Das politische System der Schweiz und seine Kontaktpunkte zur Evaluation
Fritz Sager, Johanna Künzler und Philipp Lutz
Die Evaluation öffentlicher Politik findet sich in der Schweiz in einem einzigartigen Kontext wieder. Die Pluralität unterschiedlicher Sprachen, Religionen und gesellschaftlicher Strukturen hat politische Institutionen mit ausgebauter demokratischer Machtteilung geformt und den politischen Prozess in spezifische Bahnen gelenkt. Das Ziel des vorliegenden Kapitels ist daher ein Zweifaches: Einerseits soll das politische System der Schweiz in seinen Grundzügen vorgestellt werden. Andererseits wird die Stellung von Evaluationen innerhalb dieses Komplexes verdeutlicht.
Um die Verortung von Evaluationen analytisch vornehmen zu können, wird auf Scharpfs Konzeptualisierung der Legitimität öffentlichen Handelns zurückgegriffen. In seinen wegweisenden Arbeiten (Scharpf, 1970, 1999) charakterisiert Scharpf demokratische Legitimation als bestehend aus Input-Legitimation und Output-Legitimation. Er argumentiert (Scharpf, 2006), dass die Legitimität in heutigen Demokratien fast ausschliesslich in dem Glauben an institutionelle Arrangements liege, die sicherstellen, dass zum einen der Regierungsprozess für die Präferenzen der Regierten empfänglich ist und zum anderen die eingeführten Politiken effektive Lösungen für die Probleme der Regierten bieten. Die Input-Legitimation beruht auf dem traditionellen Prinzip der Politikgenerierung durch die Mitsprache und Zustimmung des Volkes, sei es im Rahmen von Volksabstimmungen oder über die Repräsentation im Parlament. Die Input-Legitimität bezieht sich also auf die Herrschaft durch das Volk (government by the people). Damit gelten politische Entscheidungen als legitim, wenn sie den Willen des Volkes widerspiegeln (Scharpf, 1999, S. 16). Die Logik der Input-Legitimität baut auf Formeln wie Partizipation, Konsens und kollektiver Identität auf, wie sie sich in der schweizerischen halbdirekten Demokratie in besonderem Mass manifestieren. Die Output-Legitimation dagegen beruht auf dem funktionalen Prinzip der Nützlichkeit (government for the people), wobei die Akteure nicht unbedingt demokratisch gewählt oder legitimiert sein müssen, sondern eine effektive Aufgabenerfüllung im Vordergrund steht. Demnach sind politische Entscheidungen dann legitim, wenn sie das allgemeine Wohl im Gemeinwesen fördern (Scharpf, 1999, S. 16). Die Legitimität ergibt sich aus der Lösung von kollektiven Problemen, wenn diese aus individueller Sicht nicht gelöst werden können. Entgegen der inputorientierten Legitimität, die eher eine starke kollektive Identität erfordert, ist für die outputorientierte Perspektive lediglich ein gewisser Bestand an einem gemeinsamen Interesse nötig, der ein kollektives Handeln rechtfertigt (Scharpf, 1999, S. 20f.). Auch wenn diese beiden Dimensionen komplementär verwendet werden, sind sie analytisch voneinander zu unterscheiden. Jedoch liegt beiden die normative Prämisse zugrunde, dass eine legitime Regierung dem «Gemeinwohl» der Regierten dienlich sein muss. Beide Dimensionen interagieren miteinander, wobei eine hohe Leistung auf der einen Seite nicht die Defizite auf der anderen Seite ersetzen kann (Scharpf, 2006, S. 4). Jedoch wird der demokratische Prozess der Selbstbestimmung zu einem «leeren Ritual» ohne die Erbringung von Leistungen für die Regierten, also der Output-Legitimität (Scharpf, 1999, S. 16–24).
Während die Evaluation öffentlicher Politik sich klassischerweise auf der Output-Seite ansiedeln lässt (Widmer und De Rocchi, 2012, S. 148), spielt sie auch auf der Seite des Inputs verschiedene Rollen (Widmer, 2009). Wo Evaluationen genau Eingang in das System und den Prozess der schweizerischen Politik finden und auf welche Förderungs- oder Hemmmechanismen sie dabei stossen, wird nachstehend dargelegt. Dabei werden zuerst die institutionellen Grundpfeiler der direkten Demokratie, des Föderalismus und der Konkordanz dargestellt und bezüglich ihrer Wirkung auf Evaluationen untersucht. Es folgt eine Illustration des politischen Prozesses in der Schweiz anhand der Gesetzgebung als Beispiel. Auch hier wird fortlaufend aufgezeigt, wo und wie Evaluationen jeweils involviert werden. Das Kapitel schliesst mit einer Synthese, die auf die hier eingeführte Unterscheidung von Input- und Output-Legitimation zurückkommen wird.
1. Institutionen
Die zentralen Institutionen des politischen Systems der Schweiz sind die direkte Demokratie, der ausgeprägte Föderalismus und die Konkordanz, die im Folgenden in dieser Reihenfolge präsentiert werden.
1.1 Direkte Demokratie
In keinem anderen Land sind die unmittelbare Volkssouveränität und die direktdemokratische Bürgerpartizipation so stark ausgebaut wie in der Schweiz. Im internationalen Vergleich werden die Schweizerinnen und Schweizer mit Abstand am häufigsten an die Urne gerufen, um über wichtige sachpolitische Fragen die abschliessende Entscheidung zu treffen (Trechsel, 2007, S. 436). Beeinflusst von den politischen Ideen der Französischen Revolution entwickelte sich die direkte Demokratie im 19. Jahrhundert zuerst auf der Ebene der Kantone. Erst später erfolgte die Entwicklung auf Bundesebene (Vatter, 2014a, S. 344–347). Die Bundesverfassung von 1848 kannte einzig das obligatorische Verfassungsreferendum als Element direkter Demokratie. Infolge von Verfassungsrevisionen kamen das Gesetzesreferendum (1874), die Volksinitiative (1891) und das Staatsvertragsreferendum (1921) als neue direktdemokratische Instrumente hinzu.1 Diese in Tabelle 1 summarisch dargestellten Instrumente bilden bis heute den Kernbestand direktdemokratischer Mitwirkungsrechte und geben der Stimmbevölkerung die Funktion einer institutionalisierten Opposition. Die direkte Demokratie dient so als Ergänzung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Das schweizerische Entscheidungssystem wird daher in seiner Gesamtheit als «halbdirekte Demokratie» beschrieben (Linder, 2012, S. 242).
Eine besondere Wirkung auf die Regierung und das Parlament entfaltet das Gesetzesreferendum. Auch wenn es faktisch nur gegen wenige Gesetzesbeschlüsse ergriffen wird, dient die Androhung eines Referendums als Verhandlungspfand im politischen Prozess. Es führt zur Integration aller wichtigen politischen Kräfte und zum Erarbeiten einer Kompromisslösung, die sich in einer allfälligen Volksabstimmung als mehrheitsfähig erweisen würde (Neidhart, 1970).
Während dem Referendum gerne die Wirkung als Bremspedal zugeschrieben wird, kommt der Volksinitiative die Wirkung eines Gaspedals zu, die es der ausserparlamentarischen Opposition ermöglicht, neue Themen und Ideen ins politische System einzubringen (Linder, 2012, S. 265). Der Volksinitiative werden die Funktionen eines Ventils (Lösungsvorschläge bei hohem Problemdruck), eines Schwungrades (Verstärkung eines politischen Anliegens), eines Katalysators (Forderungen auf die politische Agenda setzen) und der politischen Mobilisierung zugeschrieben (Linder, 2012, S. 287ff.).
In der politischen Praxis erzeugen direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten als zusätzlicher Vetospieler einen Status-quo-Bias (Brunetti und Straubhaar, 1996), einen Bremseffekt auf staatliche Interventionen sowie eine moderate Fiskalpolitik (Freitag et al., 2003). Des Weiteren konnte eine Reihe von gesellschaftlichen Auswirkungen der direkten Demokratie festgestellt werden. So weist Freitag (2006) einen positiven Effekt der direkten Demokratie auf zivilgesellschaftliches Engagement und Sozialkapital nach. Stadelmann-Steffen und Vatter (2012) zeigen zudem, dass direktdemokratische Partizipation die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie erhöht.
Zu den Auswirkungen der direkten Demokratie auf die Stellung der Evaluation in der Schweiz existieren in der Forschungsliteratur verschiedene Thesen. Einerseits wird argumentiert, dass durch Volksabstimmungen getroffene Entscheidungen den Kurs einer Politik weitgehend festlegen: Unabhängig von Evaluationsergebnissen werde durch die direkte Demokratie etabliert, was als politisch (un-)machbar gelte (Bussmann, 1995, S. 86; Fornerod, 2001, S. 29; Frey, 2012, S. 33). Andererseits könnten Volksabstimmungen aber auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf gewisse Bereiche lenken und dadurch Evaluationen überhaupt erst ermöglichen (Bussmann, 1995, S. 86; Freiburghaus und Zimmermann 1985, S. 95f.; Frey, 2012, S. 33). Empirische Erkenntnisse sind in diesem Bereich noch rar. Dass das Interesse der Stimmbevölkerung an Evaluationen relativ gering ist (Widmer und De Rocchi, 2012, S. 150), scheint durch die schwache Präsenz derartiger Studien im medialen Diskurs rund um direktdemokratische Abstimmungen bestätigt zu werden (Stucki, 2016; Stucki und Schlaufer in diesem Band). Schlaufer (2016) konnte zeigen, dass die Nennung einer Evaluation in einem Zeitungsartikel die Diskursqualität dieses Artikels erhöht. Zudem scheinen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zur Vorbereitung auf eine Abstimmung eher evidenzbasierte Informationen zu verwenden als heuristischen Hinweisen wie etwa Parteiparolen oder Meinungsumfragen zu folgen, wenn sie beide Informationsquellen zur Verfügung haben (Stucki et al., 2016). Diese Resultate beschränken sich allerdings auf spezifische Abstimmungskampagnen im Bildungs- respektive auf ein Experiment im Gesundheitsbereich und müssen durch weitere Untersuchungen bekräftigt werden.
1.2 Föderalismus
Die schweizerischen Kantone geniessen, verglichen mit dem internationalen Umfeld, eine einmalig starke Stellung innerhalb des Bundesstaats: Aufgrund von Elementen wie einer eigenen Verfassung, ausgebauten Institutionen der Gewaltentrennung sowie verschiedenen Einflusskanälen auf die bundesstaatliche Ebene stellen die Gliedstaaten...