Kapitel 1
Einleitung
1.1 (Unternehmens-)Ethik als explorative Ethik geschöpflichen Lebens
1.1.1 Konzept der explorativen (Unternehmens-)Ethik
Bevor hier irgendwelche Aussagen über das Handeln von Unternehmen, über unternehmensethische Leitsätze oder Wirtschafts- und Unternehmensethik getroffen werden können, ist dort zu beginnen, worauf all dies immer nur Antwort sein kann. Ausgangspunkt aller folgenden Aussagen ist das Wort, das in Jesus Christus lebendig wurde und an das der göttliche Geist gebunden bleibt.1 Gerade die protestantische Theologie hat stets die Bedeutung des Wortes Gottes betont und ihm Vorrang vor allem anderen gegeben.2 Erst aufgrund des göttlichen Angesprochenseins kann der Mensch antworten. Es geht dem Glauben, also dem Eintreten in die Geschichte Gottes und dem darin stattfindenden Handeln, voraus. Das menschliche Leben ist immer schon geschöpfliches Leben.
Dies hat nicht zuletzt Konsequenzen für das Verständnis einer christlichen Ethik. Wie im Ansatz des Erlanger Theologen Hans G. Ulrich deutlich wird, geht es in ihr darum, zu erkennen und zu verstehen, was dem Menschen von seinem Schöpfer mitgeteilt ist.3 Sie gibt Zeugnis von der Hoffnung, die in Jesus Christus erschienen und im Geist lebendig ist,4 und ist damit selbst Praxis geschöpflichen Lebens. Sie ist kein Akt des Auswählens oder Rechtfertigens menschlicher Handlungen und darf auch „nicht darauf reduziert werden, Vorstellungen oder Theorien von den für Christen gültigen Lebensverhältnissen zu entwickeln. Vielmehr stellt die christliche Ethik ein Urteilen und Erkennen dar, das immer zugleich Hören und Wahrnehmen ist.“5. Es geht in ihr darum, die menschliche Existenzform des geschöpflichen Lebens in allen Bereichen, in denen sie sich zu bewähren hat, zu reflektieren und darin zu bezeugen. Denn das menschliche Leben ist davon gekennzeichnet, in seinem Verlauf erkundet zu werden, wobei es schon immer im Handeln Gottes und seiner Geschichte mit den Menschen beschlossenes Leben ist.6 Der erfahrbare und erkennbare Lebenskontext des einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes steht im Fokus. Die Frage lautet deshalb nicht, wie man leben solle, sondern: „Wie leben Geschöpfe, als die wir uns entdecken dürfen?“7 Und: „Wie bleiben wir in der Existenzform der Geschöpfe, wie ist zu erproben, zu erkunden und mitzuteilen, was es heißt, Geschöpf zu sein?“8 Christlicher Ethik kommt demzufolge eine explorative Aufgabe zu, innerhalb der conditio humana nach Unterscheidungen zu suchen, was den Menschen Mensch sein lässt und was nicht.9 Sie ist „explorative Rechenschaft vom geschöpflichen Leben“.10 In ihr werden die Dialektik des Empfangens und Handelns sowie die damit verbundene, fortwährende Suche und das Verstehen geschöpflicher Existenz sichtbar.
In der Lebenswirklichkeit zum Tragen kommt dies in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Medien menschlicher Existenz, wie beispielsweise der Technik oder eben auch der Wirtschaft. Dabei darf jedes Medium menschlicher Existenz immer nur als Medium, nie aber als deren Verwirklichung verstanden werden.11
Es geht nicht darum, „der Wirtschaft sozusagen humanitäre Zielsetzungen von außen zur Realisierung zuzuweisen, sondern ihre impliziten Voraussetzungen so zu denken, daß darin der Mensch derjenige bleiben kann, den Gottes Ökonomie hervorbringt und trägt“.12 Dementsprechend kann wirtschaftliches Handeln dem Menschen nicht als Mittel zum „guten Leben“ oder anderen teleologischen Utopien dienen, da hierdurch die menschliche Existenz den ökonomischen Rationalitäten unterworfen wäre. Vielmehr kommt der Wirtschaft die Aufgabe zu, für bestimmte Güter zu sorgen und damit im Sinne der geschöpflichen Existenz Ort der gemeinsamen Sorge für das Leben zu sein.13 Das christliche Ethos tritt hier der ökonomischen Logik gegenüber.14
Folglich hat die Wirtschaftsethik eben diese kategorialen Differenzen festzuhalten und „die kritische Kraft zu gebrauchen, um zu erproben, was Wirtschaften für den Menschen heißt“.15 Von ihr ist also nicht die Frage nach dem ethischen Sinn von Ökonomie zu beantworten, und sie dient auch nicht dazu, die ökonomischen Ziele „gut“ zu erreichen, sondern sie hat aufzuzeigen, wie die menschliche Existenz im Medium der Ökonomie erprobt werden kann.
Soll dieser explorative Ansatz der (Wirtschafts-)Ethik auf die Unternehmensethik hin konkretisiert werden,16 so darf im Folgenden nicht nach der ethischen Legitimierung oder Verwirklichung ökonomischer Realitäten eines Unternehmens gefragt werden. Vielmehr zielt eine explorative Unternehmensethik darauf, dass das Handeln von, in und durch Unternehmen als gemeinsame Sorge für das Leben in dem Geschaffen-Werden bleibt, das Menschen als Geschöpfe an der göttlichen Geschichte teilhaben lässt.17 Dies umfasst die Frage, wie menschliches Leben im Kontext unternehmerischen Handelns als geschöpfliches erscheint. Damit kann Unternehmensethik im Anschluss an den Ansatz Ulrichs hier als „explorative Rechenschaft vom geschöpflichen Leben“18 im Medium des Unternehmens (und im Gegenüber dazu) verstanden werden.
1.1.2 Konsequenzen
Ulrich mahnt jedoch an, dass in der Diskussion um die Wirtschaftsethik zwar häufig „eine allgemeine oder universelle Moral oder auch eine entsprechende Frage nach dem guten Leben thematisiert wird, nicht aber die nach der menschlichen Existenzform.“19 Dies scheint auch auf die Unternehmensethik zuzutreffen. Dementsprechend soll hier der Versuch unternommen werden, die menschliche Existenzform der Geschöpflichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen und im Sinne der explorativen Ethik zur Basis jeglicher Überlegungen zur Unternehmensethik zu machen. Es geht darum, in der spannungsvollen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit Antworten auf die Frage zu suchen, wie wir im Medium von Unternehmen oder im Gegenüber dazu in der Existenzform der Geschöpfe bleiben und als solche leben können.20 Dazu ist es, wie oben bereits festgestellt, nicht nur notwendig zu urteilen, sondern immer auch zu hören und wahrzunehmen. Da das Hören und Wahrnehmen des Wortes Gottes sich auf ganz unterschiedliche Quellen beziehen kann, ist zunächst nach diesen zu fragen und eine Auswahl festzulegen.
Hier liegt wohl zunächst nichts näher als die biblischen Aussagen zu befragen. Sie geben auf verschiedene Weise Zeugnis von unserer geschöpflichen Existenz. Darüber hinaus äußern sie sich zum erfahrbaren und erkennbaren Lebenskontext des einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes und somit auch zu den Themen, die in Bezug auf unternehmerisches Handeln relevant sind. Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen der protestantischen21 Theologiegeschichte und Kirche zu unternehmerischem Handeln und zur Unternehmensethik. Die hier behandelten Ansätze argumentieren zwar nicht immer explizit im Sinne einer explorativen Ethik geschöpflichen Lebens, doch ist es ihnen allen eigen, dass sie in ihren Überlegungen über die reine Festlegung moralischer Regeln hinausgehen.22 Stattdessen stellen sie gerade die biblischen Aussagen und die geschöpfliche Existenz des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen und versuchen der Frage nachzugehen, was es heißt, daraus zu leben. Somit sind sie Beispiele für die Suche danach, die menschliche Lebenswirklichkeit im Medium des Unternehmens als geschöpfliche kenntlich werden zu lassen, und können hier wichtige Impulse geben.
Doch darüber hinaus muss auch nach den institutionellen Formen des Mediums Unternehmen gefragt werden, denn christliche Ethik ist eine Ethik der guten Werke, die in der christlichen Hoffnung gründen und den Nächsten erreichen sollen. Doch eben diese guten Werke brauchen einen Ort, der sie trägt und an dem sie konkret werden können. „Mit den Institutionen geht es um [solche] adressierbare Orte des guten und gerechten Tuns.“23 Die institutionellen Formen unternehmerischen Handelns dienen also dazu, das, was Unternehmen für die beteiligten Menschen und mit ihnen leisten, wahrzunehmen und zu artikulieren. „Die institutionelle Form des Wirtschaftens schließt ein, dass es ein gemeinsames Sorgen um etwas Bestimmtes, um die Lebensmittel gibt und dass sich das Wirtschaften nicht als bloßer ‚Kultus‘ verselbständigt, der sich um nichts mehr dreht“24 als um sich selbst.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit eben diesen institutionellen Formen unternehmerischen Handelns findet sich insbesondere in Überlegungen und Theorien aus dem Kontext der Ökonomik. Deshalb darf im Folgenden nicht darauf verzichtet werden, auch diese bei der Suche nach Impulsen für ein geschöpfliches Leben im Medium von Unternehmen einzubeziehen. Ziel soll dabei nicht die Herausarbeitung allgemeiner moralischer Aussagen und Standpunkte zu unternehmerischem Handeln sein. Vielmehr geht es darum, auch in ökonomischen Aussagen über institutionelle Formen unternehmerischen Handelns Impulse für eine Unternehmensethik im Sinne dessen, was es heißt, als Geschöpfe zu leben, zu entdecken. Die Ansätze sollen also durch die Brille einer Ethik geschöpflichen Lebens betrachtet werden.
Schließlich erscheint es unerlässlich, auch die unternehmerische Praxis selbst zu erkunden. Hierfür können vor allem die von einzelnen Unternehmen verfassten Texte in Form von ethischen Leitlinien oder Kodizes als Anknüpfungspunkt dienen. Die Frage, inwiefern die Geschöpflichkeit des Menschen darin mitgeteilt wird, steht genauso im Mittelpunkt wie die Erprobung dieses Ethos. Auf...