Vorwort
Dieser Band hat eine Geschichte. Seit mehreren Jahren beobachten wir die Entwicklung im Gesundheitssystem mit Besorgnis, steigendem Unmut – und zunehmendem Gefühl der Ohnmacht. Mit diesem Eindruck sind wir nicht allein, wie wir in vielfältigen beruflichen und privaten Gesprächen festgestellt haben. Im Jahre 2009 wollten wir unseren Wahrnehmungen konzentrierter, systematischer und mit mehr Ruhe nachgehen. Unter dem Titel »In Sorge um das Gesundheitssystem« haben wir in einer interdisziplinären Fachtagung in Kooperation mit dem Krankenhaus Waldfriede an der Theologischen Hochschule Friedensau Aspekte der Ökonomisierung, der zunehmenden Technologisierung der Medizin und denkbarer Implikationen im gesellschaftlichen Wandel der soziodemographischen Veränderungen diskutiert. Neben einer für alle Beteiligten überraschend dichten, persönlichen und unprätentiösen Atmosphäre eines anregenden, fachübergreifenden Austauschs kamen wir bei nahezu allen Vorträgen an den Punkt, zu sagen: »Das ist eigentlich eine ethische Fragstellung«, »das müsste man noch einmal unter ethischen Gesichtspunkten diskutieren«, und es kristallisierte sich bei den Referenten und Teilnehmern der Wunsch heraus, eine Ethiktagung zu veranstalten. Zusammen mit denselben Referenten der ersten Runde – bis auf eine – konnten wir dann auch in der gleichen Besetzung das Thema Ethik in der Medizin vertiefen. Bereichert wurde die Tagung insbesondere durch Klaus Dörner als neuen Referenten dieser 2. Friedensauer Fachtagung am Masterstudiengang »Sozial- und Gesundheitsmanagement«.
»Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin?« – der Titel war provokant, und das sollte er auch sein. Er spiegelt unser Empfinden einem Gesundheitssystem gegenüber wider, das fast ausschließlich von einem Mechanismus »gesteuert« erscheint, den wir als systemfremd betrachten, nämlich dem der Finanzierbarkeit. Was auch immer das Regulativ der Finanzierbarkeit steuert, Ethik in der Medizin wird damit zumindest in wesentlichen Teilaspekten konterkariert. Exemplarisch seien nachfolgend einige der Auswirkungen dieser Entwicklung dargestellt:
- Eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine patientenorientierte Medizin, die es erlaubt, sich um den Patienten angemessen zu kümmern und ihm zuzuwenden, ist das ausreichende Vorhandensein von Zeit. Der gegenwärtige Trend ist aber gerade die Verdichtung von Arbeit durch Personalkürzungen – eine Maßnahme, die stets mit Mangel an Ressourcen begründet wird. Gleichzeitig erfolgt zunehmend eine Belastung des Personals mit Aufgaben, für die es weder gedacht noch ausgebildet ist: Die Zunahme von Bürokratie, ganz besonders der Dokumentation, hat sowohl für das Pflegepersonal als auch für Ärzte1 ausufernde Dimensionen angenommen.
- Gegenwärtig könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Mangel an Zeit durch Aktionismus kompensiert werden soll. Dieser drückt sich neben einer zunehmenden juristischen Absicherung anhand einer Flut von Einwilligungserklärungen und überbordende Dokumentation aus oder aber darin, in großer Zahl z. T. unnötige apparative oder Laboruntersuchungen zu veranlassen. Vertrauensbildend ist dieses Vorgehen nicht, insbesondere dann, wenn der Patient das Empfinden hat, dass solche Maßnahmen unter Zeitdruck und -not erfolgen.
- Von Aktionismus geprägt sind zunehmend aber auch Verhaltensweisen bei Patienten, die sich in besonders kritischen Situationen befinden. Häufig werden in nach menschlichem Ermessen aussichtslosen Situationen noch aufwendige und teure Verfahren angewendet, die erwartungsgemäß den Tod des Patienten nicht verhindern, sein Leiden aber möglicherweise verlängern. Patientenverfügungen sollen hier Klarheit schaffen. Aber sind sie tatsächlich immer wirksam und führen zum beabsichtigten Ergebnis?
- Aktuell findet eine Diskussion über die auffällige Zunahme von – insbesondere teuren operativen – Maßnahmen statt, deren erwirtschaftete Einnahmen entsprechend dem Entgeltsystem (DRG) der Finanzierung und Existenz der Krankenhäuser dienen. Sofern sogenannte Zielvereinbarungen mit den behandelnden Ärzten abgeschlossen worden sind, kommen sie auch diesen zugute. Beispiele dafür sind Hüft- und Kniegelenkendoprothesen, Herzkatheteruntersuchungen, Organ- und Stammzelltransplantationen. Diese können für Patienten sogar potenziell gefährlich und nachteilig sein.
Die Liste ließe sich verlängern.
Das Entgeltsystem wurde eingeführt mit dem Ziel, die Kosten im Gesundheitssystem zu begrenzen. Genau dieser Effekt ist aber bisher nicht eingetreten. Was als »Ökonomisierung« im Gesundheitswesen begründet wurde, stellt vielmehr eine Kommerzialisierung dar.
Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin dabei (noch)? Soll Ethik innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems gewissermaßen als Trostpflaster die ausufernden Folgen der Ökonomisierung/Kommerzialisierung kompensieren? Oder wollen wir uns erlauben, das Gesundheitssystem anders zu denken? Mit »Ethik« als Steuerungsmechanismus? Wenn ja, was könnte das bedeuten? Haben wir Anhaltspunkte dafür, worauf können wir zurückgreifen, was müssten wir neu erfinden? Wem käme eine Steuerungshoheit zu? Gibt es überhaupt eine? Woran würden wir erkennen, dass Ethik eine Rolle spielt? – Dieser Band versucht darauf Antworten zu finden. Vielfältige: vertraute, überraschende, schneidend logische.
Wir wollten mit der Tagung und dem thematisch erweiterten Sammelband das Thema Ethik und ihre potenzielle Bedeutung für die Zukunft der Medizin interdisziplinär aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und dabei sowohl Fachvertreter als auch Betroffene zu Wort kommen lassen. Wir haben Vertreter der Medizin und Pflege, aber auch Juristen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler eingeladen, mit uns gemeinsam über diese Fragen nachzudenken. Unsere Vorstellung war, ein Mosaik aus vielen Teilbereichen zu entwerfen, das es uns in der Gesamtheit erlaubt, einen Eindruck zu gewinnen, ob ein »Mehr an Ethik« die Medizin der Zukunft besser gestalten ließe? Wir glauben, ja. Bestärkt werden wir diesbezüglich insbesondere durch die Erfahrungsberichte Betroffener. Ihre Offenheit, ihre Schonungslosigkeit in der Darstellung ihrer Erlebnisse, das Ausmaß an möglicher Verletzung und die Wahrnehmung tiefen Trostes selbst in schwersten Momenten sprechen dafür, dass unser Gesundheitssystem eines »Mehr an Ethik« bedarf.
Systematisiert haben wir unser Anliegen einerseits unter einem kurzen Impuls zur »Kybernethik« von Heinz von Foerster und seinem kreativen Denkpotenzial (Silvia Hedenigg) sowie der Einstiegsfrage, ob Ethik als Steuerungsprinzip zur Finanzierung des Gesundheitssystems herangezogen werden könnte (Bernd Quoß).
Im zweiten Teil wollen wir mosaikartig ein Bild zeichnen, ob und wenn ja welche Rolle Ethik in den Teilbereichen der Medizin spielt bzw. spielen könnte: in der Psychiatrie – und darüber hinausweisend (Klaus Dörner), der Pädiatrischen Onkologie (Günter Henze), der Neonatologie (Christoph Bührer), der Geriatrie und Gerontopsychiatrie (Hans Gutzmann) sowie in der Pflege (Margarete Reinhart). Unser Anliegen war es dabei, nicht nur Fachvertreter aus ihrer professionellen Perspektive zu Wort kommen, sondern insbesondere auch Erfahrungsberichte von Patienten einfließen zu lassen (Katja Schreyer, Bernhard Röhrich, Ellen Neubauer). Das Gesamtbild, das wir damit zeichnen konnten, ist ein sehr differenziertes, eines das weder beschönigend idealistisch noch resignativ desillusionierend ist. Die Argumente der Fachvertreter basieren auf aktuellen Faktenlagen, nehmen Bezug auf medizinisch-juristische Dilemmata und sind gekennzeichnet durch eine empathische Anwaltschaftlichkeit für ihre jeweiligen Patientengruppen. Die Erfahrungsberichte von Betroffenen beschreiben zum Teil anhand einer Krankengeschichte, dass abhängig von der Einrichtung und unter Umständen der darin gelebten Medizinkultur frustrierende, entmutigende Erfahrungen möglich sind, an anderer Stelle Menschlichkeit, Empathie, Zuwendung, ernsthafte Einbeziehung des Patientenwillens und aller Ressourcen des Patienten erlebbar waren.
Im dritten Teil unseres Bandes wollen wir untersuchen, ob abstrakte Prinzipien wie sie in der Ethik allgemein, der Medizinethik im Besonderen, zugrunde gelegt werden, operationalisierbar sind. Dazu wurden Beziehungsstrukturen und Kommunikationskulturen (Silvia Hedenigg), der Umgang mit Behandlungsfehlern und deren Reflexion in der Fehlerkultur des Gesundheitssystems (Edgar Voltmer) einbezogen und letztlich vor der Frage des Spannungsfeldes von Medizin, Recht und Ethik (Rainer Patjens) diskutiert, um abschließend das Prinzip der Menschenwürde in Bezug zur Patientenverfügung zu betrachten (Christoph v. Mohl). Dieser dritte Teil öffnet die Perspektiven noch einmal über die engen Grenzen der Medizin hinaus, um sozialwissenschaftliche, juristische und philosophische Aspekte einfließen zu lassen. Dass die Gesellschaft die Lösung dieser komplexen Fragen nicht an das Gesundheitssystem und schon gar nicht an die Politik allein delegieren darf, kann Rainer Patjens mit seiner sachlich-logisch juristischen Auslegung des Beziehungsgeflechts von Medizin, Ethik und Recht erörtern:
»Ethik bewegt sich […] nicht im juristischen Spannungsfeld der Medizin, sondern prägt von außerhalb das Spannungsfeld zwischen Recht und Medizin. Da weder Recht noch Medizin Selbstzweck sind, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen haben, muss die Entscheidung was zulässig, gewollt und ethisch vertretbar ist, noch immer von der Gesellschaft beantwortet werden.«
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