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E-Book

Erlebte Musik. Von Bach bis Strawinsky

AutorJoachim Kaiser
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl700 Seiten
ISBN9783492977340
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Buch »Erlebte Musik« ist der großen, allzeit lebendigen Musik gewidmet - und all jenen, die sie erschaffen haben und zum Leben erwecken. Die hier behandelten Werke reichen von Johann Sebastians Bach h-Moll Messe, über Mozarts »Don Giovanni« bis zu Strawinskys »Psalmen-Symphonie«. Wie Joachim Kaiser sagte: »Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können.«

Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.

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Leseprobe

Was die Musik einem sein kann


Ganz privates Vorwort


Bei uns zu Hause wurde viel musiziert. Mein Vater war Arzt, und er wäre wohl lieber noch Geiger geworden, dann allerdings freilich auch gleich richtig Solist, hübsch interkontinental gefeiert, mit Allüren und großen Gagen. Aber während seines Medizinstudiums hatte er berühmte Lehrer in Berlin und Königsberg konsultiert; die hatten ihn angehört, seinen (übrigens wirklich) fabelhaft kräftigen, temperamentvollen Ton gelobt, seine (übrigens im Alter schlimm hervortretende) Tendenz zur Unsauberkeit bedauert, ein paar kaum mehr korrigierbare Fehler festgestellt – und ihm abgeraten. Das hatte er sich gesagt sein lassen.

Doch eine Wunde blieb. Manchmal, wenn wir aus Konzerten mittelmäßiger Geiger nach Hause fuhren, dann brach es aus ihm heraus, wie schlecht der Solist gewesen sei und wie ganz anders dieses Stück gespielt werden müsse – regelmäßiges Üben vorausgesetzt. Wenn freilich ein großer Virtuose aufgetreten war, spürte ich meinem Vater nicht etwa Neid, sondern Erleichterung an. Er wußte wohl, daß er auch mit viel Fleiß den letzten Satz des Brahms-Konzerts, die Flageolett-Hürden aus dem Tschaikowsky-Konzert oder gewisse Paganini-Unannehmlichkeiten niemals podiumssicher geschafft hätte. Dann war er froh, nicht als gescheiterter Musiker irgendwo die zweite Geige zu spielen.

Also: ein Mediziner mit musikalischen Neigungen. Er hatte als Landarzt im masurischen Milken zu praktizieren begonnen. 1933 zog er nach Tilsit, wo einige Arztstellen – »Praxen« – frei geworden waren. Kluge jüdische Ärzte nämlich, die nicht glauben wollten, der NS-Spuk gehe schnell vorüber, emigrierten zu ihrem Heil schon damals. Für ihre jungen »arischen« Kollegen war das natürlich eine Chance, so sehr man die Weggezogenen (die Vertriebenen) auch bedauerte – als Freunde, als Kammermusikpartner, als Akademiker, denen so was zustieß. Jüngere können sich heute kaum mehr vorstellen, mit welch selbstverständlichem Ehrfurchtstremolo das Zauberwort »Akademiker« vor gar nicht allzu langer Zeit ausgesprochen wurde, von Akademikern und Nicht-Akademikern.

Tilsit. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwechselt die Enkel-Generation es bereits mit Tiflis. Muß, etwa von München aus gesehen, auch irgendwo weit hinten im Osten sein. Tilsit war eine Mittelstadt. 60 000 Einwohner. Gelegen an der nordöstlichen Grenze des »Reiches«, was man damals freilich ohne Anführungszeichen schrieb, sagte, dachte. Indirekt klingt Tilsit in der Nationalhymne mit: »… bis an die Memel.« Denn Tilsits Fluß war ja die Memel. Die Zeitung hieß Memelwacht. Der Musikverein veranstaltete Konzerte. Wenn der Karl Erb, der Heinrich Schlusnus, die Lore Fischer kamen, dann freute man sich lang und herzlich darauf. Erb kam übrigens mit einem jungen Begleiter namens Ferdinand Leitner, der während des Liederabends auch ein Solostück spielen durfte und mit dem der berühmte Tenor einmal so laut im Künstlerzimmer herumschrie, daß später die ganze Stadt darüber wisperte. Der Musikvereinsvorsitzende hatte den Auftritt (es ging um Geld, nicht um Kunst) nämlich erschauernd mitangehört und ein bißchen weitererzählt.

Edwin Fischer wurde Jahr für Jahr bewundert, Kempff hatte eine erlauchte Gemeinde von schönen, adligen Damen. Viel später lernte ich die diesbezügliche Aufklärungs-Terminologie kennen. Das seien die Frauen der Junker gewesen. Mit meiner Erinnerung an die freundlichen, vielleicht oberflächlichen, enthusiastisch kunstinteressierten, vielleicht nicht allzu kunst-»verständigen« Menschen, in deren Namen ein »von« vorkam, hat diese spätere, demokratische und soziologische Belehrung über ostelbisches »Junkertum« wenig zu tun. Möglicherweise sieht man dergleichen als Kind, als junger Pennäler nicht. Ich müßte mir meine Erinnerung umlügen, müßte sie antifeudal mystifizieren, wenn ich irgendeine Schreckens-Reminiszenz vorbringen wollte. Schrecken und Angst verbanden sich damals für (manche) Kinder immer nur mit den konkret militanten Forderungen des Staates. Am liebsten wich man ins Private aus gegenüber der Diktatur, die ja nicht Abstraktum war, sondern übermächtiger Eingriff in den Zeitplan: dann und dann ist »Dienst«, dann und dann droht unausweichlich der Drill, der Befehl, die physische Belastung. Argumente dagegen gibt es in Diktaturen nicht, sondern höchstens irgendein Ausweichen. Die »Junker« indessen hatten, zumindest für uns »Bürgerliche«, überhaupt nichts Schreckliches. Sie lebten und ließen, vielleicht ein bißchen schlechter, leben. Nach 1945 zeigte sich immerhin, wie diese Junker und erst recht ihre Frauen mit Unglück fertig zu werden vermochten ohne Weinerlichkeit. Sie fügten sich ins Unvermeidliche. Tapfer und hochmütig (obwohl, ja vielleicht gerade weil es ihnen »dreckig« ging).

Aber davon ließ man sich nichts träumen – oder höchstens etwas »träumen«, was dann verdrängt wurde. Im übrigen war die Kunst wichtig.

Also: der Fischer spielt halt mit einem Finger mal versehentlich auch zwei Töne. Aber, »der Fischer, der darf sich das leisten«. Und Kulenkampff ist doch etwas fischblütig, etwas kühl, »trotzdem wohl unser bester Geiger«, weil der Kreisler, der Hubermann, der Szigeti nicht mehr auftreten. Und ist nicht der Ton von Karl Freund fürs Brahms-Konzert etwas zu klein? Tilsit hatte auch ein Stadttheater, ein Orchester, einen Generalmusikdirektor, der – sein lautes Mitsingen wurde gern parodiert – Klavierabende veranstaltete, über die in der Memelwacht zurückhaltende Betrachtungen erschienen, weil der Dirigent/Pianist halt ziemlich hoher Pg war. Es gab mehrere Chöre, die miteinander wetteiferten. Sie führten die großen Passions- und Requiems-Musiken auf. Verdis »Requiem« freilich schien ostpreußischen Protestanten schon zu opernhaft: »Das kann man nicht in der Kirche aufführen.«

Was die Oper und das Orchester betraf, so kamen die ganz großen Partituren – Bruckner, Wagner, Strauss – kaum vor. Kleinstadtbewohner neigen zum Lokalpessimismus, wollen zeigen, daß sie sich nicht von ihrem Städtchen die Maßstäbe vorschreiben lassen. Sagen darum, das beste an ihrem Städtchen X sei doch die Eisenbahn oder Autobahn nach Y. Und Y ist dann die jeweils nächste Großstadt: für Tilsit war es Königsberg, im Falle Ingolstadt ist es München. An die »Meistersinger« traute man sich in Tilsit nicht heran, weil die »Grenzlandtheater-Bühne« zu klein sei. Mit der eher kammermusikalischen »Ariadne« hätte man Pech gehabt, weil die Solisten-Stimmen zu klein gewesen wären. Für die Titelpartie des »Don Giovanni« kam im Mozart-Jahr 1941 der Gast aus dem Reich. Er wohnte bei uns. Dem Dienstmädchen spendierte er 10 Reichsmark.

Im Mittelpunkt der klein- oder mittelstädtischen Musikkultur standen die Solo-Abende, weil eben der große Solist in Tilsit auch nicht schlechter spielt als im fernen Berlin – ja vielleicht sogar noch ein bißchen besser, freier, unnervöser. Spätabends dann Nachfeiern im kleinen, privaten Kreis, unter Honoratioren und Interessenten – für diesen »kleinen Kreis« möglicherweise wichtiger und für den Künstler möglicherweise anstrengender als das Konzert selbst.

Neben den offiziellen Konzerten, keineswegs nur als Lückenbüßer, fanden die Hausmusikabende statt als selbstproduzierter Kontrapunkt. Woche für Woche Streichquartett. Weil der Kinderarzt gut Klavier spielte, auch mal Kammermusik mit Klavier. Zum »Forellen-Quintett« bat man einen Kontrabassisten aus dem Orchester. Ein Berufsmusiker, der ganz gern kam. An Zigarren und Wein fehlte es nicht. »Optimismus ist das beste Recht aller Musici«, schrieb der Dirigent des Kirchenchores 1938 ins sorgfältig geführte Gästebuch.

Bestimmt kein Zufall, daß des Tilsiter Dichters Johannes Bobrowski in Tilsit spielender Musiker-Roman »Litauische Claviere« heißt. Wie gesagt, an Krieg und Vertreibungsende dachte damals, zwischen 1933 und 1938, aber wahrscheinlich noch viel länger, kein Mensch wirklich. Auch wenn gelegentlich geschimpft und geunkt wurde. Mein Vater nahm es »den Nazis« übel, daß er – wenn er in Hauskonzerten oder bei Chorbeziehungsweise Musikvereinsfeiern öffentlich auftrat – so viele Zug-Stücke nicht mehr vortragen konnte, die er doch »drauf« hatte: Wieniawskis d-Moll-Konzert, Mendelssohns e-Moll-Konzert und den ganzen Fritz Kreisler. Zu Hause spielten wir das natürlich alles. Und der Landgerichtsdirektor Grimm (kein »Nazi«, aber wie die allermeisten beamteten Juristen in der »Partei«) spielte den Klavierpart des d-Moll-Trios von Mendelssohn in SA-Uniform. Er kam gerade von irgendeiner Veranstaltung. Man fühlte nicht oppositionell, sondern privat. Musik ist unpolitisch. Und die Hauptstadt Berlin und die Bewegungshauptstadt München waren weit.

So wuchs ich mit...

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