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E-Book

Einführung in die Sozialpädagogik

AutorFranz Hamburger
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl238 Seiten
ISBN9783170228825
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Sozialpädagogik ist ein breites und vielseitiges Praxisfeld. Konflikte und Krisen im Lebenslauf werden sozialpädagogisch begleitet von der Kindheit bis ins Alter. Die praktischen Hilfen sollen die Entfaltung des Individuums ebenso wie die Ordnung der Gesellschaft gewährleisten. Auf die Praxis der Sozialen Arbeit, deren Voraussetzungen, Dynamiken und Folgen bezieht sich die wissenschaftliche Sozialpädagogik. Mit ihren Begriffen und Theorien strukturiert sie den 'sozialpädagogischen Blick' auf die Wirklichkeit. In diesem Band werden nicht nur Theorie und Praxis der Sozialpädagogik einleitend beschrieben, auch ihre Geschichte und die Perspektiven der weiteren Entwicklung werden diskutiert.

Professor Dr. Franz Hamburger lehrte am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität.

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Leseprobe

2 Vom Umriss und von der inneren Logik


Die Definition der Sozialpädagogik als Bestimmung des Begriffs setzt nicht nur Grenzen und legt damit fest, was dazugehören und was nicht dazugehören soll und welche Überschneidungen und Ambivalenzen dabei entstehen, sie setzt auch eine Ordnung des Binnenbereichs. Diese Ordnung kann unter vielen Gesichtspunkten entworfen werden, seien sie pragmatischer, begrifflich-theoretischer oder historischer Art. Aus diesen Gründen wird hier unterschieden nach Ebenen des Gegenstandsbezugs:

  • Die Binnenlogik der Sozialpädagogik kann sich daran festmachen, wie das sozialpädagogische Problem definiert wird. Diese Ebene erschließt sich durch die Frage: Auf welches Problem geht die Sozialpädagogik ein und wie geht sie darauf ein? Sozialwissenschaftliche Analytik und erziehungswissenschaftliche Prinzipienreflexion können in dieses Modell gleichermaßen einfließen.
  • Ein zweites Ordnungsmodell orientiert sich an den Organisationen und institutionellen Strukturen, die die Sozialpädagogik als gesellschaftlich organisierte, insbesondere sozialstaatlich und deshalb rechtlich kodifizierte Größe kennzeichnen. Dabei spielen die Zuständigkeiten, die die verschiedenen Handlungsfelder pragmatisch definieren, eine besondere Rolle. Die pragmatischen Ordnungen lassen sich vielfach nur in ihrer geschichtlichen Genese verstehen; gesellschaftliche Funktionen und Differenzierungsprozesse, staatliche Regulierung durch Gesetze und Verordnungen und die Interessen von sozialen Berufen sind in die Ausgestaltung dieser Ordnungen eingeflossen.
  • Auf einer dritten Ebene können wissenschaftliche Einteilungen und disziplinäre »Zuständigkeiten« betrachtet werden. Die Interdisziplinarität der »Wissenschaft der Sozialen Arbeit« ist außerordentlich hoch, weil der Gegenstand der Sozialpädagogik sich in einem historisch-praktischen Prozess herausgebildet hat und (noch?) nicht ausschließlich in der Definitionsperspektive einer einzigen Wissenschaft (wie beispielsweise bei der Medizin und Rechtswissenschaft mit den eindeutig dazugehörenden Professionen) wahrgenommen und konstituiert wird.

2.1 Dimensionierung des sozialpädagogischen Konflikts


Die von Lothar Böhnisch übernommene Definition der Sozialpädagogik hebt auf den zu bearbeitenden Konflikt ab. Um diesen überschaubar zu machen, ist es zweckmäßig, die Dimensionen des Konflikts herauszuarbeiten. Eine solche Dimensionierung muss, wenn sie nicht willkürlich oder nur pragmatisch vorgenommen werden soll, auf allgemeine Überlegungen zurückgreifen, in denen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft modelliert wird.

Paul Natorp, so hatten wir gesehen, ließ sich von seinem »Sozialidealismus« dazu leiten, im Übereinstimmen des individuellen Wollens mit dem allgemeinen Willen der Gemeinschaft die Lösung des Konflikts zu sehen. In seiner Sicht war die Dimension des Willens, weil er das subjektive Element des Individuums besonders klar zum Ausdruck bringt, für die Sozialpädagogik zentral.

Wenn die Subjektivität des Individuums für sich eine Geltung beanspruchen will, die auch von anderen anerkannt werden soll, dann wird dieser Anspruch einer Prüfung unterzogen. Dabei sollen die gleichen Kriterien und Prinzipien beachtet werden wie bei der Prüfung von Ansprüchen der Gesellschaft gegenüber den Individuen (»gleiches Gesetz«). Die Grundlage für diese Überlegung bildet der »kategorische Imperativ«, wie ihn Immanuel Kant formuliert hat.

In einer sozialwissenschaftlichen Analyse geht es darum, die Gesellschaft und zugleich die Position des Individuums in ihr grundbegrifflich zu fassen. Dabei kann sich der Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu als hilfreich erweisen. Er versteht unter Kapital »akkumulierte Arbeit«, also das Ergebnis der Auseinandersetzung des Menschen mit der äußeren Natur und ihrer Aneignung. In verallgemeinerter Form ist Kapital für Bourdieu »eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt« (1983, S. 183) und das Prinzip gesellschaftlicher Regelmäßigkeiten ausmacht. Die Verwendung des Kapitalbegriffs ausschließlich im ökonomischen Zusammenhang erscheint in diesem Verständnis von Kapital als Verengung. Drei Arten des Kapitals sind unterscheidbar: »Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumrechts; das kulturelle Kapital ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln; das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtungen oder ›Beziehungen‹, ist unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von Adelstiteln.« (S. 185)

Das ökonomische Kapital nimmt bei dieser Aufteilung eine dominierende Stellung ein, weil es den relativen Zugang zu anderen Kapitalsorten ermöglicht – aber die drei Dimensionen sind eigenständig. Das kulturelle Kapital kann als Bildung verinnerlicht und subjektiv erworben werden, es ist zugleich in Kulturgütern objektiviert und in schulischen und akademischen Titeln institutionalisiert, die wiederum zentral für den Zugang zu beruflichen Chancen sind. Das Sozialkapital ist in Beziehungen wechselseitigen Kennens und Anerkennens vorhanden und wird als Zugehörigkeit zu Gruppen und Gemeinschaften handlungswirksam.

Die Verfügung über diese Kapitalien bestimmt die Position von Individuen und Gruppen im sozialen Raum. Man kann sich an der Spitze oder am Boden, am Rand oder im Zentrum der Gesellschaft befinden. Für die tatsächliche Lebenslage kommt jedoch noch eine Dimension hinzu, die als »ökologisches Kapital« bezeichnet werden kann. Moderne Gesellschaften bringen Risiken hervor (wie beispielsweise atomare Strahlung, Umweltverschmutzung), die das Leben nicht nur auf bestimmten sozialen Positionen, sondern für alle Mitglieder einer Gesellschaft beeinträchtigen. Auch diese Risiken sind nicht absolut gleich verteilt, mit genügend Geld kann man ihnen auch ausweichen, aber sie bilden einen eigenständigen Faktor der Lebensqualität (Beck 1986).

Der Ort, wo man lebt, die Qualität der Umwelt, die Ausstattung des sozialen Raums und die Zugänglichkeit von lebenswichtigen und -erleichternden Gütern sowie die ästhetische Ausgestaltung des Lebensraums stellen eine eigene Qualitätsdimension dar. Auch die Sicherheit im Alltag, Freiheit von Verbrechensfurcht beispielsweise, spielt eine große Rolle. In Programmen der kommunalen Kriminalitätsprävention oder zur sozialen Stadtentwicklung werden diese Gesichtspunkte konkret bedeutsam und erhalten vor allem sozialpädagogische Relevanz.

Verwendet man nun diese Dimensionierung, um die Definition von Sozialpädagogik zu konkretisieren (eingegrenzt für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen), so ergibt sich eine systematische Perspektive.

Die Dimensionen des Aufwachsens stellen jeweils spezifische Anforderungen an das Individuum, die als Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind. Sie enthalten in ihrer jeweiligen Ausprägung bestimmte Chancen bzw. begrenzen sie. Sozialpädagogik bezieht sich auf beide Seiten: die Kompetenzen des Individuums und die Chancenstruktur der Gesellschaft.

Auch wenn mit diesem Modell wesentliche Aspekte erfasst sind, kommt noch eine Dimension hinzu, die für das persönliche Wohlbefinden, für die Realisierung von Chancen in der Gesellschaft und für die pädagogische Arbeit bedeutsam ist: die persönliche Integrität im Sinne von physischer und psychischer Gesundheit oder als generelle Einschränkung, beispielsweise als Behinderung. Mit diesen Fragen haben vor allem medizinische, psychotherapeutische und sonderpädagogische Einrichtungen zu tun. Typischerweise aber finden wir in solchen Einrichtungen immer auch sozialpädagogische Funktionen institutionalisiert, weil in der persönlichen Beeinträchtigung auch ein Problem für das Verhältnis zur umgebenden Sozialwelt mitgesetzt ist, wenn nicht gar die soziale Reaktion auf eine Beeinträchtigung das zentrale Problem ausmacht, so beispielsweise die gesellschaftlichen Reaktionen auf Behinderung.

Die hier ausgewählten Dimensionen werden recht häufig bei der Untersuchung von Lebenslagen herangezogen, wobei zwischen objektiven und subjektiven Ausprägungen zu unterscheiden ist. Das Modell dient auch als Grundlage der Armutsforschung (Hradil 2001) und ist insoweit nicht nur zur Analyse sozialpädagogischer, sondern auch sozialpolitischer Problemlagen geeignet.

Eine in das Sozialkapital eingelagerte Subdimension soll abschließend noch erwähnt werden, weil sie in der Praxis der Sozialarbeit und für die Soziale Ungleichheit in modernen Gesellschaften besondere Bedeutung erhält: die Rechtsposition. Es zeichnet den Sozialstaat prinzipiell aus, dass soziale Rechte dauerhaft als Anspruch definiert sind und die Voraussetzungen der Inanspruchnahme im Konfliktfall rechtsförmig überprüft werden können. DerStaat interveniert in das gesellschaftliche Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und sichert dabei die in diesem Verhältnis unterlegenen sozialen Rechte. Im neoliberalen Modell, das seit den 1980er Jahren beispielsweise im »Thatcherismus« propagiert und zunehmend in Europa durchgesetzt wird, sichert der Staat dagegen wieder einseitig die Eigentumsrechte des Kapitals und reduziert soziale Rechte. Durch »Aktivierung« soll die »Selbsthilfe« der lohnabhängig Beschäftigten und vor allem der Nichtbeschäftigten gestärkt werden. Zur Linderung der verbleibenden...

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