1 SOZIALE ARBEIT OHNE „SANDALEN“
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Hat das, was Sozialarbeiterinnen tun, in sich einen besonderen moralischen Wert, oder ist Soziale Arbeit heute in moralischer Hinsicht ein Beruf wie jeder andere? Darüber gehen die Ansichten in der Öffentlichkeit wie auch bei Studierenden und Praktikern der Sozialen Arbeit auseinander. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass diese geläufigen Ansichten die eigentliche Aufgabe einer ethischen Reflexion zumeist verfehlen, und worin alternativ dazu die Aufgabe der Ethik besteht.
1.1 Vier geläufige, aber fragwürdige Ansichten über das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Moralität
Alle zwei Jahre treffen sich Sozialarbeiter aus aller Welt zu Konferenzen, die von den drei Dachverbänden „International Federation of Social Workers“, „International Association of Schools of Social Work“ und „International Council on Social Welfare“ organisiert werden. Als eine dieser Weltkonferenzen mit mehr als tausend Fachteilnehmerinnen vor einiger Zeit in Deutschland abgehalten wurde, brachte ein Nachrichtenmagazin darüber einen Artikel mit dem Titel „Die Sandalen des Guten. Ortstermin: In München tüfteln Sozialarbeiter an der Veredelung des Menschen“. Warum die Sandalen im Titel?
In dem Bericht wurden viele Vorträge und Workshops zum Elend dieser Welt aufgeführt. Dabei ging es u. a. um Hilfe für die Opfer von Naturkatastrophen und Vergewaltigungen, für HIV-Patienten, Drogenabhängige, Menschen mit Sprachbarrieren und emotionalen Störungen. Thema waren auch Möglichkeiten der Konfliktlösung in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten und bei Vertreibungen: Tibet, Kongo, Naher Osten. „Sozialarbeiter“, hieß es in dem Bericht, „gehen in die Ecken der Welt, in die sonst niemand will, sie sind unentbehrlich, werden lausig bezahlt, sie bringen die Dinge in Ordnung, die unser schönes Erste-Welt-Leben in der Dritten Welt hinterlässt, und man möchte ihnen Glück wünschen, aber dann sieht man die Sandalen. Viele Konferenzteilnehmer tragen Sandalen. Sandalen sind die Besohlung des Weltgewissens“ (Gutsch 2006, 72).
Na und?, mag sich die Leserin und der Leser denken, sagt denn das Schuhwerk etwas über die Qualität der jeweiligen Sozialen Arbeit aus? Aber die „Sandalen“ sind ja symbolisch zu verstehen. Ihre Bedeutung erschließt sich im Kontrast zu den Schuhen der Politiker und Militärs: „Es ist nur leider so, dass man mehr an die Jungs in den harten polierten Schuhen glaubt. Man glaubt eher an Sicherheitskonferenzen, […] an schnelle Eingreiftruppen.“ Währenddessen laufen die Konferenzteilnehmer „von einem Raum in den nächsten, von einem Weltproblem zum anderen. Kinderarmut, sexuelle Gewalt, Drogen, Rassismus. Es hört nie auf. […] Der Mensch ist schlecht, dunkel und verloren. Man kann aber auch sagen, dass es glücklicherweise ein paar Leute gibt, die daran arbeiten, ihn besser zu machen“ (ebd.). Im Allgemeinen lassen sich die Menschen, dieser Darstellung zufolge, allenfalls mit Zwang und Gewalt zur Vernunft bringen. Angesichts dessen erscheinen die Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, die von einer heilen Welt träumen, als hoffnungslos naive Möchtegern-Weltverbesserer.
Dieses Bild ist zweifellos eine Karikatur. Aber sie entspricht einer teilweise immer noch verbreiteten Vorstellung davon, was für eigenartig moralselige Menschen doch Sozialarbeiter seien. Vertreten wird diese Ansicht von Leuten, die offenbar davon überzeugt sind, dass das Leben ein Kampf ist, in dem man sich keine Schwächen erlauben darf. Solche Schwächen werden für sie durch den „Sozialarbeiter“ verkörpert. Demnach muss man sich eine weiche, „sozialarbeiterische“ Einstellung verbieten, wenn man in dieser harten Welt bestehen will.
Zwei weitere Beispiele für dieses Bild von Sozialer Arbeit: Als im September 2001 kurz nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center in Deutschland einige Politiker und Publizisten in Deutschland vor einer kriegerischen Reaktion darauf warnten, ja überhaupt ein Verstehen (nicht ein Entschuldigen!) der politischen, sozialen, kulturellen, psychischen und geschichtlichen Hintergründe des Terrorismus einforderten, da wurde dies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „deutscher Sozialarbeitermodus“ verspottet, dem zufolge man angeblich nur „geeignete Jugendhilfe-Maßnahmen zur Resozialisierung“ der Terroristen durchzuführen habe (Gaschke 2001, 2).
Auf der anderen Seite, und gleichsam spiegelbildlich dazu, beschworen auch deutsche Terroristen selbst das Kontrastbild des Sozialarbeiters, um sich diesem gegenüber zu profilieren. Nachdem RAF-Mitglieder der so genannten dritten Generation einen US-Soldaten erschossen hatten, um mit Hilfe seines Dienstausweises innerhalb eines zugangskontrollierten militärischen Areals eine Autobombe zünden zu können, sahen sie sich der Kritik von ehemaligen Sympathisanten ausgesetzt und verkündeten trotzig: „Wir haben nicht diesen verklärten, sozialarbeiterischen Blick“ (zit. in: Bönisch;Sontheimer 2007, 68).
Ist Moral insgesamt, wie ein bekannter Liedermacher einmal in der Frankfurter Rundschau provokatorisch schrieb, nur etwas für die „weiblich-süß-weiche Kinder-Küchen-und Kirchen-Welt“, während in der „männlich-herb-rauen Berufswelt“ Eigennutz, Ellbogen, ja Betrug die wichtigsten Tugenden sind? Produziert „die Moral das Kanonenfutter fürs Kapital“, während „das Kapital unermüdlich Anlässe für die moralische Schadensabwicklung“ (Kiesewetter 2007) bietet – wofür dann offenbar die Soziale Arbeit zuständig ist?
Gegenüber der spöttisch-abschätzigen Bewertung eines angeblich vorhandenen sozialarbeiterischen Moralismus kann man aber auch darauf beharren, dass es (wie der „Sandalen“-Autor sich am Ende zu sagen erlaubte) doch immerhin erfreulich ist, dass Menschen sich für andere einsetzen. Tun denn Sozialarbeiterinnen nicht tatsächlich „Gutes“ in dem Sinn, dass sie anderen Menschen bei ernsthafter Gefährdung ihrer Lebensqualität beistehen? Leisten sie nicht Hilfe bei sozialen Problemlagen, denen die Betroffenen sonst weitgehend schutzlos ausgeliefert wären? Sind nicht soziale Benachteiligung, Gewalt und Gewalterfahrung, Sucht, Krankheit, Wohnungs- oder Arbeitslosigkeit als Problembereiche, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun hat, auf selbstverständliche Weise das „Schlechte“, durch das die Soziale Arbeit selbst als etwas „Gutes“ ausgewiesen ist?
Wenn man derartiges von anderen Menschen im Alltagsleben berichten kann, zum Beispiel von einer Zahnärztin, die einmal in der Woche, an ihrem freien Nachmittag, in einem kirchlichen Gemeinderaum auf eigene Kosten nicht krankenversicherte Wohnsitzlose behandelt (vgl. Billerbeck 2001), oder von einer anderen, die ehrenamtlich in einem Hospiz Sterbende betreut, oder von einer weiteren, die Kindern von in Vollzeit arbeitenden Eltern nachmittags bei den Hausaufgaben hilft, oder schließlich von den vielen, die Geld in einer für sie spürbaren Höhe an Bedürftige spenden, dann bewerten wir im Alltag solche Einstellungen, Handlungen oder Menschen als moralisch sehr achtbar. Wenn nun Sozialarbeiter Ähnliches von Berufs wegen tun, dann besteht der Unterschied, so könnte man zunächst einmal sagen, weniger im Resultat als in dem „Von-Berufs-Wegen“. Ist also Soziale Arbeit allein auf Grund ihrer Zielsetzung und ihrer Ergebnisse ebenso moralisch achtbar?
In den vergangenen Jahrhunderten vor der staatlichen Institutionalisierung der Sozialen Arbeit war die Fürsorge für Arme, Kranke, Verletzte, Behinderte, Wohnsitzlose, Bettler, Aussätzige, Ausgestoßene davon abhängig gewesen, ob sich Andere von diesen Schicksalen rühren und Barmherzigkeit walten ließen. Auch die öffentliche Armenpflege wurde von ehrenamtlich Tätigen besorgt, bis dann – in Deutschland etwa seit 1910 – eigens dafür eingestellte und kommunal bezahlte Bedienstete sich der Menschen in besonderen Notlagen anzunehmen begannen. Dabei ist aber fast nur noch Historikern bekannt, dass mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Industriellen Revolution, eingeführten Absicherungen gegen Krankheit, Armut und Arbeitslosigkeit in erster Linie der politische Zweck verfolgt wurde, die öffentliche Ordnung zu sichern und mögliche soziale Unruhen einzudämmen.
Im allgemeinen Bewusstsein geblieben ist dagegen das persönliche Engagement der Pioniere der Sozialen Arbeit und ihrer Mitarbeiter für die damaligen Modernisierungsverlierer, die verwahrlosten Jugendlichen, die...