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E-Book

Europa ist tot, es lebe Europa!

Eine Weltmacht muss sich neu erfinden

AutorThomas Schmid
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641200831
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Europa neu denken - ein Appell!
Mit Europa war einst die große Hoffnung auf einen Kontinent des Friedens und Wohlstands verbunden. Nach vielen Krisen scheint es heute damit vorbei zu sein. Viele Europäer sehen in der EU nur noch ein bürokratisches Monster. Doch es gibt überhaupt keinen Grund, sich enttäuscht oder zornig abzuwenden. Es gilt, das unerhörte Experiment der europäischen Einigung schwungvoll fortzusetzen. Dabei geht es um den Beweis, dass geteilte Souveränität die Staaten und Völker nicht schwächt, sondern stärkt, dass Vielfalt nicht spaltet, sondern zusammenführt. Thomas Schmid plädiert für ein Europa, das Experimente und unterschiedliche Geschwindigkeiten zulässt, das liberaler wird und dem Einbruch globaler Konflikte nicht mit Festungsdenken begegnet. Die europäische Einigung wird den Nationalstaat überwinden, ohne die Bürger heimatlos zu machen. Die hoffnungsvolle Botschaft des Autors lautet: Europa bleibt sich treu, indem es sich neu erfindet - kühn und pragmatisch zugleich.

Thomas Schmid, Jahrgang 1945, engagierte sich in der Studentenbewegung, leitete die Zeitschrift 'Autonomie' und arbeitete als Lektor im Verlag Klaus Wagenbach. Er war in leitenden Positionen bei 'Wochenpost' und 'FAZ' tätig, zuletzt als Chefredakteur und Herausgeber der 'Welt'-Gruppe. Schmid lebt als Publizist in Berlin und betreibt den Blog www.schmid-blog.de. Er veröffentlichte u.a.: 'Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft' und (mit Daniel Cohn-Bendit) 'Heimat Babylon. Das Wagnis der multikulturellen Demokratie'.

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Leseprobe

1. Kapitel

Europas Problemgebirge.
Und die Kraft der Krise

Vorwärts immer, Stillstand nimmer?

Politiker können wie Kinder sein. Sie glauben dann zum Beispiel an die unmittelbare Überzeugungskraft von Bildern, mögen sie auch noch so schief sein. Es soll Walter Hallstein, der erste Vorsitzende der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, gewesen sein, der die »Fahrradmetapher« in die Europapolitik einführte, die später von vielen anderen Europapolitikern ebenfalls gerne bemüht wurde. »Europa«, soll er gesagt haben, »ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.« Gemeint war damit: immer mehr Europa, ein immer größeres Tempo der Integration, weiter so. Vorwärts immer, Stillstand nimmer. Das Bild kommt zwar harmlos daher, steckt aber voller bauernschlauer Bosheit. Denn es suggeriert: Wer das europäische Fahrrad bremsen oder anhalten will, riskiert Sturz wie Verletzung und gefährdet den Europaverkehr. Nur als Perpetuum mobile, so die Botschaft, kann Europa, kann die europäische Einigung1 Bestand haben.

Das Perpetuum mobile gibt es bekanntlich nicht. Und so kann auf den zweiten Blick die verführerische Kraft des Fahrradbildes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ziemlich töricht, ja unsinnig ist. Als Jacques Delors, ein wahrer Mehr-Europa-Fanatiker, im Europäischen Parlament zur Begründung einer abermaligen Temposteigerung des europäischen Integrationsprozesses wieder einmal das Fahrrad strapazierte, entgegnete ihm ein Abgeordneter aus dem Vereinigten Königreich mit trockenem britischen Sarkasmus: »Dann stellen Sie doch den Fuß auf den Boden!« Es verhält sich ganz einfach: Man kann ein Fahrrad fahren, unterwegs auch bremsen und anhalten, man kann absteigen und gegebenenfalls wieder weiterfahren. Was für das Fahrrad gilt, gilt auch für Europa. Schlecht für Europa ist es, dass die meisten Europapolitiker fast aller Mitgliedstaaten der EU das bis heute partout nicht einsehen wollen. Das Strampeln, so glauben sie fest, sei unser aller Schicksal. Mehr Europa, immer und überall: Dies ist das Grundübel der europäischen Einigung.

Die Europäische Union befindet sich heute in keiner guten Verfassung. Auch wer nicht zum Alarmismus neigt, wird um die Einsicht nicht herumkommen, dass es noch nie so schlecht um die europäische Einigung stand wie jetzt. Lange begleitete die EU unser Leben wie eine Hintergrundmusik. Diese erklang so beständig und dezent, dass wir sie kaum mehr zur Kenntnis nahmen. Manchmal nervte die Union zwar mit ihren bürokratischen Kapriolen, ihrer blutleeren Sprache und ihrem Einheitsfimmel. Aber das machte weiter nichts aus, es gab die EU so selbstverständlich wie die Verkehrsnachrichten, das Wetter und die Luft, die wir atmen. Nun aber ist die EU auffällig geworden. Erstmals in ihrer Geschichte ist sie nicht nur von einer Krise erschüttert, sondern in ihrem schieren Bestand bedroht. Ihr Scheitern, ihr Zerbrechen, ihre mutwillige Selbstaufgabe oder gar Selbstzerstörung mag man nicht mehr ganz ausschließen. Es könnte dahin kommen, dass sich Europa zerlegt und seine Völker und Staaten wieder in ihre alten nationalen Gehäuse zurückkriechen oder dorthin zurückgeschleudert werden.

Eine Grundüberzeugung vieler, ja fast aller Europapolitiker war und ist, dass der Prozess der europäischen Integration ein unumkehrbarer sei muss. Dahinter stand die verständliche Angst einer Kriegsgeneration, die die Schrecken eines entfesselten Nationalismus erlebt hatte, vor einem Rückfall in nur noch einzelstaatliches politisches Denken. Es war und ist aber auch ein weniger nobles Motiv am Werk: die Überzeugung nämlich, man könne die europäische Gemeinschaft nur als coup d’etat, nur von oben verwirklichen. Das Volk, so die weitverbreitete Überzeugung, sei nicht fähig, den Segen des europäischen Einigungswerks zu verstehen und es dauerhaft, auch in Krisensituationen mitzutragen. Die europäische Einigung, eigentlich ein von gegenseitigem Vertrauen getragenes Unternehmen, war und ist zugleich zu seinem eigenen Schaden ein Projekt des Misstrauens. Aus diesem Misstrauen entsprang der feste Wille der – wenn man so will – europäischen politischen Klasse, Fakten zu schaffen, möglichst schnell und unwiderruflich. So bekam die europäische Einigung in ihrem Drang, wetterfeste Institutionen zu schaffen, einen autoritären Zug. Und den verhängnisvollen Drall, Integration um der Integration willen zu betreiben. Die Frage nach dem Sinn einzelner Maßnahmen wurde mit einem Tabu belegt, galt geradezu als unanständig. Wer fragte oder gar zweifelte, galt als Antieuropäer.

Das konnte eine Weile, aber nicht ewig gut gehen. Es ist eigentlich leicht einzusehen, dass die europäische Einigung dauerhaft nur dann eine Chance hat, wenn sie von den Völkern Europas wenigstens halbwegs akzeptiert wird. Mit den Völkern war also von Anfang an zu rechnen. Manche von ihnen stimmten einst einigermaßen emphatisch der europäischen Einigung zu. Etwa das (west-)deutsche und das italienische, denn in beiden Staaten bedeutete Europa auch die schnelle Abkehr von einer Vergangenheit, mit der sich kein aufrechter Mensch identifizieren konnte. Anderen Völkern erging es anders. Dem britischen etwa. Es konnte nach 1945 – trotz des Verwelkens des Empires – stolz sein auf seine lange Parlamentsgeschichte, auf seinen Beitrag zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und auf seine politische Kultur der Mäßigung, die auch etwas mit der insularen Lage des Landes zu tun hat. Diesem Volk, für das die Souveränität des Parlaments ein sehr hoher Wert ist, musste die Überlistungsstrategie der Europapolitiker wider den Strich gehen. Gewiss, die Briten sind mit ihrer Extravaganz anderen europapolitisch oft auf die Nerven gegangen. Das ändert aber nichts daran, dass es ein fundamentaler Fehler der europäischen Gremien war, das lange angestaute Missfallen vieler Briten zu übersehen oder es zwar zu sehen, sich aber darüber hinwegzusetzen. Man hat in Brüssel die Zeichen an der Wand nicht erkannt.

Nur eine flexiblere, nicht mehr nach dem Gral der Vertiefung suchende Europäische Union hätte der Mehrheit der Briten attraktiv erscheinen können. Weil man in Brüssel (wie in den Regierungen vieler EU-Mitgliedstaaten) fest davon überzeugt war, dass die europäische Einigung keinen Rückwärtsgang haben darf und kann, konnte man sich bis zuletzt schlicht nicht vorstellen, was dann doch geschah: dass Großbritannien aus den heiligen Hallen der EU ins angeblich oder tatsächlich Freie austritt. Beide Seiten haben in Großbritannien während der Referendumskampagne maßlos und polemisch agiert – das Votum war keine Entscheidung kühler Köpfe. Und doch liegt ein Gutteil der Verantwortung für das britische Nein bei Brüssel und den europäischen Institutionen. In ganz Europa erklingt der Ruf nach einer beweglicheren, weniger auf Regulierung setzenden Europäischen Union. Rechte, fanatische und europafeindliche Populisten werden auch deswegen stark, weil die EU bisher nicht bereit ist, den rationalen Kern dieses Unbehagens ernst zu nehmen, Konsequenzen daraus zu ziehen und das europäische Einigungswerk etwas abzurüsten. So paradox es klingt: Sollte die Europäische Union auseinanderbrechen, dann wären dafür nicht zuletzt jene Europapolitiker und jene europäischen Institutionen verantwortlich, die der EU eine Ewigkeitsgarantie verschaffen wollten.

Den großen Kladderadatsch wird es nicht geben

So muss es nicht kommen, und so wird es nicht kommen. Doch selbst wenn es so käme, müsste das nicht zu dem großen Kladderadatsch führen, den so viele Durchhalteeuropäer befürchten und als Schreckensgemälde an die Wand malen, um ihrer Drohbotschaft Gewicht zu verleihen. Etwa Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn: »Die Europäische Union«, sagte er, »kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen zur Regel wird […]. Und dieser falsche Nationalismus kann zu einem richtigen Krieg führen.«2 Nein, so muss es nicht kommen. Es ist nämlich keineswegs ausgemacht, dass die Furien eines aggressiven, bösartigen und kampfbereiten Nationalismus wieder Besitz von Europa ergreifen würden. Die Le Pens kommen und gehen. Sie sind ganz und gar Kräfte des Neins und deswegen außerstande, es mit Europa aufzunehmen und ihm ihren armseligen Stempel aufzudrücken. Die Alternative lautet nicht: mehr Europa oder Rückkehr des alten Nationalismus. Wir sollten uns das nicht einreden lassen. Das Ende der EU müsste keineswegs mit einem kontinentalen Siegeszug militanter Nationalismen zusammenfallen, wie so viele Europa-Begeisterte von Joschka Fischer bis Martin Schulz warnend behaupten. Viele Farben Grau wären viel wahrscheinlicher. Das Ende der EU könnte ganz unspektakulär ausfallen, ohne Klamauk, Pathos, Blut und Tränen. Wir könnten sogar damit leben. Eine Misere wäre es aber doch.

Käme es so weit, dann liefen die Völker und Staaten vermutlich einfach auseinander und zerstreuten sich – still, vielleicht gedrückt, doch vermutlich weder lärmend noch verzweifelt noch aggressiv. Denn in Europa geht nicht der Ungeist von 1933 um. Die europäische Einigung hat Europa grundlegend verändert und die Bürger des Kontinents in ihren Lebensgewohnheiten einander angenähert und sie miteinander vertraut gemacht. Das kann niemand mehr rückgängig machen. Wohl aber könnte es dahin kommen, dass sich alte Allianzen wiederbeleben, etwa eine der skandinavischen Staaten. Neue Allianzen entstünden, etwa eine der bisherigen osteuropäischen...

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