»Weder ist eine Kultur ohne Wissen vorstellbar noch ein Wissen, das nicht in eine Kultur eingebettet wäre.«1
Editorial
Sonja Kießling und Heike Catherina Mertens
Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 verfolgt die Schering Stiftung mit ihren Förderprogrammen in Wissenschaft und Kunst das Ziel, Wissen zu fördern, zugänglich zu machen und zu verbreiten. Unser Augenmerk gilt dabei weniger dem bereits Gewussten als dem Entstehen neuen Wissens – in den Wissenschaften und den Künsten. Das Wissen der Künste? Gibt es ein solches überhaupt? Muss nicht der Kunst jegliches Wissen abgesprochen werden? Dieser Auffassung des Szientismus, nach der jedes Wissen begründetes Wissen sein muss, das überprüfbar, reproduzierbar und objektiv ist, halten wir mit Jürgen Mittelstraß entgegen, dass es neben diesem begrifflichen, expliziten Wissen noch ein anderes, implizites Wissen gibt: »das sich in der (künstlerischen) Darstellung ausdrückende (ästhetische) Wissen«.2 Künstler zeigen die Ergebnisse ihrer Forschungen: in der Malerei und Skulptur ebenso wie in den neuen künstlerischen Medien wie Film, Performance oder Installation.
Das vorliegende Buch ist der Versuch, sich der Synthetischen Biologie sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus künstlerischer Sicht zu nähern, um so unser Wissen über diese Fachdisziplin zu erweitern und zugleich die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung zu reflektieren. Während die beteiligten Natur- und Geisteswissenschaftler im vorgegebenen Format ›Buch‹ ihr übliches Werkzeug, die Sprache, nutzen können, sind die Möglichkeiten der Kunst hier zwangsläufig beschränkt: aus Filmen, die Bewegung und gesprochene Sprache (auf-)zeigen, werden stumme Bilder; von lebenden Tieren, Objekten und gestaltetem Raum bleiben nur Fotos. Wir haben daher weitgehend auf Ansichten der Ausstellung »assemble | standard | minimal« von Revital Cohen und Tuur Van Balen verzichtet, die den Anlass für das Symposium »Evolution in Menschenhand?« gegeben hat. Stattdessen kommt der Künstler Tuur Van Balen in einem Interview selbst zu Wort und beschreibt drei zentrale Werke aus der Ausstellung: Sterile, Albino-Goldfische ohne Fortpflanzungsorgane aus einem japanischen Labor, Sensei Ichi-gō, eine Maschine, die in der Lage ist, sterile Goldfische zu erzeugen, und Pigeon d’Or, eine Videoinstallation, die eine Reihe von Interventionen zeigt, in denen Wissenschaftler, Taubenzüchter und der Künstler selbst das Ziel verfolgen, unter Nutzung von Methoden der Synthetischen Biologie Tauben Seife ausscheiden zu lassen.
Revital Cohen und Tuur Van Balen zeigen auf ihre Weise, wie Menschen in biologische Prozesse eingreifen, und sie werfen Fragen auf, die nicht allein aus künstlerischer Sicht betrachtet werden sollten. Zusammen mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat die Schering Stiftung daher renommierte WissenschaftlerInnen eingeladen, diese Fragen aus multidisziplinärer Perspektive zu erörtern. Dass dies nötig ist, belegt eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, die im Januar 2015 veröffentlicht wurde. 82 Prozent der Befragten wissen kaum etwas oder gar nichts über das noch junge Fachgebiet der Synthetischen Biologie. Weder ist der Begriff bekannt, noch gibt es großes Interesse an diesem Forschungsfeld, was überrascht, angesichts des gesellschaftlichen Interesses an wissenschaftlichen und ethischen Fragen der modernen Gentechnik.
Demzufolge widmen wir uns im ersten Teil dieses Buches zunächst den Fragen »Was ist und was kann die Synthetische Biologie?«, die chemische, lebenswissenschaftliche, biotechnologische und ingenieurwissenschaftliche Ansätze miteinander verbinden.
Alfred Pühler definiert den Begriff und stellt die Synthetische Biologie in den Kontext der modernen Biowissenschaften, insbesondere der Gentechnik. Auch werden potenzielle Anwendungsmöglichkeiten in der Biotechnologie sowie deren Grenzen herausgearbeitet.
Petra Schwille stellt die Frage nach der Entstehung des Lebens, nach der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen. Das ist auch Gegenstand ihrer eigenen Forschung. Um die Merkmale von Zellen als minimale Einheiten belebter Materie zu erkennen und zu verstehen, untersucht sie zelluläre Abläufe in einer vereinfachten zellfreien Umgebung. Ihr vorläufiges Ziel ist es, aus einzelnen Zellbausteinen ein Gebilde zu konstruieren, das aussieht wie eine Zelle und sich kontrolliert teilen kann. Sie hofft, mit diesem »Bottom-up«-Ansatz der Synthetischen Biologie die minimalen Voraussetzungen für zelluläres Leben zu entschlüsseln.
Jens Hauser, Kurator der Ausstellung »assemble | standard | minimal« in der Schering Stiftung, stellt das Werk von Revital Cohen und Tuur Van Balen in den Kontext weiterer künstlerischer Ansätze, die sich der Methoden und Konzepte Synthetischer Biologie für ihre eigenen, subjektiven Zwecke bedienen. Mitnichten verstehen sich die Künstler dabei als Übersetzer oder Vermittler dieses Forschungsgebietes für die Öffentlichkeit. Vielmehr geht es häufig um kritisch-reflektierende Betrachtungen und Inszenierungen sowie um direkte Kooperationen von Künstlern und Wissenschaftlern, die nicht selten auch von Missverständnissen begleitet werden.
Im zweiten Teil der Publikation »Kunst und Wissenschaft als Poiesis?« beschreibt Hans-Christian von Herrmann mit Blick auf die Literatur der vergangenen zwei Jahrhunderte das Bestreben, sich mit wissenschaftlichen Themen und Experimenten als »Science Fiction« auseinanderzusetzen. Angefangen bei Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus über die künstliche Geburt des Homunculus in Goethes Faust bis zu Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen – um nur einige Beispiele zu nennen – verfolgen auch Schriftsteller die Vision der Entstehung von Leben. Während die Autoren der vergangenen Jahrhunderte auf den jeweiligen Stand des Experimentierens zurückgreifen, gehen sie in der jüngeren Zeit über das in der Natur Vorkommende hinaus. Sie beschreiben nicht nur künstliche Interventionen in die natürliche Ordnung, sondern auch Korrekturen der Konstruktionsprinzipien.
Für die zeitgenössische bildende Kunst zeichnet Ingeborg Reichle in ihrem Beitrag die Auswirkungen der Technosciences und die Entwicklung zukünftiger Szenarien einer durch Menschenhand entstandenen Lebenswelt nach: von den Anfängen der Transgenic Art und BioArt in den 1980er Jahren bis hin zum Einfluss von iGEM (international Genetically Engineered Machine) und der Do-It-Yourself-Biology-Bewegung auf die Künstler. Seit 2009 verfügen die Künstler sogar über eine eigene Kategorie ›art and design‹ beim iGEM-Wettbewerb, einem internationalen Wettbewerb für Studierende auf dem Gebiet der Synthetischen Biologie.
Wie sieht es mit der Poiesis in der Wissenschaft aus? Hier liefert Tobias Erb mit der Transformation von atmosphärischem Kohlenstoffdioxid in organische Substanz – gleichbedeutend mit der Umwandlung von unbelebter in belebte Materie – ein Beispiel dafür, dass es in der modernen Biologie nicht mehr nur um das reine Erkennen biologischer Grundprinzipien geht, sondern vielmehr darum, diese auch anzuwenden. Mit seinen Forschungen ist er auf dem besten Weg, einen Designer-Stoffwechselweg zu schaffen, um Kohlenstoffdioxid in organische Substanz zu transformieren. Am Ende dieser Entwicklung könnte – in ferner Zukunft – die Umwandlung von klimaschädlichem Kohlenstoffdioxid in Biomasse oder einen nachhaltigen Rohstoff stehen.
Im dritten und letzten Teil der Publikation wird die »Forschungsroutine oder Grenzüberschreitung« in den Blick genommen. Damit verbunden ist die Frage, welche gesellschaftlichen Akteure bei der Weiterentwicklung und Anwendung von Prinzipien der Synthetischen Biologie eine Rolle spielen. Hintergrund ist die zunehmende Forderung der Öffentlichkeit – und diese schließt Künstler mit ein –, nicht mehr einfach nur über wissenschaftliche Errungenschaften informiert zu werden, sondern selbst aktiv auf unterschiedlichste Art und Weise an der Wissenschaft teilhaben zu wollen.
Die Synthetische Biologie war von Beginn an eng mit Bewegungen wie der Do-It-Yourself-Biology oder auch dem Biohacking verbunden und hat daher zu solchen Formen der Bürgerbeteiligung eine besondere Nähe. Einblicke in diese Szene gibt Rüdiger Trojok in seinem Beitrag. Er zeigt, wie man mit kommerziell verfügbaren Materialien, Enzymen und Chemikalien ein eigenes Genlabor zusammenstellen kann. Hier können eigene Konzepte und Forschungsansätze verfolgt werden, allerdings nur in Versuchen, die kein Sicherheitslabor erfordern. Diese im »Heimlabor« durchgeführten Experimente entsprechen nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft, haben jedoch einen öffentlichen Diskurs angestoßen, der ethische wie juristische Fragen aufwirft.
Den juristischen Fragen widmet sich Tade M. Spranger in seinem Beitrag. Er fächert den rechtlichen Rahmen auf, in dem er auf bereits existierende biomedizinische und forschungsrechtliche Regelungen zurückgreift, die sich auf einzelne Anwendungsbereiche der Synthetischen Biologie auswirken könnten. Vor dem Hintergrund gesundheitlicher Risiken und nationaler Sicherheit hat der Gesetzgeber so beispielsweise geregelt, dass zwar jeder Gene aus Organismen isolieren, analysieren und vermehren kann, aber diese Gene dürfen nur in speziell zugelassenen Laboren und unter Leitung ausgebildeter Fachleute in Organismen eingebaut werden. Es existiert also weder für Wissenschaftler und erst recht nicht für Künstler...