1 Einleitung:
Ethische Argumentationen der Behindertenpädagogik – eine
Bestandsaufnahme
Vera Moser & Detlef Horster
1.1 Die Thematisierung ethischer Problemlagen in der Behindertenpädagogik in ihrer historischen Entwicklung
Die ethische Grundlegung der Behindertenpädagogik ist fast so alt wie das Fach selbst – dies soll anhand eines eher kursorischen Überblicks verdeutlicht werden.
Zunächst lässt sich feststellen, dass die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen, die heute unter dem Etikett ‚Behinderung‘ firmieren, aus einem Interesse an methodischen Fragen im Kontext des Perfektibilisierungskonzepts der Aufklärung entstanden sind (vgl. Moser 1995; Tenorth 2006): Die Experimente des Taubstummenlehrers Jean Itard, gegründet auf den Vorstellungen des Sensualismus, sind hierfür geradezu symbolisch. In diesem Kontext war bis zu den Schriften Georgens’ und Deinhardts Heilpädagogik nahezu eine naturwissenschaftlich-experimentelle Frage. Dennoch waren dort bereits ethische Fragen eingelassen, wie die, an welchem Ort solche Fördermaßnahmen durchgeführt werden sollten – nicht nur Georgens und Deinhardt sprachen sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts für eine integrative Pädagogik aus, auch die sog. ‚Verallgemeinerungsbewegung‘ im Bereich der Taubstummenpädagogik forderte eine integrative Beschulung sog. ‚taubstummer‘ Kinder in den damaligen Volksschulen (vgl. auch Moser 1995). In diesem Sinne waren die ersten ethischen Fragestellungen im Bereich der Behindertenpädagogik eher mit Fragen des pädagogischen Settings und des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung befasst – Georgens und Deinhardt beispielsweise hielten die Behandlung behinderter Personen für eine immanent gesellschaftlich relevante Aufgabe, auch wenn die hier angeführten Argumente der sozialen wie biologischen ‚Entartung‘ durchaus ambivalent waren, wie Rösner (2002) anmerkt. ‚Entartung‘ bezeichnete das Zusammenspiel von sozialen Faktoren und deren Auswirkungen auf die Konstitution, das Temperament, die Sinne, den Charakter sowie die geistigen und moralischen Anlagen.
Durch den Einfluss des Protestantismus und im Speziellen des Pietismus traten um die Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt moralische Fragen mit Blick auf das Subjekt auf den Plan. So beklagte der Begründer der Inneren Mission, Johann Heinrich Wichern,
„wie groß der Verfall des kirchlichen und christlichen Lebens überall und auch unter uns geworden ist. Ursachen davon sind nicht die Einwanderungen reicher oder armer Flüchtlinge in unsere Stadt [...]. Die Ursache des Verfalls liegt tiefer; der Ueberdruß an Gottes Wort hatte Reich und Arm erfüllt, der Glaube war gewichen“ (Wichern 1845, 3 f.).
Mit der Thematik des Glaubensverfalls und schließlich der allgemeinen Verwahrlosung in Folge des Industrialisierungsprozesses wurde Behinderung wieder in die alttestamentarische Tradition der Strafe Gottes eingefügt und im – durchaus auch weltlichen – Paradigma der Selbstverschuldung ventiliert. Von hier aus sahen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten christlichen Wohlfahrtsverbände (über ihre Legitimierung innerhalb des Subsidiaritätsprinzips hinaus) auch eine geeignete Strategie zur Sicherung des eigenen Machtanspruches angesichts eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses. Das Argument war hier aber vor allem auch die Übernahme von pflegerischen Aufgaben für die sog. ‚Unheilbaren‘, die aus den Psychiatrien in öffentlicher Trägerschaft ausgegliedert wurden.
Unter dieser Entwicklung konnten die kirchlichen Verbände Institutionen der Behindertenhilfe mit ethischen Fragestellungen verbinden:
„Die religiöse Überhöhung der Behinderten bildet auch eine moralische Grundlage für ihre Anstaltsversorgung. Wird das gesellschaftliche Leben eines Behinderten auf ein gottgefälliges, stilles Dulden beschränkt, so kann dies am besten in einer Anstalt organisiert und gesichert werden“ (Fandrey 1990, 101).
Es ging einerseits um Nächstenliebe im Bereich der Anstaltspflege, zugleich aber auch um Aussonderung im Kontext anwachsender sozialdarwinistischer Argumente ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert: „Die Armen bräuchten sich nur ordentlich zusammenzureißen und nicht mehr so viel zu trinken, dann blieben sie nicht mehr arm und hätten keine behinderten Kinder“ (ebd.). Nicht nur die Gesellschaft sollte durch Anstaltsverwahrung entlastet werden, auch war die Frage des Verhinderns von Fortpflanzung durch strenge Geschlechtertrennung wie auch durch den Einsatz von Sterilisationen unhinterfragte soziale Praxis. Dass der Sozialdarwinismus dabei auch im Zentrum der Gesellschaft verankert war, zeigt das folgende Beispiel:
„Der Industrielle Friedrich Alfred Krupp finanziert im Jahr 1900 eine wissenschaftliche Preisaufgabe mit dem Thema ‚Was lernen wir aus den Principien der Descendenztheorie [Abstammungslehre] in bezug auf die innenpolitische Entwicklung der Völker?‘. Den ersten Preis unter allen Teilnehmern erhält der Arzt Wilhelm Schallmayer für seinen Aufsatz ‚Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker‘, der Heiratsverbote, Zwangsasylierung und Sterilisierung von ‚genetisch minderwertigen‘ Menschen empfiehlt“ (ebd., 104).
Die moralische Erziehung des Individuums, die, wie beschrieben, im Bereich der Verwahrlosung insbesondere von Johann Heinrich Wichern vorangetrieben wurde und im ausgehenden 19. Jahrhundert mit sozialdarwinistischen Argumenten angereichert wurde, entwickelte sich weiter innerhalb eines psychiatrisch ausgerichteten Konzepts der Kinderfehlerlehre, insbesondere in den Arbeiten von Strümpell, Koch, Trüper. Koch definierte in seinem 1891 erschienenen Buch „Die Psychopathischen Minderwertigkeiten“:
„Unter dem Ausdruck psychopathologische Minderwertigkeiten fasse ich alle, sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen Fällen noch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten Personen auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen“ (Koch 1891, 1).
Auf diese Weise erhielt die moralische Erziehung zentral auch Einzug in die Hilfsschulpädagogik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Hilfsschule als Institution, die für einen starken Professionalisierungsschub der Behindertenpädagogik insgesamt sorgte (vgl. auch Ellger-Rüttgardt 2008), entwickelte als eine Perspektive auf Behinderung am Konzept der Hilfsschulbedürftigkeit systematisch die Fragen der Besonderheit, der Gefährdung der Gesellschaft, der individuellen Verwahrlosung. „Die Lehre von den schwachsinnigen, halbidiotischen, nicht normalen Kindern diente der Begründung einer notwendigen Spezialisierung der Lehrer innerhalb des allgemeinen Schulwesens“ (Möckel 1976, 55). Pointierter:
„Ganz im Sinne erbbiologischer Überzeugungen interpretierten viele Hilfsschullehrer die Zugehörigkeit ihrer Schüler zu den armen Volksschichten nicht etwa als Auswirkung sozialer Ursachen, sondern argumentierten genau umgekehrt, indem sie eine mangelhafte geistige Veranlagung für soziales Elend verantwortlich machten“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 138).
Als Dienst an der Gesellschaft wurden insbesondere die Argumente der individuellen Brauchbarmachung und der Entlastung der Volksschule vom 1898 gegründeten Verband der Hilfsschullehrer Deutschlands herausgestellt (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008). Diese Thematiken standen im Gegensatz zu speziellen Methoden weiterhin im Vordergrund der professionellen Orientierung (vgl. Tenorth 2006). Insofern generierten Professionstugenden wie Geduld und Rücksichtnahme auf das kleinschrittige Lernen primäre Professionsmerkmale.
Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgearbeitete Konzeption des sog. ‚moralischen Schwachsinns‘ (‚moral insanity‘) im Kontext einer psychiatrisch orientierten Lehre diente der Heilpädagogik schließlich insgesamt als Vorbild, Behinderung aus pädagogischer Perspektive zu einem Moralproblem auszulegen (vgl. auch Moser 1998): Bruchlos bis in das Werk Paul Moors hinein war der gemeinsame kleinste Nenner der vielfältigen Erscheinungen, die heute unter dem Begriff ‚Behinderung‘ subsumiert werden, eine sog. ‚Seelenschwäche‘, die durch unzureichende Denktätigkeit, unzureichende Eindrücke aus der Umwelt durch Sinnesbeeinträchtigungen bzw. durch unzureichende Willensbildung aufgrund von Verwahrlosung entstanden sei (vgl. auch Moser 2009, 2010). Bei Paul Moor wird dies noch Mitte der 1960er Jahre im Anschluss an Hanselmann als Mangel an ‚innerem‘ und/oder ‚äußerem Halt‘ beschrieben. Die Tradition der Schweizer Heilpädagogik hat an dieser Thematisierung einer besonderen Beziehungsgestaltung mit den Moor-Schülern Haeberlin und Kobi bis in die Gegenwart festgehalten.
Die bis in die Nachkriegsära anhaltende unklare Positionierung der Heilpädagogik zwischen christlich-wohltätiger Tradition einerseits und medizinisch-psychiatrischen Bezügen andererseits zeigte sich paradigmatisch bereits bei der Besetzung der ersten heilpädagogischen Professur in deutschsprachigen Ländern, nämlich 1931 in der Schweiz durch Heinrich Hanselmann an der Universität Zürich: Es blieb in der Diskussion um die Einrichtung dieser Professur unklar, ob sie an der Medizinischen oder Philosophischen Fakultät angesiedelt sein sollte (vgl. Hoyningen-Süess 1992; Wolfisberg 2002).
Insofern blieben als dominante...