2 Was ist fallorientierte Didaktik?
Das Lernen und Lehren anhand von Fallbeispielen ist im Bereich pflegeberuflicher Aus- und Weiterbildung nichts Neues. Durch die traditionell enge Verbindung zwischen praktischen und schulischen Ausbildungsanteilen sowie durch den pflegeberuflichen Hintergrund der meisten festangestellten Lehrenden an Schulen des Gesundheitswesens ist zu vermuten, dass Fallbeschreibungen aus der Praxis kontinuierlich in den Unterricht einfließen. Obwohl keine empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen, in welcher Art und in welchem Umfang die Arbeit mit Fallbeispielen den Unterricht prägen, wird deshalb von Hundenborn (2007, S. 4) vermutet, dass die sukzessive Verbreitung fallorientierter Ansätze im Bereich der pflegeberuflichen Bildung auf eine Lehr- und Lernkultur trifft, die mit Formen der Fallarbeit vertraut ist. Dabei fließen Fallbeschreibungen traditionell aus zwei Richtungen in den Unterricht ein: Zum einen von Seiten der Lehrenden zur Veranschaulichung unterrichtsrelevanter Sachverhalte oder zur möglichst praxisnahen Aufgabengestaltung (didaktischer Fall), zum anderen von Seiten der Lernenden z. B. zur Schilderung und Reflexion bzw. Verarbeitung von Praxissituationen (vgl. Steiner, 1998, S. 1). Beiden Varianten ist gemeinsam, dass mithilfe von Beispielen eine Brücke zwischen theoretischem und praktischem Lernen geschlagen werden soll.
Durch die in den 1990er Jahren einsetzende Akademisierung der Pflegeausbildung stieg das Anforderungsniveau an die theoretisch-didaktischen Begründungen des Unterrichts. Professionelles Lehrerhandeln erfordert vor diesem Hintergrund einen konzeptionellen Rahmen, durch den Planungs-, Durchführungs- und Evaluationsprozesse des fallbezogenen Unterrichts erklärt und legitimiert werden können. Deshalb wird im Folgenden dargestellt, welche Erklärungsansätze fallorientierter Didaktik bereits vorhanden sind und wie sie begründet bzw. pflegedidaktisch konkretisiert werden. Dies geschieht entlang der folgenden Fragestellungen:
Fragestellungen
• Wo liegen die berufspädagogischen Wurzeln der fallorientierten Didaktik?
• Wie kann Fallarbeit lerntheoretisch erklärt werden?
• Welche Bedeutung hat die fallorientierte Didaktik im Rahmen der Pflegepädagogik?
2.1 Begriffliche Annäherung
Will man das Wesen der Fallarbeit und ihre Bedeutung für die pflege- und gesundheitsberufliche Bildung erklären, muss zunächst der Begriff »Fall« näher definiert werden. Umgangssprachlich ist er in vielen Zusammenhängen insbesondere aber für juristische oder soziale Probleme gebräuchlich.
Kasuistik
Die Übersetzung ins Lateinische weist mit dem Wort »casus« auf die Kasuistik hin, die als Lehrmethode in der juristischen Ausbildung an Hochschulen schon seit dem 19. Jahrhundert verwendet wird (vgl. Steiner, 2004, S. 22). Sie wird mit dem Ziel eingesetzt, die Rechtsfindung also juristische Entscheidungen nicht ausschließlich deduktiv aus allgemeinen Regeln und Prinzipien abzuleiten, sondern induktiv aus spezifischen aber typischen Tatbeständen zu entwickeln. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Fallstudienarbeit an amerikanischen Universitäten auch von anderen Wissenschaftsdisziplinen übernommen und zur Gestaltung der Hochschullehre z. B. im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eingesetzt. Eine Vorreiterrolle nahm hierbei die Harvard Business School in Boston ein, weshalb einige Varianten der Fallarbeit auch Harvard-Methode genannt werden (vgl. Kaiser/Kaminski, 1999, S. 137). Mittlerweile finden sich konzeptionelle und methodische Überlegungen zum Einsatz von Fallstudien in einer breiten Palette berufspädagogischer und hochschuldidaktischer Verwendungsfelder wie der Rechtslehre, Medizin, Pflege, Psychotherapie und Lehrerbildung. In diesen unterschiedlichen Kontexten
Vielfalt an Bezeichnungen
entstand eine verwirrende Vielfalt an Bezeichnungen für fallbasierte Lehrmethoden wie Fallstudienarbeit, Fallarbeit, fallorientierte Methode etc., die weitgehend synonym verwendet werden. Auf der Basis einer systematischen Analyse verschiedener Verwendungszusammenhänge bietet Steiner (2004) eine Definition an, die die Grundlage der weiteren Überlegungen in diesem Band bildet:
» Fallbezogene (oder fallorientierte bzw. kasuistische) Methoden [H. i. O.] (Vorgehensweisen, Verfahren) bezeichnen hier als Oberbegriff diejenigen Verfahrensweisen, bei denen die Bearbeitung eines (Einzel-)Falles zu Lern-, Ausbildungs-, Untersuchungs- und Forschungszwecken eingesetzt wird. Bei kasuistischen Verfahren bestimmt der konkrete Fall und dessen Bearbeitung durch die Lernenden oder Forschenden die ›Choreographie‹, den Verlauf einer spezifischen Ausbildungssequenz, eines Untersuchungs- oder Forschungsprojekts« (Steiner, 2004, S. 10).
Die sukzessive Verbreitung fallbezogener Methoden in den oben skizzierten Bereichen lässt darauf schließen, dass diesen Verfahren besondere didaktische Bedeutung beigemessen wird. Deshalb wird im Folgenden zunächst erklärt, worin der Nutzen fallorientierter Methoden im Kontext der allgemeinen und der berufspädagogischen Didaktik gesehen wird, bevor deren Relevanz für pflege- und gesundheitsberufliche Lehr-Lern-Prozesse beleuchtet wird.
2.2 Bedeutung fallbezogener Methoden im Rahmen der allgemeinen und der berufspädagogischen Didaktik
Im Kontext der allgemeinen Didaktik entbrannte in den 1950er Jahren eine grundsätzliche Lehrplandebatte, die sich gegen die Anhäufung von »trägem Wissen« richtete. Reformpädagogische Ansätze wurden neu belebt, die einen stärker handlungsorientierten, lebensweltbezogenen Unterricht forderten.
Stofffülle entzerren
Den didaktischen Reformern (Kosiol, 1957) ging es darum, die Stofffülle zu entzerren und auf ihren exemplarischen Bildungsgehalt hin zu überprüfen. Bildung nach dem exemplarischen Prinzip sollte sich auf einen prägnanten Punkt beziehen, dessen Charakteristikum seine erkenntnisaufschließende Kraft ist. Im Speziellen sollte sich das Allgemeine zeigen bzw. am konkreten Beispiel sollten sich abstrakte Prinzipien ableiten und auf konkrete Handlungssituationen transferieren lassen. Klafki (1957) präzisiert die Bedeutung von Beispielen in Anlehnung an die Kasuistik wie folgt:
»Wo wir vom Exemplarischen sprechen können, da liegt ein Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem vor, das am klarsten in der Beziehung von ›Gesetz‹ und ›Fall‹ zum Ausdruck kommt« (vgl. Klafki, 1957, S. 384).
Handlungsorientierung
Neben dieser bildungstheoretischen Legitimierung exemplarischer Unterrichtsinhalte wurden in der Orientierung an Fallbeispielen aber auch Potenziale einer lebendigeren bzw. handlungsorientierten Gestaltung der Lernprozesse im Unterricht gesehen:
»Die Methode der praktischen Fälle fördert das selbständige Kennenlernen von Sachzusammenhängen in hohem Maße, gibt, unabhängig von der Art der Fragestellungen, ständig Impulse zum Nachforschen. Es gilt aufzuspüren, welche noch fehlenden Kenntnisse erworben werden müssen, wo sich Informationslücken befinden und welche Überlegungen anzustellen sind, um die Problemlösung zu finden. Die Aneignung des Wissens und die methodische Einkreisung erfolgt stets in selbständiger Arbeit. Das Diskussionsverfahren entspricht im Gegensatz zur Lern- und Belehrungsschule mehr der Idee der Arbeitsschule« (Kosiol, 1957, S. 33).
Exemplarik
Obwohl die Exemplarik insbesondere im Rahmen der fachdidaktischen Theorie des naturwissenschaftlichen Unterrichts (Physik, Chemie, Biologie) Anklang fand, stieß sie in anderen Fachdisziplinen an strukturelle Umsetzungsgrenzen. Da die Wissensstruktur zur Lösung realer Fälle aus unterschiedlichen Fächern zusammengesetzt ist, erfordern exemplarische, fallbasierte Methoden fächerübergreifenden Unterricht. In einem öffentlichen Schulwesen allerdings, das von der Lehrerausbildung über die Lehrpläne bis hin zur Gestaltung der Schulbücher fächersystematisch organisiert ist, scheiterte eine generelle curriculare Einführung exemplarischen Unterrichts vor allem an der Fächerorientierung des Bildungssystems (vgl. Lisop/Huisinga, 2004, S. 117 ff.).
Was jedoch im Kontext allgemeiner Bildungsprozesse problematisch erschien, zeichnete sich ab der Jahrtausendwende im Rahmen beruflicher Bildung als zukunftsweisender Trend ab. Mit der Einführung des Lernfeldkonzepts als Strukturierungsprinzip der Rahmenlehrpläne für den berufsschulischen Unterricht im dualen System erfuhren die didaktischen Grundsätze
Berufliche Handlungssituationen als Ausgangspunkt
der Exemplarik neue Aktualität. Unter dem Leitziel der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz werden hierin...