3.1 Der Körper als Statussymbol
Gerade in der westlichen Gesellschaft hat sich die Bedeutung des Körpers über Jahrzehnte hinweg entscheidend gewandelt. Die äußere Hülle ist laut Buchholz (2001, S. 26) wegweisend für Identität und gesellschaftliche Klasse geworden und wird in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft als Statussymbol verwendet, um sich darüber zu definieren und sein Prestige zu sichern. Der Körper, der anscheinend heutzutage beliebig modellierbar ist, eignet sich hervorragend dafür, Erfolge ständig zu dokumentieren und für jeden erkennbar zu machen, denn „durch den Körper, aber auch durch Leistung können in der Gesellschaft Unterschiede aufgezeigt werden. Leistung bzw. Erfolg und Körper gelten als Aushängeschild, als Sprachrohr für die Person. Was früher die Kleider waren, ist heute eben der Körper“ (Bette 1993, S. 41). Aus diesem Kommentar lässt sich herauslesen, dass es heutzutage anscheinend möglich ist, Leistung am Körper auszudrücken. Auch Waldrich (2004, S. 63) zufolge geht es in unserer leistungsbesessenen Gesellschaft im Grunde bei einem ´Schönheitsideal´ nicht vorrangig um die Schönheit, sondern darum, seine Leistungsfähigkeit am Körper, der sich durch seine dauerhafte Präsenz dazu besonders eignet, zu dokumentieren. Dieser Ehrgeiz resultiert laut Fachpsychologen aus frühkindlichen Mangelsituationen. Der Mensch versucht über seinen Körper, defizitäre Kindheitsentwicklungen auszugleichen und auf diese Weise das Gefühl von Liebe und Anerkennung zu erlangen. Aufbauend auf dieser Theorie sind also Ehrgeiz und Leistungsstreben darauf begründet, innere Defizite wieder aufzufüllen. Man will auf diese Weise Anerkennung und Beachtung bei anderen erreichen und „einen auf Hochglanz polierten Körper vorzuzeigen, führt vielleicht (und vorübergehend) zu jenem Applaus, den man so dringend benötigt“ (ebd., S. 64). Diese Voraussetzungen machen es nach Waldrichs (ebd., S. 63) Ansicht möglich, dass der Körper als Statussymbol fungieren kann.
Wer schlank ist, gilt als „aktiv, erfolgreich, intelligent, jung und gesund“ (Ehle 1992, S. 50) und es ist wohl durchaus nachvollziehbar, dass man schlanken Menschen eine gute Gesundheit, eine höhere Lebenserwartung und mehr Lebensfreude zuspricht (Stahr 2000, S. 84). Doch ein gut geformter Körper signalisiert außerdem Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstkontrolle, die Demonstration von Selbstdisziplin und den Willen, sich nicht gehen zu lassen (Miek 2004, S. 73 f.). Auch verspricht ein schlanker Körper „ … Leistungsbereitschaft und Belastbarkeit. Er macht deutlich, dass seine Besitzerin ihr Leben genauso erfolgreich managt wie ihren Beruf“ (Ehle 1992, S. 50). Man setzt Schlanksein also allgemein mit „Wendigkeit, Fleiß und Flexibilität“ (Posch 2009, S. 67), Ehrgeiz und beruflichem Erfolg (Stahr 2000, S. 84) gleich. Somit vermittelt Dünnsein in unserer Gesellschaft Leistungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen, denn „körperliche Unversehrtheit, körperliche Funktionstüchtigkeit und körperliche Attraktivität gelten als Grundvoraussetzungen eines gelungenen, am gesellschaftlichen Aufstieg orientierten Lebens“ (Posch 2009, S. 11). Es macht denn Anschein, als bräuchte es hauptsächlich eine Komponente, um Leben und Beruf erfolgreich zu meistern: Dem Schlankheitsideal zu folgen. Um einen schlanken Körper aber über Jahre hinweg zu behalten, müssen die Ernährungsgewohnheiten „ ... dauerhaft auf Gewichtsabnahme oder auf die Vermeidung von Gewichtszunahme ausgerichtet sein“ (Ehle 1992, S. 50). Ob dies bedeutet, dass wir damit gleichzeitig zufriedener mit uns und unserem Leben sind, verneint Waldrich (2004, S. 123), denn „ ... in Wirklichkeit leben viele schlanke Frauen gar nicht glücklich, weil sie um ihrer Attraktivität willen auf viele Genüsse verzichten und sogar hungern müssen.“
Bereits im Jahre 1918 erschien in der Vogue folgender Kommentar: „Es gibt ein unverzeihliches Verbrechen gegen das moderne Schönheitsideal; man kann guten Gewissens eine beliebige Anzahl kleiner Verbrechen begehen, solange man sich nicht der Sünde schuldig macht, dick zu werden“ (Brumberg 1994, S. 24). Diese Art von ´Sünde´ gibt es so auch noch fast hundert Jahre später, nur heute heißt es drastischer: „Was ist das für eine Verpackung, aus welcher der Inhalt herausquillt? Wo kann man die noch anbieten?“ (Waldrich 2004, S. 80). Diese hart klingende Äußerung spiegelt tatsächlich die gesellschaftliche Stellung von Dicken wider. In einer Gesellschaft wie dieser ist es sozial wie beruflich von existenzieller Bedeutung, eine gute Figur zu haben und somit eine gute Figur zu machen, denn „wer in einer auf Überschlankheit geeichten Wahrnehmungswelt als >dick< erscheint oder gar wirklich übergewichtig ist, muss ebenfalls damit rechnen, sozial geächtet zu werden“ (Waldrich 2004, S. 137). Menschen mit einer eher robusten und derben Figur werden für „ ... passiv, weniger intelligent und weniger erfolgreich“ gehalten (Ehle 1992, S. 50), außerdem wird „ ... Fett mit Hässlichkeit, mangelnder Selbstdisziplin und Elend gleichgesetzt“ (Waldrich 2004, S. 123). Sogar Ärzte beurteilen dicke Personen hierzulande als willensschwach und hässlich – „Fett ist heute ein Synonym für ´widerlich´“ (Waldrich 2004, S. 78). Dieses negative Bild über füllige Körper führt so weit, dass Dicke hierzulande öffentlich gebrandmarkt und manchmal wie Behinderte, Ausländer oder Asoziale diskriminiert werden. Bemerkbar macht sich dies beispielsweise in einer Schlagzeile der Berliner Zeitung >B.Z. am Sonntag< vom 10.8.2003: „´Nacktverbot für Dicke? In Parks, an Spree und Havel. Was meinen Sie?´“ (zit. n. ebd.). Dass Dicke „ ... seltener angestellt, schlechter bezahlt und schneller wieder gefeuert“ (ebd.) werden, sollte infolge solcher Assoziationen niemanden mehr verwundern. Sie haben tatsächlich schlechtere Chancen im Berufsleben, was man mit ihrer ´offenkundig´ nachlässigen Einstellung zu ihrem Körper begründet, denn „ein dicker Bauch [ist heute] sichtbarer Ausdruck falschen Konsumverhaltens, falscher Lebensweise, falscher Entscheidungen, mangelnder Kontrollfähigkeit und damit mangelnder Managementfähigkeit“ (Posch 2009, S. 67). Ihnen werden Willensstärke und Disziplin von vornherein nicht zugetraut, denn „wer sich nicht kontrolliert, der hat keine ´Power´. Er lässt sich gehen – die Kardinalsünde wider den Geist der Zeit!“ (ebd.). Mit diesen Ausführungen scheint die bereits weiter oben angeführte These, die gegenwärtigen Schönheitsideale ebenso als Leistungsideale betrachten zu müssen, bestätigt und dass es „ ... nicht um den schönen Körper an sich [geht], sondern darum, was mit dem schönen Körper erreicht werden soll“ (Posch 2009, S. 171).
„In unserer Kultur ist es die Norm, dass Frauen hungern“, sagt die amerikanische Frauenrechtlerin Naomi Wolf (1994, S. 9). In Wohlstandsgesellschaften ´leiden´ wir tatsächlich freiwillig Hunger – in dem Wissen, dass es auf der Welt viel zu viele gibt, die dies gezwungenermaßen tun müssen. Ist Magersucht etwa eine Art ´Privilegierten-Krankheit´, weil sie häufiger in sozial gehobenen Schichten auftritt? (Waldrich 2004, S. 78). Die Erscheinung der Anorexia nervosa scheint in der Tat eng mit Luxus und einem Überangebot an Nahrung verbunden. Diese Schlankheitsbesessenheit bezeichnet Freedman (1991, S. 51) sogar als 'kulturelle Neurose', gleichzeitig stellt sie die geistige Gesundheit einer Kultur, in der ein extrem abgemagerter Körper als ein idealer gilt, in Frage (ebd.). Dass die Körpersymbolik in anderen Kulturen tatsächlich stark variiert, wird ersichtlich, da dort, wo Nahrungsmittel knapp sind, Dicksein scheinbar für Stärke, Macht und Sozialprestige, Magerkeit dagegen für Not und Mangel steht (Waldrich 2004, S. 78). Körperzentrierte Neurosen tauchen deswegen in nicht-westlichen Kulturen wie Entwicklungsländern oder bei schwarzen Amerikanern nicht auf, worin Waldrich (ebd., S. 15) ihren vermuteten Zusammenhang mit bestimmten sozialen Lebensformen bestätigt sieht. Uganda beispielsweise verdeutlicht mit den Vorstellungen seiner Einwohner von Schönheit den enormen Gegensatz zum Ideal der westlichen Kultur: Dort existieren ´Fett-Hütten´, in denen die Bräute extra für ihren Hochzeitstag gemästet werden und dafür täglich literweise Milch trinken müssen. In dieser Region wächst der Status mit dem Gewicht (InStyle 6/2010, S. 130) – in Industriegesellschaften fällt er.
Da bei Frauen das Aussehen im Allgemeinen einen höheren Stellenwert hat als bei Männern und das gesellschaftliche Bild von Weiblichkeit stark mit Schönheit gekoppelt ist, übt der Schlankheitswahn logischerweise einen größeren Druck auf das weibliche Geschlecht aus. Deshalb ist die Entwicklung einer Essstörung bei Männern, die noch dazu von Natur aus einen geringeren Fettanteil haben, unwahrscheinlicher. „Eine gewisse Stattlichkeit gilt hier sogar oft als Zeichen von Macht, Stärke, Selbstvertrauen und Erfolg“ (Waldrich 2004, S. 123)....