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Theorie II. und III. Ordnung – die großen Missverständnisse
2.1 Vorbemerkungen
Im Folgenden wird unter „Theorie II. Ordnung“ (kurz: Th.II.O.) bzw. „Theorie III. Ordnung“ (Th.III.O.) stets die Elastizitätstheorie II. bzw. III. Ordnung verstanden. Die Schnittgrößen und Verformungen werden also nach der Elastizitätstheorie am elastisch verformten (ggf. imperfekten) System berechnet. Die Beanspruchbarkeit des einzelnen Querschnitts wird wahlweise als Spannungsnachweis gegen Fließen der höchst beanspruchten Faser eines Querschnitts oder als Schnittgrößeninteraktionsnachweis bei Ausbildung des ersten Fließgelenks im Gesamtsystem ermittelt.
Einen großen Einfluss auf die Genauigkeit der Ergebnisse einer Th.II.O. haben naturgemäß sowohl die Systemgeometrie als auch die Art der Beanspruchung. Bei der Fehleranalyse werden folgende Fälle unterschieden:
• ebene Beanspruchung: | My, Vz, N oder Mz, Vy, N |
• räumliche Beanspruchung: | Doppelbiegung ohne / mit N Biegetorsion (auch reine Torsion) |
Es stellt sich heraus, dass besonders Systeme mit ebener Geometrie und räumlicher Beanspruchung empfindlich auf die Vereinfachungen einer Theorie II. Ordnung reagieren können.
Beide Theorien sind nicht genormt; jeder Anwender und jeder Software-Hersteller kann unter den Kürzeln Th.II.O. und Th.III.O. andere Eigenschaften subsumieren. Deshalb werden zunächst in den Abschn. 2.2 bis 2.7 der Sprachgebrauch und die Defizite unter verschiedenen Teilaspekten untersucht. Als Resultat ergibt sich das Grundgerüst für eine systematische Klassifizierung der unterschiedlichen Näherungstheorien (Abschn. 2.8; Tab. 2.4). Mithilfe dieser Einteilung kann auch die Leistungsfähigkeit der auf den Theorien fußenden Software abgeschätzt werden. Weitere Hinweise für die praktische Anwendung folgen in den Abschn. 2.9 bis 2.12.
2.2 Verformungsgeometrie
Den theoretischen Herleitungen sowie allen Programmen der Th.II.O. liegt – wie bei Th.I.O. – die Linearisierung der Verformungsgeometrie zugrunde (z. B. sin φ ≈ φ, cos φ≈ 1; „Tangente statt Kreisbogen“ s. Bild 2.1). Aus diesem Grund sind alle Theorien II. Ordnung Näherungsverfahren, deren Anwendungsgrenzen sorgfältig – in den Handbüchern zur Software – zu definieren und – von den Nutzern der Software – zu beachten sind. Insbesondere bei planmäßig ebenen Systemen, deren Steifigkeiten in ihrer Ebene und senkrecht hierzu sich um eine Größenordnung unterscheiden (Dies ist z. B. bereits bei einem Einfeldträger mit I-Querschnitt der Fall!), können die Abweichungen derart groß werden, dass die Resultate auch im baupraktisch relevanten Bereich unbrauchbar sind [28].
Bild 2.1 Linearisierte Verformungsgeometrie: „Tangente statt Bogen“
In Bild 2.1 wird lediglich der Effekt dargestellt, dass sich die Kragarmspitze als Folge der Linearisierung der Verformungsgeometrie in der durch v2 und w2 aufgespannten Ebene bewegt, sodass die bei genauer nichtlinearer Beschreibung auftretende zusätzliche Verschiebung u2,nl in x-Richtung vernachlässigt wird. Weiterhin geht jedoch mit den Verschiebungen v2 und w2 i. Allg. eine Verdrillung und somit auch ein Torsionsmoment einher. Auch dieser Effekt kann von einer Th.II.O. nicht oder nur ungenau erfasst werden. Es ist außerdem klar, dass sich die Werte von v2 und w2 nach Th.II.O. von den exakten Werten unterscheiden, was in Bild 2.1 nicht dargestellt ist (Genaueres s. Bild I/10.3).
Wegen der Linearisierung der Verformungsgeometrie sind die Ergebnisse nach Th.I.O. und Th.II.O. bei ebener Beanspruchung ohne Wirkung einer Normalkraft sowie bei reiner Torsionsbeanspruchung (d. h. ebenfalls ohne Wirkung einer Normalkraft) identisch.
Hinsichtlich der beschriebenen Linearisierung der Verformungsgeometrie bei Th.II.O. gibt es in der Fachliteratur, den Normen und der Software in der Regel zwar keine Unterschiede, jedoch werden die oben beschriebenen Effekte nicht immer explizit und eindeutig angesprochen. Deutlich wird dies z. B. an dem in den Normen [1, 2] mehrfach verwendeten Begriff der „planmäßigen Torsion": Es bleibt offen, ob bei dem in Bild 2.1 dargestellten Fall der Doppelbiegung von planmäßiger Torsion im Sinn der Norm auszugehen ist oder nicht (s. auch Erläuterungen zu (2.2)).
Bei einer Th.III.O. wird die Verformungsgeometrie „genauer“ erfasst, ohne dass es hierfür eine einheitliche Regelung gibt. Weiteres zur Th.III.O. s. Abschn. 2.10 und Tab. 2.4.
2.3 Gleichgewicht am verformten System
Die in der Fachliteratur beschriebenen Theorien II. Ordnung sowie die auf dem Markt angebotenen kommerziellen Stabwerksprogramme nach Th.II.O. unterscheiden sich in der Art und Weise, wie das Gleichgewicht am verformten System gebildet wird (Bild 2.2).
An dieser Stelle werden nur die Änderungen der Biege- und Torsionsmomente gegenüber Th.I.O. betrachtet. Zur anschaulichen Erläuterung dieser Änderungen sowie der Defizite, die bei einigen Versionen der Th.II.O. auftreten, kann hier auf eine Erörterung anhand der Differenzialgleichung verzichtet werden; es reicht aus, die Gleichgewichtsbetrachtungen an dem in Bild 2.2 dargestellten Kragarmabschnitt endlicher Länge ∆x durchzuführen.
Zunächst ergibt sich analog zum ebenen Fall (d. h. bei ebenen Systemen mit ebener Belastung) eine Änderung der auf die unverformte Basis bezogenen Biegemomente infolge der elastischen Hebelarme ∆v und ∆w der Längsbelastung Fx :
(2.1)
Zusätzlich muss jedoch auch die Änderung des Torsionsmoments infolge der Querbelastungen Fy und Fz berücksichtigt werden:
(2.2)
(Schnittmomente in (2.1, 2.2) auf die unverformte Stabachse bezogen)
Dieser Term wird bei der einfachsten der innerhalb der marktgängigen Software implementierten Theorien II. Ordnung, der Th.II.O.-l (Tab. 2.4, Z. 1) unterschlagen. Aus (2.2) ist unmittelbar zu erkennen, dass Doppelbiegung i. Allg. mit Torsionsbeanspruchung einhergeht. Doppelbiegung schließt also planmäßige Torsion mit ein (s. Beispiel I/3 und Abschn. 5.10), was sowohl beim Interaktionsnachweis des Querschnitts als auch bei der Konstruktion der Auflager zu berücksichtigen ist. Die Lager müssen für die Aufnahme der entsprechenden Torsionsmomente ausgelegt werden.
Bild 2.2 Th.II.O.: Gleichgewicht am verformten System
Die Th.II.O.-l ist demnach grundsätzlich nicht für Stäbe und Stab werke mit räumlicher Beanspruchung geeignet. Besonders empfindlich reagieren ebene Systeme mit räumlicher Beanspruchung (im einfachsten Fall ist das der Einfeldträger mit Einzellasten Fy und Fz oder auch der Kragträger nach Bild 2.2) auf die Vernachlässigung der Torsionsmomenten-Anteile nach angeboten und angewendet wird, ist ein Indiz für die in der Praxis nicht selten anzutreffende fehlende Sorgfalt bei der Herstellung und Anwendung von Software.
Eine Ausnahme bilden Stäbe, deren Biegesteifigkeiten hinsichtlich der beiden Querschnittshauptachsen gleich groß sind und die hinsichtlich der beiden Achsen gleiche Randbedingungen aufweisen. In diesem Fall heben sich in (2.2) die beiden Summanden an jeder Stelle des Stabes gegeneinander auf; das Torsionsmoment verschwindet identisch. Umgekehrt wird der Einfluss der Torsionsmomente umso größer, je deutlicher sich die Trägheitsmomente Iy und Iz eines Stabes oder die Biegesteifigkeiten eines ebenen Systems in seiner Ebene und senkrecht hierzu unterscheiden. In gleichem Maß steigt auch die Gefährdung durch Biegedrillknicken bzw. Ausweichen senkrecht zur System-Ebene.
Eine erste Verbesserung der Theorie wird durch die Berücksichtigung des Torsionsmomenten-Anteils gemäß (2.2) erreicht, wobei jedoch sowohl der Einfluss einer Normalkraft auf die Verdrillung (s. Abschn. 2.4) als auch die Wölbkrafttorsion vernachlässigt werden (s. Abschn. 2.5). Eine solche Theorie wird im Folgenden als Th.II.O.-2 bezeichnet (Tab. 2.4, Z. 2). In den Ergebnislisten einer entsprechenden Software gibt es wie bei Th.II.O.-l nur eine einzige Ausgabespalte für das Torsionsmoment, das als Primärtorsion (St. VENANTsche Torsion) zu deuten ist.
Streng genommen gilt eine Th.II.O.-2 also nur für normalkraftfreie Stäbe mit wölbfreien Querschnitten, wie Rohre, Kreisquerschnitte und quadratische Hohlprofile mit konstanter Wanddicke. Der Anwendungsbereich dieser Theorie ist dementsprechend stark eingeschränkt.
Beide Theorien, sowohl die Th.II.O.-l als auch die Th.II.O.-2, können nur das einachsige Biegeknicken erfassen. Für die Stabilitätsprobleme Drillknicken und Biegedrillknicken sind sie nicht geeignet (s....