Tagebucheintrag vom 7. Juni 1996, 0:10 Uhr:
»Habe gerade sehr viel gefressen. Irgendwie hat mir die ganze Sache keinen Spaß gemacht. Die ersten zwei Croissants mit Käse habe ich verschlungen, während ich was am Computer getippt habe – habe es gar nicht richtig bemerkt, und husch, weg waren sie, ohne dass ich sie geschmeckt hätte. (…) Morgen wollte ich keinen Bauch haben, ich wollte W. zum Essen einladen und mein Kleid anziehen. Selbst schuld. Werde, bis er kommt fasten, eventuell nur Obstsaft.«
Dies ist die letzte Seite eines Tagebuches, das gefüllt ist mit Diäten, die ich nie durchhalten konnte, mit detaillierten Zielgewichtsrechnungen, mit Durchhalteparolen und Selbstanklagen. Mit dem letzten Eintrag in jener Nacht nahm ich erstmals deutlich wahr, dass mir die Essanfälle in Wahrheit keine echte Erleichterung verschafften.
Indem ich mich mit den Hintergründen meiner Esssucht auseinandersetzte, reifte in mir ein tieferes Verständnis für mein Verhalten. Langsam begriff ich, dass es nötig sein würde, mein Denken und Handeln neu auszurichten, statt die immer gleichen, destruktiven Gedankenschleifen zu drehen. Um 0:22 Uhr schrieb ich: »aus mit dem Tagebuch des Selbstmitleides. Schlussstrich.«
Ein paar Tage später, am 11. Juni 1996, begann ich mit einem neuen Tagebuch. Ich wählte eines, das mich förmlich anlächelte, in meiner Lieblingsfarbe lila:
»Dies ist ein Schönwetter-, ein Positiv-Denken-interessante-Erlebnisse-Tagebuch. In meinem vorherigen Tagebuch habe ich genug schlechte Gedanken aufgeschrieben. Wenn du sie vermisst, nimm es zur Hand und aale dich in dem Selbstmitleid … das kannst du dort in jeder erdenklichen Facette finden. Hier nicht. Was nicht heißen soll, dass ich Probleme nicht lösen werde. Das werde ich. Und wie. Dieses Tagebuch ist ein Schritt in diese Richtung. Will nicht mehr niederschreiben, was ich tun sollte, wie im alten Tagebuch, sondern was ich getan habe!«
Ich übernahm die Verantwortung für mich selbst, statt auf ein Wunder zu warten, das nie kam. Langsam begann ich, vorwärts zu gehen, statt mich immerzu im Kreis zu drehen.
In der Esssucht neigen wir dazu, uns mit anderen Menschen zu vergleichen und uns selbst als minderwertig zu erleben, was letztlich eine Ausprägung der toxischen Scham ist.
Daher möchte ich betonen, dass mein Weg keinesfalls so klar strukturiert ablief, wie er Ihnen jetzt vielleicht erscheinen mag. Er glich eher einer Schlangenlinie:
Ich probierte dieses und jenes aus. Manchmal konsequent, viel zu oft nicht. Ich war selten sicher, ob meine Bemühungen auch Früchte tragen würden. Es war ein Weg des »Versuchs und Irrtums«, mit vielen Schleifen, vielen Essanfällen, viel Verzweiflung, aber auch mit vielen schönen Erlebnissen.
Was ich in diesem Buch beschreibe, ist die Essenz aus meinen jahrelangen Erfahrungen. Es sind jene Dinge, die mir rückblickend am meisten geholfen haben. Doch sie sollen Ihnen bloß als Anregungen dienen. Es ist an Ihnen, Ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen, in Ihrem höchstpersönlichen Tempo.
Förderliche Gedanken einladen
Wenn wir mitten in der Esssucht stecken, kreisen unsere Gedanken unablässig um Essen, Figur und Gewicht. Sie kreisen um all das, was wir heute wieder nicht geschafft haben und um unsere vermeintlichen Fehler und Mängel. Wir können uns selbst nicht ausstehen, was wir uns unzählige Male am Tag bestätigen. In uns wütet eine Stimme, die uns einflüstert, dass wir nicht schön, nicht gut genug wären. Diese Gedanken setzen einen Teufelskreis in Gang: Je mieser wir uns fühlen, desto mehr beschimpfen wir uns, fühlen uns dadurch noch mieser, brauchen den Essanfall, um das Gefühl zu betäuben, und so weiter und so fort.
»Sie sind wertvoll, so wie Sie sind.« Falls ich Ihnen das nun sagte, würden Sie mir vermutlich ohnehin nicht glauben, oder? Deswegen werde ich erst gar nicht den Versuch unternehmen, Sie oder Ihre innere Stimme davon zu überzeugen.
Stattdessen möchte ich Ihnen zusätzliche Denkvarianten anbieten, um Ihren Teufelskreis aus destruktiven Gedanken zu verlangsamen. Bedienen wir uns dazu dem Bild einer Balkenwaage: Die gewohnten, destruktiven Gedanken ruhen dann in der einen Waagschale, in die andere legen wir unsere förderlichen Gedanken, die ein Gegengewicht bilden. Dadurch entsteht eine Balance, die destruktiven Gedanken fallen nicht mehr unverhältnismäßig stark ins Gewicht und nehmen uns somit nicht mehr so stark in Beschlag.
Sie müssen jetzt auch nicht alles positiv sehen, denn das wäre vielleicht nur eine weitere Maske, die Sie sich überstülpen. Das Leben besteht nun einmal aus Gut und Schlecht, aus Positiv und Negativ, aus Hell und Dunkel, aus Lachen und Weinen – und aus den vielen Schattierungen dazwischen.
Ich möchte Sie dazu ermutigen, Ihren Fokus zu verschieben. Wenn Sie – so wie ich – ein Harry-Potter-Fan sind, kennen Sie vielleicht die Worte von Albus Dumbledore:
»Aber glaubt mir, dass man Glück und Zuversicht selbst in Zeiten der Dunkelheit zu finden vermag. Man darf nur nicht vergessen ein Licht leuchten zu lassen.«
(aus dem Film zum Buch: »Harry Potter und der Gefangene von Askaban« von Joanne K. Rowling)
Lassen Sie uns wieder mit einem Beispiel beginnen: Wenn wir an einem trüben Tag durch die Stadt gehen, können wir uns über das trostlose, graue Straßenbild beschweren. Wir können unseren Fokus aber auch darauf richten, Farben zu entdecken: eine Blume hier, ein buntes Haus dort. Es darf beides – die graue und die bunte Welt – nebeneinander existieren, wir entscheiden, wo wir momentan hinsehen möchten. Aufmerksamkeit ist wie Dünger, je mehr davon wir einer Sache zuteilwerden lassen, desto stärker wird sie. Konzentrieren wir uns auf das Unangenehme, vermehrt es sich. Gleiches gilt jedoch auch für das Angenehme.
Nun können Menschen mit Esssucht zum Beispiel in jeder Auslagenscheibe Ihre Figur betrachten und verächtlich kommentieren – oder Sie beobachten den süßen Hund auf der anderen Straßenseite. Sie haben die Wahl.
Um den Fokus zu verschieben, also die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, braucht es immer wieder von neuem eine Entscheidung. Wir können nicht erwarten, gewohnte Denkschleifen und Handlungsmuster von heute auf morgen ablegen zu können. Ähnlich wie beim Muskelaufbau ist stetiges Training angesagt.
Dafür werde ich Ihnen ein paar Übungen vorstellen, die in den Alltag integrierbar sind, ohne dass Sie dafür viel Zeit freischaufeln müssen. Beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit, beim Schlangestehen an der Supermarktkassa, im Aufzug, auf dem Kinderspielplatz, in langweiligen Meetings …
Dennoch kann es einen herausfordern, an das Üben zu denken. Das ist völlig normal! Einerseits, weil wir uns aufgrund der toxischen Scham dagegen wehren, etwas für uns selbst zu tun. Und dann sind wir schlicht und einfach Gewohnheitstiere. Bis Neues in uns integriert ist, braucht es stetiges Dranbleiben und regelmäßiges Üben.
Falls Sie also über längere Zeit nicht daran denken, seien Sie sich bitte nicht böse. Sollten Ihnen die Übungen zusagen, fangen Sie einfach bei der nächsten Gelegenheit wieder damit an. Sie können sich dazu auch kleiner Hilfsmittel bedienen, wie einer Erinnerung im Handy, einer Haftnotiz am PC oder eines kleines Herzens, das Sie mit Kuli auf Ihre Handinnenfläche gemalt haben. Auch die Koppelung an täglich wiederkehrende Alltagshandlungen kann sinnvoll sein, zum Beispiel, wenn Sie stets beim Zähneputzen, Duschen oder auf der täglichen Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Auto, üben.
Dankbarkeit mal fünf: Bitte überlegen Sie sich jeden Abend fünf Dinge, für die Sie heute dankbar waren, über die Sie sich gefreut haben, die Sie schön oder angenehm fanden. Falls Sie möchten, notieren Sie diese fünf Dinge in Ihr Tagebuch. Bitte finden Sie möglichst kleine Vorkommnisse wie zum Beispiel: Der Straßenbahnfahrer hielt extra für mich an; die Rose roch gut; die Verkäuferin lächelte freundlich; meine Freundin hat angerufen; die Dusche war angenehm warm; meine Katze begrüßte mich; die Sonne schien so wohltuend in mein Gesicht. Falls Sie keine fünf Begebenheiten finden sollten, reicht eine, das ist ein guter Anfang.
Wörter malen: Schreiben Sie ein Blatt Papier voll mit stärkenden oder schönen Worten: Danke, Liebe, Mut, Vertrauen, Freude, Hoffnung, Luftballon, Schmetterling, … Nutzen Sie dafür viele verschiedenen Farben, Schriftarten und -größen.
Positive Anker: Umgeben Sie sich mit Nutzgegenständen, die Sie an etwas Freudvolles, an etwas, das Sie mögen, erinnern. Sie lieben Lila? Dann könnte ein lila Kugelschreiber, eine lila Kuscheldecke oder ein lila Handtuch genau das Richtige für Sie sein. Sie mögen Schmetterlinge? Wie wäre es mit einer großen Schmetterlingstasse für Ihren Arbeitsplatz? Sie finden Pippi Langstrumpf bewundernswert? Vielleicht entdecken Sie einen Schlüsselanhänger, auf dem sie zu sehen ist?
Wenn Sie einen dieser Gegenstände benutzen, berühren oder sehen, spüren Sie bitte bewusst den damit verankerten, freudvollen, stärkenden Gedanken. Umgeben Sie sich mit so vielen Ankern, wie Ihnen beliebt.
Als positive Anker eignen sich auch schöne Dinge: beispielsweise ein Stein, der Sie an einen angenehmen Spaziergang in der Natur erinnert, oder ansprechende Postkarten, die Sie auf einer Pinnwand...