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E-Book

Es gibt keine kulturelle Identität

Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur

AutorFrançois Jullien
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl80 Seiten
ISBN9783518754849
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

In der globalisierten Welt geht die Angst vor einem Verlust der kulturellen Identität um, und fast überall formieren sich die selbsterklärten Retter: In Frankreich gibt Marine Le Pen vor, sie »im Namen des Volkes« zu verteidigen, die AfD fordert in ihrem Grundsatzprogramm »deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus«, und die Identitäre Bewegung ruft gleich in mehreren Ländern mit aggressiven Aktionen zur ihrer Bewahrung auf.

Doch gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität? In seinem neuen Buch zeigt François Jullien, dass dieser Glaube eine Illusion ist. Das Wesen der Kultur, so Jullien, ist die Veränderung. Er plädiert dafür, Bräuche, Traditionen oder eine gemeinsame Sprache als Ressourcen zu begreifen, die prinzipiell allen zur Verfügung stehen.



<p>Fran&ccedil;ois Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist Philosoph und Sinologe. Er war unter anderem Direktor des Coll&egrave;ge international de philosophie und Professor an der Universit&auml;t Paris-Diderot. F&uuml;r sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2010 mit dem Hannah-Arendt-Preis f&uuml;r politisches Denken.</p>

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Leseprobe

I.

Das Universelle, das Gleichförmige, das Gemeinsame


Um in diese Debatte einzusteigen, muss man zunächst die Termini präzisieren, sonst kommt man nicht voran. Beginnen wir mit den rivalisierenden Begriffen, die ich eben genannt habe: das Universelle, das Gleichförmige und das Gemeinsame. Wir müssen der Gefahr entgehen, sie miteinander zu verwechseln, und sie zugleich von den Zweideutigkeiten reinigen, die jeden von ihnen beflecken. Das Universelle, das die Spitze dieses Dreiecks bildet, hat wiederum selbst zwei Bedeutungen, die wir voneinander unterscheiden müssen, da man sonst weder versteht, woher seine Schärfe rührt, noch, was damit für die Gesellschaft auf dem Spiel steht. Da ist einerseits eine konstative, man könnte sagen schwache Bedeutung, die sich auf die Erfahrung beschränkt: Soweit wir bisher beobachten konnten, stellen wir fest, dass etwas immer so gewesen ist. In diesem Sinne bezieht sich der Begriff auf das Allgemeine, er bereitet keine Probleme und tut niemandem weh. Das Universelle besitzt jedoch auch eine starke Bedeutung, nämlich die der universellen Gültigkeit im genauen oder strengen Sinn – sie ist es, woraus wir, hier in Europa, eine Forderung des Denkens gemacht haben: Wir behaupten von vornherein, noch vor aller Bestätigung durch die Erfahrung (ja sogar bewusst auf sie verzichtend), dass eine bestimmte Sache so sein muss. Sie ist nicht nur bisher so gewesen, sondern sie kann gar nicht anders sein. Bei diesem »Universellen« geht es nicht länger um etwas Allgemeines, sondern um eine Notwendigkeit: universell nicht nur aufgrund von Tatsachen, sondern von Rechts wegen (a priori); nicht nur komparativ, sondern absolut; nicht so sehr extensiver als vielmehr imperativer Natur. Auf ebendieses Universelle im starken und strengen Sinn haben die Griechen die Möglichkeit der Wissenschaft gegründet; das Europa der klassischen Epoche hat es von der Mathematik auf die Physik übertragen (Newton) und daraus – überaus erfolgreich, wie wir wissen – die »universellen Naturgesetze« abgeleitet.

Damit sind wir bei einer Frage, welche die Moderne spaltet: Gilt dieses Universelle im strengen Sinn (dem die Wissenschaft ihre Macht verdankt, da sie die logische Notwendigkeit auf Naturphänomene anwendet oder mathematische Regeln auf die Physik) auch für das menschliche Verhalten? Ist es auch für den Bereich der Ethik relevant? Ist unser Verhalten in einem ähnlichen Sinn der Notwendigkeit »kategorischer« moralischer Imperative (im Sinne Kants) unterworfen wie die Naturphänomene jener apriorischen Notwendigkeit, die den unbestrittenen Erfolg der Physik ausmacht? Oder sollte man nicht für den separaten Bereich der Moral, für das (geheime) Rückzugsgebiet der inneren Erfahrung, das Recht auf etwas einfordern, das geradezu das Gegenteil des Universellen darstellt: das Individuelle oder das Singuläre (wie das Nietzsche oder Kierkegaard getan haben)? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als der Terminus des Universellen gerade in der Sphäre der Subjekte und, noch allgemeiner, jener der Gesellschaft durch die ihm anhaftende Mehrdeutigkeit belastet ist. Wenn wir von »Universal-« bzw. »Weltgeschichte« sprechen (oder von »Expositions Universelles«, wie die »Weltausstellungen« im Französischen heißen), ist damit sehr wohl etwas Allumfassendes und Allgemeines, aber nicht unbedingt etwas Notwendiges gemeint. Aber gilt das nicht auch für die Universalität der Menschenrechte? Sprechen wir diesen nicht ebenfalls eine prinzipielle Notwendigkeit zu? Woraus bezieht diese Redeweise ihre Legitimation? Wird diese Universalität eventuell missbräuchlicherweise behauptet?

Diese Frage stellt sich in der Gegenwart auch deshalb besonders dringlich, da wir inzwischen eine wichtige Erfahrung, ja vielleicht sogar die entscheidende Erfahrung unserer Epoche gemacht haben: In der Begegnung mit anderen Kulturen stellen wir fest, dass die Forderung nach universeller Gültigkeit, auf welcher die europäische Wissenschaft basiert und die auch von der klassischen Moraltheorie formuliert wurde, alles andere als universell ist. Sie ist vielmehr singulär – also das Gegenteil von universell – und sehr eng an die europäische Kulturgeschichte gekoppelt, jedenfalls was die Behauptung ihrer Notwendigkeit anbelangt. Und überhaupt: Wie übersetzt man den Begriff des »Universellen«, wenn man Europa einmal verlässt? Das ist auch der Grund, weshalb die Forderung nach Universalität, die wir so bequem in das Glaubensbekenntnis unserer Sicherheiten eingereiht und zum Prinzip all dessen gemacht haben, was uns evident erscheint, mit solchem Nachdruck zurückkehrt, weshalb sie vor unseren Augen den Anschein der Banalität abstreift und weshalb sie plötzlich als erfinderisch, gewagt, ja abenteuerlich erscheint. Und tatsächlich nimmt man sie außerhalb Europas als etwas faszinierend Fremdartiges wahr.

Auch der Begriff des Uniformen oder Gleichförmigen ist missverständlich. Zunächst könnte man annehmen, es stelle die Realisierung und Erfüllung des Universellen dar. In Wirklichkeit ist es das Gegenteil davon, ja ich würde sogar sagen, seine Perversion. Denn anders als das Universelle ist es nicht der Vernunft, sondern der Logik der Produktion untergeordnet: Es handelt sich lediglich um Standards und Stereotype. Das Uniforme verdankt sich nicht der Notwendigkeit, sondern der Bequemlichkeit: Ist es nicht billiger, gleichförmige Dinge zu produzieren? Während das Universelle auf »das Eine hin« ausgerichtet ist (das ist sein eigentliches Ideal), geht es beim Uniformen nur darum, ein und dasselbe zu wiederholen; es wird immer wieder identisch »geformt« und ist nicht länger erfinderisch. Diese Verwirrung ist heute umso gefährlicher, als aufgrund der Globalisierung überall auf der Welt dieselben Dinge reproduziert und verteilt werden. Weil man nichts anderes mehr sieht, weil die Landschaft mit ihnen gesättigt ist, sind wir versucht, ihnen die Legitimation des Universellen zu verleihen, sie als prinzipielle Notwendigkeit anzuerkennen, obschon sie sich in Wirklichkeit nur einer Ausdehnung des Marktes verdanken und ihre Rechtfertigung allein ökonomisch ist. Dass uniforme Lebensweisen, Objekte, Waren, aber auch Diskurse und Meinungen dank der technischen und medialen Möglichkeiten den gesamten Planeten überziehen, heißt noch lange nicht, dass sie deshalb universell sind. Und selbst wenn man ihnen überall begegnen würde, gäbe es dafür keinen zwingenden normativen Grund.

Während sich das Universelle von der Logik herleitet und das Gleichförmige dem Ökonomischen zuzuordnen ist, hat das Gemeinsame eine politische Dimension: Das Gemeinsame ist das, was geteilt wird. Es war dieses Konzept, von dem aus die Griechen die Polis entworfen haben. Im Gegensatz zum Gleichförmigen ist das Gemeinsame nicht das Gleichartige – eine besonders wichtige Unterscheidung in einer Zeit, in der wir unter dem von der Globalisierung auferlegten Regime der Uniformität versucht sind, das Gemeinsame auf das Ähnliche zu reduzieren, anders ausgedrückt: auf die Assimilation. Gemeinschaftlichkeit qua Gleichartigkeit ist jedoch – wenn wir in solchen Fällen überhaupt von Gemeinschaftlichkeit sprechen wollen – ärmlich. Daher sollte man das Gemeinsame, das nicht gleichartig ist, befördern: Allein dieses ist intensiv, allein dieses Gemeinsame ist produktiv. Genau das fordere ich an dieser Stelle ein, denn einzig das nicht gleichartige Gemeinsame ist wirkungsvoll. Oder wie Braque sagte: »Das Gemeinsame ist wahr, das Ähnliche ist falsch.« Er illustrierte dies am Beispiel zweier Maler: »Trouillebert ähnelt Corot, aber sie haben nichts gemeinsam.« Genau das ist heute der springende Punkt, und zwar unabhängig von der ins Auge gefassten Ebene der Gemeinschaftlichkeit (ob nun einer Stadt, einer Nation oder der Menschheit insgesamt): Nur wenn es uns gelingt, ein Gemeinsames zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinschaft aktiv sein, so dass wir die Möglichkeit haben werden, dieses wirklich zu teilen.

An einer anderen Ecke dieses theoretischen Dreiecks gelegen, definiert sich das Gemeinsame – anders als das Universelle – nicht dadurch, dass es irgendwelche Vorschriften macht. Zu einem Teil ist es dabei schlicht gegeben. Man denke an das Gemeinsame meiner Familie oder meiner »Nation«, das mir qua Geburt...

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