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Familie und Familien –
Schwierigkeiten mit einer
selbstverständlichen
Lebensform
„Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht.“ Kirchenvater Augustinus hat diese Bemerkung auf die Bestimmung von Zeit gemünzt. Er hätte sie ebenso mit Blick auf die Familie machen können. Denn: dass es Familie gibt und was sie auszeichnet, scheint den meisten völlig selbstverständlich. Manche denken zwar an die eigene Familie mit kritischen Vorbehalten und haben mehr den an Weihnachten fast vorprogrammierten Streit in Erinnerung, nicht wenige verbinden mit ihren Eltern und ihrer Familie traumatische Erinnerungen: Franz Kafka spricht in seinem berühmten Brief an den Vater von der Furcht vor diesem, die so groß ist, dass selbst der 36-Jährige es noch nicht wagt, den Brief abzusenden. Thomas Bernhard konnte an seine Familie nur mit dem Gefühl denken, völlig alleingelassen worden zu sein (allein der Gang in die Schule schien ihm noch schlimmer, dem Weg zum Schafott gleich). Nicht frei von Traumata beschreibt Elias Canetti in Macht und Masse das für den familiären Zusammenhang so wichtige Essen als Machtsituation, in welcher – ganz ungewöhnlich – die Mutter zur dominanten Person wird. In der Literatur, allzumal in der dann gar nicht so schöngeistigen, herrscht ein eher düsteres Bild der Eltern-Kindbeziehungen vor. Noch dunkler stimmt die Berichterstattung der Tagespresse; an einem beliebig gewählten Tag erscheinen dann auf nur einer Seite drei ausführliche Berichte über die dunkelsten Seiten menschlichen Lebens, die allesamt mit Familie verbunden sind: „‚Signal an Gesellschaft‘. Winnenden: Gericht verurteilt Vater des Amokläufers“, „Acht Kinder mit der Stieftochter gezeugt? Rheinland-Pfälzer soll junge Frau missbraucht und zur Prostitution gezwungen haben“ und „Eigene Mutter mit Hammer erschlagen. Ex-Jura-Student muss für Mord an seinen Eltern in Haft“.
Doch die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen sieht ihre Familie als wichtigen und harmonischen Lebenszusammenhang. Vor allem junge Erwachsene haben überwiegend guten Kontakt zu ihren Eltern und wünschen sich regelmäßig, eine eigene Familie zu gründen. Die jüngste Shell-Studie sowie Erhebungen zur Situation von Studierenden halten eine stetig wachsende Neigung zur Ehe fest, die als Wunsch nach Sicherheit in einer unsicheren Welt interpretiert wird. Familiengründung liegt dann nahe. „Selbst wenn es heute vielleicht nicht mehr zuvorderst wichtig erscheint, ob es sich dabei um Konstruktionen des Living apart together, um Ein-Eltern- oder Zwei-Eltern- um Stiefeltern- oder Fortsetzungsfamilien handelt, ob Kinder von verheirateten oder unverheirateten Partner, vom leiblichen Vater oder vom aktuellen Lebensabschnittspartner der Mutter großgezogen werden, spielen Kinder innerhalb der Wertedimension jedenfalls eine ausgesprochen wichtige Rolle“ (Fritsche 2000, S. 104 f.). Gegenüber einer in den öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten sowie unter Professionellen der Pädagogik verbreiteten Skepsis gegenüber Familie bekennen sich die meisten jungen Menschen zu einem überwiegend positiven Familienbild. Sie erinnern sich gerne an Unterstützung durch ihre Eltern, bei denen sie zuerst Rat holen und die sie ihrerseits kaum im Stich lassen würden. Auch wenn die Belletristik eine Vorstellung von urban family entwirft, in der weniger Verwandte und mehr Freunde die Lebenssituation bestimmen, also gegen Jane Austens Pride and Prejudice Fieldings Bridget Jones stellt, verbindet die Mehrheit mit Familie ziemlich klare und begrenzte Vorstellungen: Dass es um Bindungen, um Sicherheit, um Vertrauen und Verpflichtungen geht, welchen man sich nicht entziehen kann, die man aber selbst kaum preisgeben möchte. Obwohl die meisten wissen, dass Familien sich häufig auflösen, lässt sich ebenso wenig übersehen, wie nach Trennung und Scheidung doch wieder Familien gegründet werden. Als eine andere, eine neue Familie, aber eben doch als Familie.
Was also macht Familie aus? Ein Mythos, dem man nicht vertrauen darf? Die Aura eines schwierigen Zusammenlebens? So recht weiß das niemand, doch geht es wohl um mehr als um eine bloße Wohngemeinschaft oder Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern mit mehr oder weniger kurzem Verfallsdatum. So haben viele in den letzten Jahrzehnten zwar schon das Totenglöckchen für die Familie geläutet; vom Ende der Familie war die Rede, vorsichtiger nahmen andere „Abschied von der Normalfamilie“ (Herlth/Brunner/Tyrell/Kriz 1994). Dennoch setzt sich in jüngerer Zeit eine irritierende Einsicht durch. Tilman Allert hat für sie das Wort von der „Familie als unverwüstliche Lebensform“ geprägt (Allert 1998). Zwar verliert Familie in der gesellschaftlichen Modernisierung „an Bedeutung für die Generationenbeziehungen“ (Leisering 1992, S. 43), doch der Krieg zwischen den Generationen fällt in den Familien aus. Allerts Einsicht in die Unverwüstlichkeit, mit der sich eine Lebensform erhält und bewährt, die von den Beteiligten als Familie bezeichnet, verstanden und einigermaßen ungeniert gelebt wird, findet in wachsendem Maße Zustimmung (jedoch weniger unter Vertretern der Sozialwissenschaften, wohl aber bei Historikern und Kennern der fiktionalen Literatur). Unverwüstlichkeit stellt sich allerdings als paradoxe Normalität dar, nämlich als Normalität, die wieder ganz eigenartig, ganz anders ist. „Familienmenschen“ reagieren entsprechend einsilbig: Wir sind halt eine Familie. Und mit Augustinus würden sie bemerken: Wir können nicht erklären, was wir da tun und wie wir Familie leben; aber uns selbst ist das schon klar.
Vermutlich lässt sich gar nicht mit Sicherheit bestimmen, was jeweils als Familie gelten kann und soll. Selbst der Gesetzgeber hadert mit entsprechenden Festlegungen und muss regelmäßig nachjustieren, um aufzunehmen, was und wie Gesellschaften und Kulturen in Sachen Familien denken. Man tut daher gut daran, erst einmal gelten zu lassen, was die Beteiligten für sich selbst als Familie, vor allem was sie als ihre Familie verstehen. Familie ist mithin ein sozialer Zusammenhang, der von den Beteiligten als solcher begriffen und ergriffen, gegenüber anderen Zusammenhängen als besonderer und eigener verteidigt wird. Familien bestehen dann, wenn die an einer Familie Beteiligten ihre Praxis als Familie gestalten und eine Vorstellung von Familie, von ihrer Familie haben; auf den ersten Blick wird man Familie und Haushalt verbinden, doch zählen oft andere Personen, Großeltern etwa, zur Familie, die einen eigenen Haushalt führen. Fehlt eine solche Selbstdeutung als Familie, mögen zwar verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, die jedoch nicht als Familie gelebt werden. Oder mehr noch: Familie ist offensichtlich das, was die Beteiligten als ihre Familie behaupten und in lebendiger Praxis gestalten – oder in manchen Fällen vermeiden, weil sie im Wissen um ihre Familie mit dieser eben gerade nichts zu tun haben wollen. Zuweilen begegnen wir sogar Menschen, die Kinder haben, sich mit diesen aber nicht in einer Familie gebunden sehen, da sie Familie als Trauma erlebt haben.
Es gab immer schon, in der jüngeren Vergangenheit ebenso wie in früheren Jahrhunderten, eine Vielzahl von Formen, in welchen die Praxis der Familie gelebt wird. Nach dem zweiten Weltkrieg verbreiteten sich sogenannte Onkelehen. Waren Lebenspartner verschollen, entstanden neue Familien. Gewachsen ist heute die Toleranz gegenüber der Formenvielfalt von Familien. Neben dem Modell der klassischen Kernfamilie begegnen verkleinerte Formen des familialen Zusammenlebens, etwa solche mit allein erziehenden Eltern; meist handelt es sich um Kinder, die mit ihrer Mutter, seltener mit ihrem Vater in einem Haushalt zusammen leben. Zunehmend finden sich homosexuelle Paare, die mit ihren Kindern erfolgreich gelingende Familien leben. Neue Formen von Familie entstehen im Zusammenhang der Reproduktionsmedizin, wenn Leihmütter in Anspruch genommen werden oder auf anonyme Samengeber zurückgegriffen wird. Die Reproduktionsmedizin belegt das hohe Interesse an Familiengründung (und zudem, wie heute gegebene Lebensbedingungen aversiv wirken, wenn Umweltbelastungen die Zeugungsfähigkeit einschränken). Dann begegnen erweiterte Familien, entweder weil – eher traditionell – Großeltern oder andere Verwandte im Haushalt leben oder die erwachsenen Kinder Partner wählen, die ihrerseits Kinder aus einer früheren Beziehung mitbringen. Hinzu kommen – moderner – Folgefamilien, die nach Trennungen entstehen, Patchworkfamilien, bei welchen Partner mit Kindern eine neue Familie gründen und so völlig eigenartige Konstellationen schaffen: Das – so eine Pressemeldung zu den Absichten des amtierenden französischen Präsidenten – jüngste eigene Kind kommt dann nach dem ersten eigenen Enkel auf die Welt. Die Liste der Möglichkeiten lässt sich kaum abschließen, moderne Gesellschaften erlauben viele Beziehungen.
Autonomie der familialen Lebenspraxis und Bedeutung der Familiengeschichten
Diese Vielfalt verlangt, Familie als eine von den Akteuren selbst gestaltete soziale Wirklichkeit zu fassen. Insbesondere erweiterte oder Folgefamilien nach Trennung und Wiederverheiratung legen nahe, Blutsverwandtschaft als nur bedingt relevant zu werten, obwohl die biologische Herkunft starke Bedeutung hat: Adoptiv- und Pflegekinder fragen regelmäßig nach ihren wirklichen Eltern, obwohl sie psychologische und soziale Eltern als die eigentlichen Eltern schätzen. Fachlich spricht man deshalb von der Autonomie der familialen...