„Bildungswissenschaften“: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff ?
für Achim Leschinsky (1944-2011)
„Hallo, kann jemand beurteilen, inwieweit der Studiengang Bildungswissenschaften an der XY-Uni in der Arbeitswelt anerkannt wird?“ Diese bange Frage hat ein Interessierter dem Internet anvertraut. Und im gleichen Forum stößt man auf die noch grundsätzlichere Frage: „Bildungswissenschaften - bringt das überhaupt was?“ Beide Suchende - der erste nennt sich hangover, die zweite Ariane - finden im Netz einige recht ausführliche Antworten, so dass sie sich am Ende, verfolgt man den Austausch weiter, alles in allem gut informiert und irgendwie auch beruhigt fühlen.
Die Erziehungswissenschaft ist demgegenüber nicht beruhigt. Die zunehmende Verwendung des Begriffs „Bildungswissenschaften“ sorgt vielmehr für einige Unruhe innerhalb der disziplinären Welt. Was sind „Bildungswissenschaften“ (Plural), und was ist dann „Bildungswissenschaft“ (Singular)? Ist damit dasselbe wie Pädagogik, dasselbe wie Erziehungswissenschaft gemeint? Handelt es sich um eine Ausweitung, um eine Einengung oder um eine Verschiebung der Blickperspektive bzw. des disziplinären Scheinwerfers auf einen bestimmten Wirklichkeitsbereich? Oder wird irgendwo anders ein ganz neuer Scheinwerfer aufgestellt? Ist der Begriff gefährlich, ungefährlich oder umgekehrt vielleicht hilfreich? Hat man es mit einer Konkurrenzveranstaltung zu tun, die unter Voranstellung eines ebenso zentralen wie traditionsreichen Begriffs pädagogischen Denkens („Bildung“) zu theoretischen, methodischen und institutionellen Konsequenzen führt, die man nicht will? Oder wird alter, unnützer Ballast abgeworfen und unter der Bezeichnung „Bildungswissenschaften“ ein Neustart in eine produktivere Zukunft unternommen?1
Unverkennbar hat der Begriff Bildungswissenschaften Konjunktur. Ein äußerer, formaler Indikator mag sein, dass Amazon Ende März 2011 genau 929 und Ende Juni 1003 Bücher ausweist, bei denen das Wort Bildungswissenschaften im Titel (und/oder im Text) vorkommt. Inhaltlich gesehen hat der Begriff „Bildungswissenschaften“ Konjunktur, weil Bildung selbst als Thema Konjunktur hat und weil Bildungsforschung etwa seit Mitte der 1990er Jahre, mit dem Aufkommen der großen internationalen Leistungsvergleichsstudien und den zahlreichen Begleit-, Neben- und Folgestudien sowie den entsprechenden Förderprogrammen der DFG, des BMBF und privater Stiftungen etc., einen ungeheuren Aufschwung erfahren hat – primär in ihrer Ausrichtung als empirische, genauer: empirischquantitative Bildungsforschung.
Jüngeren Zeitgenossen mag dies als eine Neuerung erscheinen. Den Älteren ist jedoch klar, dass „Bildungsforschung“2 und ähnliche, auf den Bildungsbegriff aufsetzenden Wortschöpfungen wie Bildungsplanung, -ökonomie, -recht, -philosophie, -beratung, -politik, -geographie, -administration etc. natürlich seit Jahrzehnten in der Fachwelt bekannt und üblich sind. Sie gehen auf die 1960er Jahre bzw. die in diesem Jahrzehnt einsetzende erste große Bildungsreformwelle in Deutschland zurück. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wurde ja bekanntlich bereits 1963/65 gegründet. Der Buchtitel von W. Brezinka „Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft“ aus dem Jahre 1971 wurde zum Signum einer disziplingeschichtlichen Übergangs-Epoche. Doch die Entwicklung geht weiter, so dass sich die Frage stellt: Stehen wir nun heute vor bzw. in einem analogen Übergang „von der Erziehungswissenschaft zur Bildungswissenschaft“, wie Casale u.a. (2010) meinen? Und wenn ja – was bedeutet das? Darum soll es im Folgenden gehen.
Zunächst wird die Verwendung des Begriffs „Bildungswissenschaften“ verdeutlicht, und zwar mit Blick auf administrativ-institutionelle und ausbildungsbezogene Kontexte (1). Im nächsten Schritt werden drei grundlegende Varianten der Verwendung des Begriffs „Bildungswissenschaften“ unterschieden und bewertet sowie einige in der aktuellen Diskussion anzutreffende Thesen diskutiert (2). Im dritten Teil wird die Diskussion aus wissenschaftssoziologischer Perspektive, also gewissermaßen „von außen“ als ein Beispiel für die Auseinandersetzung um Zuständigkeiten und Grenzen innerhalb und zwischen Disziplinen betrachtet (3).
1. Bildungswissenschaften in administrativen Kontexten
„Hallo Wissensgemeinde, bei diversen Internetrecherchen stolpere ich immer wieder über die verschiedenen Bezeichnungen Pädagogik, Erziehungswissenschaften, Bildungswissenschaften. Meiner Kenntnis nach handelt es sich bei der Pädagogik um Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Demnach müsste es alles dasselbe sein. Dennoch werden die Studiengänge unterschiedlich benannt. Meistens heißen sie Erziehungswissenschaften, seltener Bildungswissenschaften, manchmal Pädagogik. Ist das Zufall oder Absicht? Und wenn, dann warum? Oder ist es einfach so banal, wie die Tatsache, dass die Brötchen auch gleichzeitig Semmeln oder Schrippen heißen? Oder steckt doch mehr dahinter?“ fragt Biggi im Internet. Und ruft abschließend in diesen Endlosraum hinein: „Wer kennt sich aus?“ In der Tat: Wer kennt sich da noch aus? Selbst bei konstanter Beobachtung der Bezeichnung von neu ausgeschriebenen Professorenstellen, von neuen Forschungsprojekten und neuen Studiengängen ist es sehr schwierig, die Übersicht zu behalten. Zuerst wird ein Blick auf neuere Studiengänge und Studiengangsbezeichnungen geworfen (1.1), dann geht es um die institutionelle Gliederung der Erziehungswissenschaft in Fakultäten, Fachbereiche und Institute (1.2).
1.1 Studiengänge
Lehrerbildung: Am einfachsten hat man es, wenn man auf die Lehrerbildung schaut. Diese hat auf der ganzen Welt (im Prinzip, aber nicht überall wirklich realisiert) vier Komponenten: Fachstudien, fachdidaktische Studien, begleitende erziehungs- und sozialwissenschaftliche Studien sowie Praxisstudien (Praktika). Überall auf der Welt nehmen die erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Studien einen eher geringen Anteil ein. Die Zusammensetzung dieser Studien sowie deren Bezeichnung hierzulande ist wechselnd: „Pädagogisches Begleitstudium“, „erziehungswissenschaftliches Studium Lehramt (ESL)“, „Grundwissenschaften“, „Berufswissenschaften“ etc. In institutioneller Kooperation von Fachdidaktiken und Schulpädagogik gab und gibt es auch die Bezeichnung „Unterrichtswissenschaften“. Kennzeichnend ist, dass nicht allein Pädagogik oder Erziehungswissenschaft dieses Studiensegment abdecken, sondern Psychologie, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft hinzukommen. Traditionell ist dieses Studienelement nur sehr schwach curricular strukturiert und sequenziert, d.h. Studierende können aus einem sehr breiten Angebot mehr oder weniger beliebig wählen, wobei diesbezüglich zwischen Bundesländern, Universitäten und Lehrämtern Unterschiede bestehen (für NRW vgl. Terhart, Lohmann & Seidel, 2010). Ebenso gehört es zur Tradition, dass man vorwiegend erziehungswissenschaftliche Veranstaltungen besucht; Psychologie, Soziologie u.a. fungieren als Wahlpflichtfächer. In diesem Segment eines Lehramtsstudiums vertreten zu sein, garantiert einerseits eine stabile institutionelle Absicherung sowie eine bestimmte Ausbaugröße, denn alle Lehramtsstudierenden müssen dieses schmale Segment absolvieren. Andererseits ist dieser Teil der Lehrerbildung (trotz „Bologna“!) auch weiterhin stark staatlich reguliert, so dass die beteiligten Disziplinen in der Gestaltung nicht frei sind.
Die die KMK-Empfehlung (2004) vorbereitende Arbeitsgruppe hat eine einheitliche Bezeichnung für dieses Studienelement gefunden: „Bildungswissenschaften“3; die Kultusministerkonferenz hat diese übernommen. Insofern ist es nicht zutreffend, wenn man Bildungswissenschaften als administrative Geburt bezeichnet (Arnold, 2009): Die Bezeichnung stammt aus dem Kontext der Wissenschaft; sie sollte eine bundesweit einheitliche Benennung für dieses Studienelement schaffen und verdeutlichen, dass dieses Element der universitären Lehrerbildung von mehreren Disziplinen bedient wird. Auch wird eine klare Differenz zu genuin erziehungswissenschaftlichen Studiengängen markiert. In diesem Kontext wird eine gewissermaßen pragmatische Definition von „Bildungswissenschaften“ vertreten: Es handelt sich um den nicht auf die Fächer- und fachdidaktischen Studien bezogenen Teil universitärer Lehrerbildung; diejenigen Disziplinen, die hier Lehrangebote machen, bilden die „Bildungswissenschaften“. Wie viel von welcher Disziplin in diesem Studiensegment vertreten sein soll, hat weder die KMK-Arbeitsgruppe noch die KMK selbst definiert, denn dieses Segment sollte gerade nicht über Inhalte, sondern über zu erwerbende Kompetenzen der Absolventen definiert sein. Die beteiligten Disziplinen sollten je nach Vermögen und unter Berücksichtigung standortspezifischer Ausbaustände jeweils ihren Teil zu den bildungswissenschaftlichen Studien und den dadurch anzubahnenden Kompetenzen beitragen. Dies dient einerseits der wissenschaftlichen Offenheit – befördert allerdings (so Kritiker) insbesondere im Kontext des Bologna-Prozesses den inner- und interdisziplinären Machtkampf um Zuständigkeiten, Anteile am Curricularnormwert (CNW) bzw. am zu verteilenden workload, an Leistungspunkten und Prüfungsverpflichtungen. Und am Ende geht es natürlich immer auch um Absicherung von institutionellen Bereichen, um den Ab-, Um- oder Neubau von Lehrstühlen etc.
Hauptfachstudiengänge: Bei den erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudiengängen ist die Lage auf den ersten Blick einfacher, da hier die Disziplin allein die...