierungen auch für die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen. Aus der oben skizzierten Ausgangslage der Klientel ergeben sich jedoch graduelle Verschiebungen in Bezug auf deren Anwendung. Dabei geht es nicht darum, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung wieder zu „besondern“, sondern eher um graduelle Modifikationen als Sensibilisierung für bestimmte Problematiken auf Seiten der Gestalter der erlebnispädagogischen Anforderungssituation.
In der erlebnispädagogischen Arbeit für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder komplexer Behinderung darf es nicht darum gehen, einen „Erlebnishunger“ durch eine ständige Steigerung des Abenteuer- und Risikofaktors zu befriedigen. Wie bereits im Einführungsbeitrag innerhalb dieses Bandes beschrieben, sind die subjektiv bedeutsamen „Erlebnisangebote“ eher Mittel zum Zweck, das heißt Vehikel zur psychischen Stabilisierung, Sozialerfahrung und Persönlichkeitsbildung zu verstehen. Ziel dabei ist es, dass die Teilnehmenden zu sozial anerkannten Erfolgserlebnissen und zu einem neuen Selbstwert- und Kompetenzerleben gelangen. Daraus kann eine immer größer werdende Lebenszufriedenheit resultieren, was sich in der alltäglichen Lebensführung und dem Sozialverhalten positiv bemerkbar macht. Dabei darf jedoch das Moment der Grenzerfahrung...