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E-Book

Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland

Grundlagen und Handlungsbedarf im Kontext eines Einwanderungsgesetzes

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl282 Seiten
ISBN9783867938136
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Gut gesteuerte Zuwanderung wirkt sich positiv auf Deutschland aus: Sie verjüngt die Bevölkerung, federt regionale und berufsbezogene Fachkräfteengpässe ab und fördert den kulturellen Austausch. Aber gilt das auch in Zeiten hoher Flüchtlingszuwanderung? Wie ist es um die Offenheit der Gesellschaft bestellt und wie wirkt sich der wachsende Rechtspopulismus aus? Welche Rolle spielt die Fachkräftesicherung über Zuwanderer, wenn die einheimische Bevölkerung besser in Arbeit gebracht werden soll? Ist Deutschland attraktiv genug für ausländische Fachkräfte oder brauchen wir gar ein neues Einwanderungsgesetz? Der Sammelband beleuchtet diese und viele weitere Fragen aus verschiedenen Perspektiven und stellt faire, zielorientierte Lösungen vor. Mit seinen Impulsen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft möchte der Band die Debatten zur Fachkräftezuwanderung und zu einem Einwanderungsgesetz bereichern.

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Leseprobe

1.2 Demographie und Fachkräftemangel: Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderer braucht


Johann Fuchs, Alexander Kubis

Die Herausforderung

Das Statistische Bundesamt meldet für das Jahr 2016 eine jahresdurchschnittliche Erwerbstätigkeit von rund 43,4 Millionen Personen und damit den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Zugleich warnen Forscherinnen und Forscher, dass die Zahl der Arbeitskräfte hierzulande in den kommenden Jahrzehnten aus demographischen1 Gründen massiv zurückgehen wird. Dann würden den Betrieben künftig sehr viel weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Weniger Arbeitskräfte einerseits, mehr Ältere (Rentner) andererseits könnten die Finanzierung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gefährden. Zudem hängen auch die Steuereinnahmen, besonders die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer, von der demographischen Entwicklung bzw. dem Arbeitsmarkt ab (Calahorrano et al. 2016).

Dieser Beitrag beschreibt in Thesenform den Hintergrund dieser Befürchtung und belegt den prognostizierten Arbeitskräfterückgang mit den neuesten Zahlen zum Erwerbspersonenpotenzial (siehe These 1). Das Erwerbspersonenpotenzial ist die Summe aus Erwerbstätigen, Erwerbslosen und der Stillen Reserve und stellt die Obergrenze des Arbeitskräfteangebots unter gegebenen Rahmenbedingungen dar (siehe Infokasten). Deshalb zeigen einige Simulationsrechnungen die Folgen denkbarer Änderungen dieser Rahmenbedingungen (These 2). Konkret wurde untersucht, wie sich höhere Geburtenraten, ein Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie ein späterer Renteneintritt auswirken.

Gegenwärtig wird die negative demographische Entwicklung zudem durch starke Zuwanderung gedämpft. Das Erwerbspersonenpotenzial wächst dadurch derzeit sogar. These 3 beschreibt, wie es weitergehen könnte und wie sich Zuwanderung auf das Erwerbspersonenpotenzial auswirkt.

Da auch eine längere Wochenarbeitszeit sowie eine höhere Produktivität möglichen negativen Folgen des demographischen Wandels entgegenwirken können, werden diese Aspekte ebenfalls beleuchtet (These 4). Die Produktivitätsfrage stellt sich vor allem auf dem Hintergrund der Diskussion um die Auswirkungen der zunehmenden Vernetzung und Automatisierung aller wirtschaftlichen Prozesse (Industrie 4.0). Aktuelle Studien sprechen für einen weiterhin hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften (These 5).

Erwerbspersonenpotenzial

Das Erwerbspersonenpotenzial entspricht der Summe aus Erwerbstätigen, Erwerbslosen und Stiller Reserve. Es wird aus einer multiplikativen Verknüpfung von Bevölkerung und Erwerbsquoten errechnet, und zwar differenziert nach Alter und Geschlecht sowie nach Deutschen und Ausländern. Die Erwerbsquote ist in der amtlichen Statistik als Summe aus Erwerbstätigen und Erwerbslosen bezogen auf die Bevölkerung definiert. Im Text wird aus sprachlichen Gründen zwar auch der Begriff der Erwerbsquote verwendet, aber es handelt sich immer um eine sogenannte Potenzialerwerbsquote, die die Stille Reserve einschließt.

Man nimmt also eine bestimmte Bevölkerungsgruppe und multipliziert deren Zahl mit der jeweiligen Erwerbsquote. Die Summe über alle Gruppen ergibt das Erwerbspersonenpotenzial. Neben dem Umfang der Bevölkerung spielt also auch eine Rolle, wie sehr diese am Erwerbsleben beteiligt ist. Typischerweise sind die Erwerbsquoten bei Jüngeren und Älteren niedriger als bei den mittleren Altersjahrgängen; Männer haben eine höhere Erwerbsquote als Frauen und deutsche Frauen eine deutlich höhere als Ausländerinnen.

Das Erwerbspersonenpotenzial erstreckt sich über das Altersintervall 15 bis 74 Jahre; die Stille Reserve ist aus methodischen und konzeptionellen Gründen auf das Alter 15 bis 64 Jahre beschränkt.

Das Konzept des Erwerbspersonenpotenzials impliziert, dass sich in den zukunftsbezogenen Szenarien und Simulationen die Arbeitslosigkeit und die Stille Reserve gegebenenfalls (bei Fachkräftemangel bzw. Vollbeschäftigung) auflösen bzw. aufgelöst haben.

Das Erwerbspersonenpotenzial nennt die Zahl der Erwerbspersonen, sagt aber zunächst nichts über den Umfang der Arbeitszeit oder die Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte aus.

Bei der Zuwanderung ist zu differenzieren: Nicht nur die Zahl der Menschen, die in Deutschland als Flüchtlinge Schutz suchen, ist in den letzten Jahren stark gewachsen; auch die Zuzüge aus EU-Ländern sind enorm gestiegen. Aus demographischen Gründen ist jedoch zu erwarten, dass die EU-Migration mittelfristig deutlich zurückgeht (These 6). Mit These 7 gehen wir auf die Bedeutung der Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern (Drittstaaten) ein. In unserem Resümee leiten wir ab, was sich aus den Thesen an politikrelevanten Folgen erschließt.

These 1: Aus demographischen Gründen sinkt die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte

Zu den wichtigsten Auswirkungen des demographischen Wandels zählt der Rückgang des Potenzials an Arbeitskräften. Diese Veränderungen sind auch Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Beitrags. Wir folgen im Weiteren einer aktuellen Langfristprojektion des Erwerbspersonenpotenzials, die am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erschienen ist (Fuchs, Söhnlein und Weber 2017).

Um den rein demographischen Einfluss zu zeigen, wird das Erwerbspersonenpotenzial unter zwei Bedingungen prognostiziert. Erstens wird das Wanderungsgeschehen bei der Modellierung hypothetisch ausgeblendet. Zweitens wird angenommen, dass sich die Erwerbsbeteiligung künftig nicht ändert. In dem Fall ändert sich das Erwerbspersonenpotenzial nur aufgrund der Veränderungen der bereits heute in Deutschland lebenden Bevölkerung, wobei »heute« das Ausgangsjahr 2015 der Projektion ist.

Der stärkste Einflussfaktor auf das Erwerbspersonenpotenzial ist die Alterung. Die Babyboomer-Generation kommt in die Jahre und scheidet nach und nach aus dem Erwerbsleben aus. Beispielsweise erreicht der geburtenstärkste Jahrgang 1964 im Jahr 2031 das 67. Lebensjahr und würde unter den heute geltenden rentenrechtlichen Regelungen spätestens dann in Rente gehen. Seit Anfang der 1970er-Jahre liegt die durchschnittliche Geburtenziffer (Total Fertility Rate, TFR) jedoch mit rund 1,4 Kindern pro Frau deutlich unter dem Wert von 2,1 Kinder, der langfristig für den Bevölkerungserhalt erforderlich wäre. Die auf die Babyboomer folgenden Geburtsjahrgänge sind entsprechend deutlich schwächer besetzt.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahre würde deshalb ohne Zuwanderung zwischen 2015 und 2060 um 3,1 Millionen (–28,5 %) sinken, während die der 75-Jährigen und Älteren im gleichen Zeitraum um 4,67 Millionen (+52 %) steigt. Der Personenkreis, der in einem relativ arbeitsmarktnahen Alter steht, hier beispielhaft mit 15 bis 74 Jahre abgegrenzt, nähme bei einem solchen Szenario um 20,2 Millionen Personen (–32,6 %) ab. Für die Gesamtbevölkerung kommen diese demographischen Berechnungen somit auf einen Rückgang von 18,6 Millionen (–22,8 %).

Aufgrund der aus heutiger Sicht nahezu vorgegebenen Alterung der Bevölkerung würde das Erwerbspersonenpotenzial bereits in den kommenden Jahren stark schrumpfen. Bis zum Jahr 2030 geht es bei diesem Szenario um 14 Prozent auf 39,5 Millionen Personen zurück (Abbildung 1.2-1, Szenario 1). Bis 2060 würde es demographisch bedingt auf 28,6 Millionen Personen sinken, also auf 62 Prozent des Ausgangsjahres.

Wie oben angedeutet, haben die Geborenenzahlen einen entscheidenden Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung, und zwar vor allem auf den arbeitsmarktrelevanten Teil der Bevölkerung. Im Jahr 2015 stieg die Geburtenziffer in Deutschland auf 1,5 Kinder pro Frau. Die TFR von Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit erreichte jedoch nur den Wert von 1,427 Kindern, die TFR der Ausländerinnen lag dagegen bei 1,955 Kindern. Im Jahr 2012 waren die Werte noch 1,357 respektive 1,792 Kinder pro Frau. Das weckt Hoffnungen auf eine Trendwende und eine demographische Entspannung.

Ob der Anstieg der Geburtenraten durch eine Verhaltensänderung bewirkt wurde, ist jedoch noch nicht geklärt. Insbesondere ist nicht gesichert, in welchem Umfang familienpolitische Maßnahmen die Geburtenrate beeinflussen (Bujard 2015). Die vorliegenden Befunde deuten eher auf eine begrenzte Wirksamkeit hin. Als wichtigen Grund für die Zunahme diskutieren Demographen den sogenannten Tempo-Effekt: Die Mütter gebären immer später ihre Kinder (Pötzsch 2016). Aufgrund des inzwischen hohen Durchschnittsalters der Mütter kommt dieser Effekt nun langsam zu einem Ende. Deshalb prognostizieren einige Studien langfristig einen Anstieg auf Werte zwischen 1,5 und 1,6 Kinder pro Frau (z. B. Vanella 2016).

Aus einer höheren Geburtenrate resultieren längerfristig mehr Erwerbspersonen. Der Effekt baut sich natürlich erst langsam auf und tritt frühestens nach 15 Jahren ein. Modelliert man für die...

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