Ingeborg Bachmann
Daß Ingeborg Bachmann aus Klagenfurt stammte – sie wurde dort am 25. Juni 1926 geboren –, weiß heute jeder halbwegs wache Zeitgenosse; es gehört fast zur Allgemeinbildung. Mittlerweile wird, Ingeborg Bachmann zu Ehren, beim Klagenfurter Literaturtreffen und Literatur Wettbewerb alljährlich der »Ingeborg Bachmann«-Preis verliehen. Längst erkennt man in der Dichterin eine Große, eine Heilige, eine Prinzessin und Königin unserer Nachkriegs-Literatur. Alles dies ist sie gewiß auch gewesen. Und noch viel mehr: eine zähe, im Grunde durchaus kräftige, weltzugewandte, keineswegs über den Sphären des Politischen und Gesellschaftlichen schwebende Frau, Dame, Dichterin. Sie zog sich gern gut, ja chic, erlesen, elegant an. Sie war ganz scheu und ganz bestimmt.
Aber nicht nur, daß Ingeborg Bachmann aus Klagenfurt kommt, ist mittlerweile bekannt geworden. Entsetzlicherweise wurde auch ihr Tod in Rom zu einem langwährenden, die Öffentlichkeit ausführlich betreffenden Vorgang. Man kann sich das nicht schlimm, nicht fürchterlich genug ausmalen: Alle, die das Glück hatten, Ingeborg Bachmann näher zu kennen, sie immer wieder zu sehen und zu sprechen, mit ihr befreundet zu sein – sie alle hatten doch zumindest eines erfahren: welch ein Wert, welch eine Notwendigkeit die Diskretion gewesen ist für diese österreichische Dichterin. Ingeborg Bachmann fürchtete bundesdeutsch auftrumpfende Vorlautheit ebenso wie anbiedernd österreichische Kameraderie. Und darum war ihr langwieriges Hinsterben im römischen Krankenhaus während endloser Oktober-Wochen des Jahres 1973 nicht nur unsäglich schrecklich, sondern auch unsäglich unangemessen. Alles wurde noch jahrelang diskutiert: wie war es gekommen, daß ihr Zimmer in Flammen stand, daß sie offenbar mit einer Zigarette einschlafend alles in Brand gesetzt hatte, daß sie dann noch hatte telephonieren, daß sie unter strittigen Umständen hatte gefunden und in ein Krankenhaus transportiert werden können? Drei Wochen lang las man nun Tag für Tag Zustandsberichte über die hoffnungslose oder vielleicht doch nicht ganz hoffnungslose Situation der Dichterin.
Es war ein gespenstisches öffentliches Hinsterben in einem römischen Krankenhaus. Politiker, literarische und sonstige Zelebritäten telephonierten mit Rom; Tag für Tag fand ein – wie es hieß: schmerzloser – Todeskampf weltweite Beachtung. Wenn ein alter Mensch langsam dem Tod entgegengeht, wenn ein jäher Unfall einen Jüngeren plötzlich hinwegreißt: dies zu fassen ist die Umwelt irgendwie gewöhnt. Aber von einer 47jährigen, auf Diskretion, Noblesse, Scheu und empfindsamen Abstand angewiesenen Dichterin gleichsam stündlich, als ginge es um Lebens- und Sterbens-Kursschwankungen, hören zu müssen, wie nahe der Tod sei, das war schlimm. Das vergißt man nie. In einem ihrer Gedichte hat Ingeborg Bachmann einen Goethe-Vers für solche Unsäglichkeiten abgewandelt: »Die Augen täten dir sinken.«
Ob es verwunderlich wirkt, daß hier nicht von einer Autorin oder Textproduzentin oder Schriftstellerin die Rede ist, sondern von einer »Dichterin«? Diese Bezeichnung, mag sein, klingt sehr altmodisch, wie »Jüngling« oder »Bräutigam«. Aber auf Ingeborg Bachmann paßte das Wort wie auf niemanden sonst, der seit 1945 seine Stimme erhob. Auch meine Bezeichnungen wie »Dichterin« oder »Prinzessin« galten ja nicht nur einem Rang, sondern vor allem einer Art. Man könnte sich eine Dichterin vorstellen, die im trivialen Sinne wenig Talent besitzt, eine Prinzessin, die arme Eltern hat. Doch die Art, in der Ingeborg Bachmann agierte, re-agierte oder auch dem Gespräch, der Vertraulichkeit sich entzog, die Sicherheit, mit der sie sich ihren Unsicherheiten stellte, ihren Ängstlichkeiten, ihr Vermögen, ja ihre Lust, trotz alledem und alledem Worte zu finden: das war eine poetische Existenz. Wer immer sie sah, sagte ganz ohne zu lächeln, sondern eher zärtlich, ein wenig gerührt, etwas Selbstverständliches bewundernd: »Ja, eine Dichterin«. Wie bei Heinrich von Kleist, dessen »Prinzen von Homburg« Ingeborg Bachmann für Hans Werner Henze geschickt zum Opernlibretto umarbeitete, liegen auf dem Grunde auch vieler ihrer Werke Märchen-Modelle. Das Hörspiel »Die Zikaden« läuft auf eine melancholische Legende hinaus. Am Ende von Ingeborg Bachmanns Malina-Roman erzählt das berichtende Ich die Geschichte, das Märchen von einer Prinzessin.
»Es war einmal eine Prinzessin, es sind einmal die Ungarn heraufgeritten aus dem ins Unerforschbare reichenden weiten Land, es war einmal an der Donau und es zischelten die Weiden, es war einmal ein Strauß Türkenbund und ein schwarzer Mantel… Mein Königreich, mein Ungargassenland, das ich gehalten habe mit meinen sterblichen Händen, mein herrliches Land, jetzt nicht mehr größer als meine Herdplatte, die zu glühen anfängt, während der Rest des Wassers durch diesen Filter tropft … Ich muß aufpassen, daß ich mit dem Gesicht nicht auf die Herdplatte falle, mich selbst verstümmle, verbrenne, denn Malina müßte sonst die Polizei und die Rettung anrufen, er müßte die Fahrlässigkeit eingestehen, ihm sei da eine Frau halbverbrannt…«
Hier zieht sich, und es gibt noch manche andere Feuer-Traumata in Ingeborg Bachmanns Werk, zum Märchen und zur schrecklichen Prophezeiung zusammen, was die Dichterin 1971 am Ende des Malina-Romans schrieb, diesem großen Teil eines Prosa-Zyklus, der den Quasi-Arbeits-Titel Todesarten trug…
Von alledem ahnten 1953 in Mainz, bei der 12. Tagung der »Gruppe 47«, ein paar Dutzend aufgeregte Literaten gar nichts, als dort auch eine ungewöhnliche Österreicherin erschien. Die war sehr jung, 26 Jahre alt, wirkte zugleich scheu, unsicher und geheimnisvoll – eine junge Dame, die aber – um Grillparzer zu zitieren – irgendwie aus anderen Zeiten zu kommen schien und in andere Zeiten zu gehen hoffte als wir übrigen.
Anfang der fünfziger Jahre hatte sich die westdeutsche Nachkriegsliteratur ein wenig konsolidiert. Das Pathos, die großen, erhabenen, mystisch-aufgeblasenen heroischen Begriffe und Worte der dreißiger oder frühen vierziger Jahre existierten – zumindest für die Jüngeren, für diejenigen, die eine neue Literatur ersehnten – nicht mehr. Man lernte eine andere Sprache. Man übte sich im anderen, bewußt armen und kärglichen Extrem. Man wußte insgeheim, daß dies nicht alles sei: aber die großen, schönen, beschönigenden Metaphern waren halt doch verdächtig geworden. So verhielt es sich zumindest in der Literatur-Gruppe 47, die in einer Wahl – nach sämtlichen Lesungen – ihre Preise verlieh. Nicht nach jeder Tagung, sondern eher unregelmäßig, wurde ein Preis vergeben. 1950 an Günter Eich. 1951 an Heinrich Böll. Doch als die westdeutsche Nachkriegsliteratur in der Gefahr schwebte, sich in kargem Trümmer-Realismus zu verlieren, in schmuckloser und herber Attitüde zu verarmen, das Gefährliche, Poetische ganz zu verlernen, da traten in den frühen fünfziger Jahren zwei Österreicherinnen auf, die wie von selbst die Kontinuität reiner, erlesener Sprachdichtung wiederherstellten: Ilse Aichinger, die 1952 den Preis der Gruppe 47 für ihre »Spiegelgeschichte« erhielt, und eben Ingeborg Bachmann, die 1953 für einige große Gedichte mit dem Preis ausgezeichnet wurde. Schon in den ersten Arbeiten, die Ingeborg Bachmann vorlegte, nachdem sie 1949, also 22jährig, über Martin Heidegger eine Doktorarbeit geschrieben hatte mit dem Titel »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« – schon in den ersten poetischen Arbeiten des jungen Fräulein Dr. war ihr Eigentümliches ganz da. Der spezifische, persönliche, gleichwohl unprivate Ton. Die hochgespannte Subjektivität. Die Beziehung zu großen Vorbildern – Hölderlin, Rilke, später Goethe, Trakl, Georg Heym –, das intellektuelle Wagnis, die Offenheit für jeden Schmerz, die strenge Unerbittlichkeit. Es waren Höhenzüge deutscher Lyrik, die sich da fortsetzten.
Ingeborg Bachmanns erster Lyrik-Band, aus dem Jahre 1953, hieß »Die gestundete Zeit«.
Gestundete Zeit, das ist Zeit, die man sorglos verbraucht: Aber plötzlich wird diese Zeit, an die niemand denkt, sichtbar wie eine Forderung. Mit dem Dahinleben ist es vorbei. Alles, was war, muß beendet, gelöscht, zurückgegeben, zurückgejagt werden. »Es kommen härtere Tage.« Ingeborg Bachmann las das in ihrem klagenfurtisch melodiös weichen Ton, gleichwohl mit großer, unerbittlicher, ruhiger Härte.
Hochgespannt, überspannt, sehnsüchtig der Tradition verbunden und doch ganz aus dem Gefühl unserer fünfziger Jahre, die nicht so modisch, dürftig und läppisch waren, wie es eine dürftige und läppische spätere Denkmode meint: so dichtete und las Ingeborg Bachmann zu ihrer Zeit! Ihre zugleich empfindsame und herb durchkonstruierte Lyrik macht ohne weiteres...