Vorwort
Wir begegneten uns zum ersten Mal auf dem Flur eines Landgerichts. Kerstin Ostmann, Anfang vierzig, hochgewachsen, sportliche Figur, blond, mit wachen blauen Augen und einem offenen Gesicht, stand vor dem Raum, in dem der Prozess stattfinden sollte. Ihr Prozess. Am 18. Juli 2006 um 13 Uhr. Neben der Tür in Augenhöhe war in einem Kästchen hinter einem Plastikfenster zu lesen: Ostmann/Dr. Zeitler*, darunter der Name der Klinik.
Kerstin Ostmann war an Brustkrebs erkrankt, vor knapp einem Jahr wurden Metastasen in ihrer Leber diagnostiziert. Am Beginn ihres Krebsleidens Mitte 1996 hatte ihr Dr. Zeitler, damals noch Chefarzt der Gynäkologie, einen bösartigen Tumor aus der rechten Brust operiert. Im November 2000 hatte er während einer weiteren Brust-OP vergessen, ihr einen befallenen Lymphknoten zu entfernen, der eineinhalb Jahre später zufällig bei der Nachsorge-Untersuchung in einer Uniklinik wiederentdeckt wurde. Er war mittlerweile auf mehr als die doppelte Größe angewachsen. Den vergessenen Lymphknoten hatte Kerstins Anwalt in den Mittelpunkt der Klage gegen den ehemaligen Chefarzt gerückt.
Ich hatte nicht nur ein journalistisches Interesse an dem Verfahren. Die Ärztin Dr. Ulrike Zunker und ich waren für die Alexandra-Lang-Stiftung, die Opfern von Behandlungsfehlern bei der Durchsetzung ihrer Rechte hilft, zur Prozessbeobachtung angereist. Sie beriet die Stiftung in medizinischen Fragen, ich gehörte ihr als Vorstandsmitglied an. Kerstin Ostmann hegte einige Wochen vor dem Gerichtstermin Zweifel an der Prozessführung ihres Anwalts, suchte nach Orientierung und bat uns um Unterstützung.
Ihre Zweifel waren berechtigt. Die Ärztin der Stiftung hatte in den Akten noch weitaus schwerwiegendere Behandlungsfehler entdeckt. Dr. Zeitler hatte trotz ihres familiär bedingten hohen Krebsrisikos jahrelang für Kerstin keine Chemotherapie in Erwägung gezogen, nicht einmal nach einem 1999 aufgetretenen Tumorrezidiv. Außerdem war sie von ihm über Jahre hinweg nicht mit einer antihormonellen Therapie behandelt worden, obwohl sie an einem hormonabhängigen Brustkrebs litt. Diesen Versäumnissen, die sich nach Expertenmeinung verkürzend auf ihre Überlebenszeit auswirkten, hatte ihr Anwalt keine Beachtung geschenkt.
Ein fataler Fehler, wie sich zeigen sollte. Der eindeutige Nachweis, dass es sich bei dem zuerst entdeckten und dem später in der Uniklinik auffälligen Lymphknoten um ein und denselben handelte, war nicht zu erbringen. Sich auf Antrag des Anwalts ad hoc mit der unterbliebenen Chemotherapie zu befassen, lehnte das Gericht ab. Richter und Gerichtsgutachter waren auf diese Thematik nicht vorbereitet.
Nach dem Prozess saßen wir in einem nahen Café. Kerstins Ehemann Bernd wirkte wie benommen, als hätten die Vorgänge seine Lebensatmosphäre auf lange Zeit vergiftet. Die fast drei Jahre langen Vorbereitungen auf den Prozess, die vielen Anwaltsgespräche, die Berge von Schriftsätzen, die auf die Anwaltsstrategie zugeschnittenen medizinischen Privatgutachten – und nun diese Niederlage. Eine Leere war zurückgeblieben, die ihn in eine schwermütige Unbeholfenheit hatte fallen lassen.
Und Kerstin, die diese Vorgänge hauptsächlich betrafen? Mich verblüffte ihre Reaktion, machte mich neugierig auf diese Person. Sie zeigte keine Spur von Niedergeschlagenheit. In ihrer Haltung lagen Stolz und Trotz. Im Dialog der Blicke sie ergründend, entdeckte ich auf Kerstins Gesicht Züge einer erhabenen Gewissheit, basierend auf der Erkenntnis, medizinisch stümperhaft behandelt und anwaltlich falsch beraten worden zu sein. Der Prozess war für sie wie eine überflüssige Erfahrung. Das Bewusstsein, recht zu haben, rotierte in ihr wie ein kraftvoller Motor.
»Frau Ostmann«, sagte die Ärztin der Stiftung, als wir im Café saßen, »an Ihrer Stelle würde ich keinen Gedanken mehr an den Prozess verschwenden und ihn auch nicht mehr fortsetzen. Das kostet nur unnötig viel Kraft und viel Zeit. Beides aber brauchen Sie für Ihre Krankheit, darauf würde ich nun alle Energien konzentrieren.«
Kerstin sagte nichts, der Einwand erreichte sie nicht. Sie hörte sich die Bemerkungen an, geduldig, aber ungerührt. Die Äußerungen trafen nicht ihr Gefühl, nicht ihre Gedanken. Sie wirkte keineswegs erschüttert, nicht einmal aufgewühlt, als habe das Gericht sich mit einem anderen Fall befasst. Die Haltung entsprach dem Bewusstsein ihrer ungetrübten seelischen Kampfkraft, die durch ihre Erkenntnis, falsch beraten worden zu sein, noch gestärkt wurde. Auf der Suche nach Gerechtigkeit war sie lediglich vom Weg abgekommen, nicht aber von ihrem Ziel. Die Frau und ihr Fall zogen mich an, ich beschloss, mir ihre Akten gründlich anzusehen.
Während des Gesprächs ließ sie keine Zweifel daran, dass sie sich als sterbend betrachte. Sie sagte das in einem ruhigen, gefassten Ton, als handelte es sich um etwas Alltägliches. Und sie sagte das nicht von sich aus, um Aufmerksamkeit zu erheischen, sondern erwähnte es, als ich nach ihren weiteren Therapieoptionen fragte und sie mit dieser Gewissheit antwortete, unpathetisch und illusionslos, ohne jede Erwartung von Mitleid.
Ich würde die Kopien der Ostmann-Akten im Stiftungsbüro finden. Die Alexandra-Lang-Stiftung für Patientenrechte war von der Wormser Industriellen-Erbin Ilse Lang ins Leben gerufen worden, deren Tochter Alexandra im Jahre 2000 nach einer Infusion in der Praxis eines niedergelassenen Arztes daheim zusammengebrochen und Tage später an den Folgen eines Multiorganversagens gestorben war, als deren Ursache eine verunreinigte Infusionslösung vermutet wurde. Der schmerzliche Verlust ihrer Tochter weckte in Ilse Lang das Bedürfnis, Opfern von medizinischen Behandlungsfehlern zu helfen. Sie, der Unternehmensberater Dr. Kurt Becker und ich bauten die Stiftung auf.
Ich brauchte einige Tage, bis ich mich durch die Akten gelesen hatte. Meine vielen Fragen, die ich zwischendurch an Kerstin richtete, beantwortete sie auf Anhieb. Sie hatte die einzelnen Diagnosen und Therapien und die vielen an ihr vollzogenen Behandlungsschritte nahezu vollständig im Kopf. Ihre Krankengeschichte fesselte mich mehr und mehr. Ob sie sich vorstellen könne, gemeinsam mit mir ein Buch darüber zu verfassen, fragte ich sie einige Wochen nach dem Prozess. Kerstin war sofort einverstanden.
Wir vereinbarten, das Buch aus Kerstins Ich-Perspektive zu schreiben. Wir hatten beide die Vorstellung, dass ihre Schilderungen durch diese Form eindringlicher und ihre Gedanken, Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse authentischer zum Ausdruck kommen würden. Kerstin besprach viele CDs, schickte mir unzählige Mails und füllte Kladden mit Gedanken, Interpretationen, Schilderungen und Beschreibungen ihrer jeweiligen Befindlichkeiten, die wir gemeinsam zu einem Erzählstrang verarbeiteten.
Während der vielen Begegnungen mit Kerstin entstand eine große freundschaftliche Nähe. Ein wachsendes gegenseitiges Vertrauen festigte die gemeinsame Arbeit, eine von ihr und mir zeitlebens empfundene familiäre Unvollständigkeit, mitunter gar als Mangel begriffen, verdichtete unsere Bindung, die bald eine familiäre werden sollte. Kerstin, deren Mutter Anfang der 90er-Jahre an Krebs gestorben war, fühlte sich mittlerweile elternlos. Ihr Vater, ein Einzelgänger, entzog sich seinen Kindern und war für Kerstin selbst in ihren schwersten Krankheitsphasen nicht erreichbar, von einem besorgten Kümmern erst gar nicht zu reden.
Meine Ehe war kinderlos geblieben. Eine Tochter hatte mir stets gefehlt, eine wie Kerstin: zuverlässig, couragiert, anhänglich, besorgt, mitfühlend, hilfsbereit. Bald wählte sie für ihre Mails an mich die Anrede »Lieber Daddy«. Im Sommer 2007 vereinbarten wir die Adoption, Kerstin wurde, von einem Familiengericht bestätigt, offiziell unsere Tochter.
Die vielen Monate der gemeinsamen Arbeit, die zusammenfielen mit einer Phase ihres sich verschlechternden Gesundheitszustandes, in der sie sich ihrer nahenden Endlichkeit bewusst wurde, ließen mich zu einem Bewunderer ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit werden. Während ihres Erinnerns tauchte ich ein in ihre vergangenen zehn Jahre, erahnte ihre Qualen, die körperlichen nach diversen Eingriffen und die inneren Verwerfungen nach schlechten Diagnosen, und ich begriff im Zeitraffer ihrer Erzählungen, dass Kerstin als Folge der permanenten Lebenseinschnürung einen erstaunlichen Prozess vorgezogener Reifung durchgemacht hatte, verbunden mit der Abrundung ihres bemerkenswerten Charakters. Mich erstaunte zugleich, dass Verzagtheit und Larmoyanz in ihr selbst dann nicht aufgekeimt waren, als sie die am Einzelschicksal desinteressierte Medizinerroutine in ihrer schlimmsten Ausprägung erlebte. Das schien in ihr eher ein trotziges Dennoch hervorzurufen.
Kerstin war eine Kämpfernatur, deren Lebenswille sich mit zunehmender Schwere ihres Schicksals stärker ausprägte. Ihre kraftvolle Lebensbejahung nötigte allen Bewunderung ab, die ihre Art der Krebsbewältigung miterlebten – der Familie, Freunden und einigen der uns beim Buchprojekt in medizinischen Fragen beratenden Ärztinnen und Ärzte. Ihr energischer Widerstand gegen den sich in ihrem Körper ausbreitenden Krebs hat nach Einschätzung dieser Mediziner ihre Überlebenszeit deutlich verlängert. Kerstin starb am 14. April 2008 im Alter von 43 Jahren. Womöglich wäre sie bei sachgerechter medizinischer Betreuung noch am Leben.
Die Schilderungen über Kerstin Ostmanns Krebsjahre sind mutmachende und energiegeladene Zeugnisse einer starken Frau, die ihrem kurzen Leben trotz vieler Torturen mehr Erlebnisreichtum und Freude hat abringen können als mancher mit...