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E-Book

Die lange Nacht der Metamorphose

Über die Gentrifizierung der Kultur

AutorGuillaume Paoli
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783957574947
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Es scheint, als seien wir Zeuge einer grundlegenden Transformation des Menschen : Unsere Subjektivität, unsere Intimität und unser Bezug auf die äußere Welt haben sich in den letzten Jahren fundamental gewandelt, am vorläufigen Ende des Prozesses steht eine neue Identität. Nicht die ökonomisch Lage, sondern die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturideal sind entscheidend geworden: Wir sollen fortschrittlich, liberal, kosmopolitisch, demokratisch und tolerant sein, als Gegenbild droht der neue Barbar unserer Zeit, der Nichtmutierte, Zurückgebliebene oder auch Ewiggestrige. Doch was ist das für eine Welt, in der die Demokratie beweihräuchert, der Demos jedoch verpönt wird ? Guillaume Paoli durchschreitet die lange Nacht der Metamorphose und protokolliert polemisch ihre gesellschaftlichen und kulturellen Ausprägungsformen in den Medien, der postmodernen Philosophie, dem Geschichtsrevisionismus, in der zeitgenössischen Literatur, dem Journalismus und Theater, der Popmusik, der Stadtentwicklung und der Politik. Dabei offenbart sich, dass hinter der behaupteten Vielheit die Angleichung der Lebensstile und Ausdrucksformen fortschreitet. Diversity entpuppt sich so als modischer Neusprech für den schlechten alten Einheitsbrei.

Guillaume Paoli, 1959 in Frankreich geboren, lebt in Berlin und war Mitbegründer der 'Glücklichen Arbeitslosen', deren Manifeste 2002 unter dem Titel Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche erschienen, sowie Hausphilosoph im Leipziger Theater. Für Matthes & Seitz Berlin veranstaltete er in den letzten Jahren eine Diskussionsreihe im Roten Salon der Berliner Volksbühne und wirkte als Autor an den Anthologien Europa kaputt? und Zonen der Selbstoptimierung mit.

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Leseprobe

Prolog: #theorierecycling


Nach den Regeln der intellektuellen Konfektionsindustrie muss ein Buch, sobald es einen theoretischen Anspruch erhebt, eine eigentümliche Begriffsschöpfung in sich tragen. Der Leitsatz der Branche lautet: Einzige Aufgabe des Philosophen ist, stets von Neuem Begriffe zu schneidern. In der hart umkämpften Welt des Prêt-à-penser konkurrieren die Topmodelle der Deutung um die beschränkte Aufmerksamkeit einer übersichtlichen Klientel. Ein Autor macht sich durch sein eigenes Vokabular identifizierbar. Hier wie überall kennt die Akzeleration keinen Halt. Manche Nachwuchstheoretiker bringen es bereits fertig, alle fünf Minuten einen neuen Begriff per Twitter in die Welt zu schleudern. Dieser wird dann von Followern wie ein Abzeichen getragen, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Denktrend zu signalisieren. Dabei müssen Begriffsschneider so wenig fürchten, von Kollegen widerlegt zu werden, wie sie selbst andere widerlegen wollen. Das wäre so unflätig, wie wenn auf dem Laufsteg zwei Mannequins anfingen, sich zu prügeln. Die Zeit der großen Duelle ist vorüber. Alle leben in friedlicher Koexistenz, sitzen artig in denselben Talkshows, liefern nacheinander ihre eigene Interpretation des Weltgeschehens und beglückwünschen sich gegenseitig für die anregende Debatte. Jeder soll nach seinem Jargon selig werden. Von den Jargonauten dürfen wir aber nicht erwarten, dass sie das Goldene Vlies finden. Sie haben es zur Chimäre erklärt.

Selbstverständlich reicht es für einen saisonalen Neologismus nicht aus, neu zu sein. Er muss auch vor Radikalität strotzen, unkonventionelle Antworten liefern, einen verstörenden Blick auf das Gewöhnliche werfen, den Leser provozieren und ihn zum Umdenken bringen. Ließe sich der Zustand der Kultur nach den Klappentexten der Bestseller beurteilen, erlebten wir die permanente Revolution. Seltsam ist nur, dass man zur gleichen Zeit überall hören kann: Hilfe, wir ersticken zwischen den aufgeblähten Zitzen der Konsenskultur! Alles scheint voraussehbar, selbstgefällig und lau. Wegen Konformismus beklagen sich ja alle über alle: die Journalisten über die Medien, die Leser über die Journalisten, die Literaturkritiker über die Nachwuchsautoren, die Professoren über ihre Studenten, die Restaurantgäste über die Gastronomie, die Hipster über ihre gentrifizierte Umgebung, und überhaupt: die Deutschen über die Deutschen. Es scheint also einen allgemeinen Konsens über die Unerträglichkeit des Konsenses zu geben. Nichts ist konformistischer, als den Konformismus anzuprangern. Entsprechend schwierig erweist sich die Suche nach ungebahnten Wegen. Doch wieder und wieder treten eloquente bis brillante Redner auf die Bühne, die ihre Zuhörer mit einer gut dosierten Mischung aus Professoralität und Unterhaltung zu fesseln wissen, welche den geistigen Appetit so nachhaltig befriedigt wie Zuckerwatte.

Die übliche Erklärung für die wunderbare Begriffsvermehrung lautet: Da die Welt immer komplexer und abstrakter wird, bedürfen Theorien, die ihr gerecht werden wollen, eines immer höheren Niveaus an Komplexität und Abstraktion. Auf den ersten Blick ist die Erläuterung plausibel. In der Tat sind viele plumpe, unterkomplexe Erklärungen im Umlauf, und sie machen uns das Leben nicht einfacher. Doch ist das Argument ein trügerisches. Wer mit unentwirrbaren Problembündeln überfordert ist, wäre gut beraten, dem Vorschlag zu folgen: Simplify! Das gute alte Rasiermesser des Wilhelm von Ockham muss her. Zur Erinnerung: Es war gerade seine Empörung gegen die Komplexität, die Kopernikus dazu brachte, ein einfacheres, eleganteres Weltbild zu entwerfen. Allein aus ästhetischen Gründen konnte er sich mit dem vertrackten ptolemäischen System und dessen wuchernden Epizyklen nicht abfinden. Gott konnte doch nicht so schlampig gewesen sein! Freilich geht es uns heute nicht mehr darum, Gottes Plan zu entschlüsseln (außerdem ist hoffentlich keiner so größenwahnsinnig, sich für Kopernikus zu halten). Wir wären schon damit zufrieden, wenn unsere Lebensumstände einigermaßen entzifferbar wären. Dabei haben wir gelernt, dass Komplexität auch ein Alibi ist, mittels welchen Experten sich einer demokratischen Kontrolle entziehen. Denken wir an die Finanzsphäre. Wer hat schon den Überblick über hochabstrakte Konstrukte wie Subprimes, Derivate oder Credit Default Swaps? Und wer will ihn überhaupt haben? Gezielt wurde ein undurchsichtiges System errichtet, damit Gemeinsterbliche nicht erahnen können, was mit ihrem Geld geschieht (2008 wurde offenkundig, dass selbst die Finanzjongleure keinen Überblick hatten, doch änderte das nichts an der Toxizität ihrer Fabrikate). In diesem Fall zumindest kann als sicher gelten: Selbstermächtigung geht nur mit dem Abbau der Komplexität und der Aufstellung klar definierter Regeln einher.

Während der fünf Jahre, die ich in Leipzig meine philosophische Praxis betrieb, verwendete ich viel Energie darauf, meine sich ihrer mangelnden Kenntnisse schämenden Gäste davon zu überzeugen, das Denken sei zu kostbar, um es den Berufstheoretikern zu überlassen. Wer das tut, schwelgt in jener selbst verschuldeten Unmündigkeit, von der einst das Projekt der Aufklärung den Menschen zu befreien versprach. Gewiss ist die Anstrengung des Begriffs nicht jedem ohne Weiteres zugänglich. Aber so wie die finanzielle sollte die theoretische Expertise überprüfbar sein. Meinen Besuchern empfahl ich einen kleinen Test, der von einer Forderung Noam Chomskys inspiriert ist: Die Kompetenz fähiger Physiker, Laien hochabstrakte Gegenstände wie schwarze Löcher oder Gravitationswellen verständlich machen zu können, indem sie die ganze Mathematik weglassen, auf Details verzichten und zusammenfassen, worum es im Großen und Ganzen geht, sollte – so Chomsky – auch von einem Linguisten, Poststrukturalisten oder einem Soziologen erwartet werden – und erst recht von einem spekulativen Realisten, möchte man anfügen. Verlangt also nach Erklärungen in gemeingebräuchlichen Worten! Denn ist der Baum der Erkenntnis einmal vom Weihnachtsschmuck der Phrasendrescherei entblößt, weist er allzu oft ein ärmliches Geäst auf. Betrübliche Plattitüden wie: Rassismus ist böse. Kapitalismus ist ungerecht. Alles ist relativ.

Es sind zu viele Begriffe unterwegs. Wie die monetäre kommt die semantische Hyperinflation einer Hyperentwertung gleich. Wer zum Einkaufen eine Schubkarre voller Geldscheine braucht, ist nicht deswegen reicher. Die geistige Ökologie gebietet, die Produktion zu verringern. In dieser Domäne wie in der materiellen heißt also der bewusste Umgang: Recycling. Gebrauchte Theorien werden gesammelt und aussortiert, abgenutzte Teile von wiederverwertbaren getrennt, ideologische Giftstoffe entsorgt. Eher sollten wir von theoretischem Upcycling sprechen, bei dem es nicht darum geht, alte Ideen kaputt zu schlagen, sondern ihnen in Kombination mit anderen Teilen einen höheren Wert zu geben, so wie aus alten Autoreifen und Plastikschnüren Flipflops hergestellt werden. Was verwendet werden kann, wird verwendet. Das, was sich nach genauerer Prüfung als redundant oder inkonsistent erweist, kann weg.

In diesem Sinne unterscheidet sich der Recyclinghof grundlegend vom geläufigen intellektuellen Baumarkt. Wie wir wissen, ist seit Foucault unter Denkern üblich, die eigene Produktion als »Werkzeugkiste« anzubieten. Die Metapher zeugt von falscher Bescheidenheit: »Ich liefere nur das Werkzeug; den Praktikern oder zumindest der Leserschaft überlasse ich die Aufgabe, es richtig anzuwenden.« Das hört sich an wie ein Echo aus der Zeit, als stalinistische Bürgersöhne sich vor der Gestaltungsmacht der Arbeiterklasse – sprich der Partei – demütig verbeugten. Zudem kann sich der Theoretiker auf diese Weise der peinlichen Frage entziehen, welchen konkreten Nutzen seine Gedankenkonstrukte wohl hätten: »Für Anweisungen bin ich nicht zuständig, über den Gebrauch sollen Gruppen und Individuen selbst entscheiden.« Als ob die Gestalt eines Schraubendrehers seine Funktion, Schrauben zu drehen, nicht bedingen wurde! Zwar kann man mit dem Hammer philosophieren und mit einem Küchenmesser jemanden umbringen, vorausgesetzt, dass es scharf genug ist. Meistens stellt sich aber heraus, dass nur eine Anwendung der theoretischen Werkzeugkiste praktikabel ist und zwar: sie auseinanderzunehmen, um eine weitere Werkzeugkiste zusammenzustellen.

Dementsprechend werde ich im Folgenden keine These, sondern eine Hypothese aufstellen. Sie ist nicht meine, es gab sie schon. Wie eine vorgefundene Brille möchte ich sie anprobieren, testen, ob sie richtig sitzt und wie die Welt durch ihre Gläser aussieht. Anschließend wird sich vielleicht herausstellen, dass sie unbrauchbar ist und in die Mülltonne gehört. So entspräche die Methode in etwa der reductio ad absurdum der alten Logiker. Dafür müssen wir aber in einem ersten Schritt so tun, als ob die Behauptung absolut erwiesen und unwiderlegbar sei. Ohne Wenn und Aber. Behalten wir dabei die Anekdote über Niels...

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