1 Einleitung
Als der schwerkranke Fidel Castro am 24. Februar 2008 offiziell seine Regierungsämter abgab, hatte er insgesamt 49 Jahre und 55 Tage geherrscht und damit die Amtszeit von zehn US-Präsidenten und fünf Generalsekretären der KPdSU überlebt. Dennoch nimmt der Kubaner unter den am längsten amtierenden Staatsoberhäuptern des 20. Jahrhunderts nur den dritten Platz ein – hinter dem thailändischen König Bhumipol Adulyadej und der britischen Königin Elisabeth II.
Unschlagbar ist Castro dagegen als Redner – diese Gabe bescherte ihm sogar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als er am 26. September 1960 vor der Vollversammlung der UNO genau vier Stunden und 29 Minuten sprach. Seine längste Rede hielt er jedoch am 25. Februar 1998 vor dem Plenum der Nationalversammlung in Havanna. Erst nach sieben Stunden und 15 Minuten endete er mit seinem traditionellen Kampfruf ¡Patria o muerte, venceremos! (»Vaterland oder Tod, wir werden siegen!«)
»Seine Leidenschaft für das gesprochene Wort ist fast magisch«, bemerkt der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez (1927– 2014) über seinen Freund; als Rhetoriker verfüge er über eine »erstaunliche Verführungskraft«, und
»nie hat man ihn eine dieser Pappmaché-Parolen der kommunistischen Scholastik aufsagen hören […] Er ist der Antidogmatiker schlechthin, dessen schöpferische Fantasie sich an der Grenze zur Häresie bewegt.«1
Castro hatte weder einen Redenschreiber noch einen Pressesprecher. Mit seinen Reden, die er überwiegend frei und oftmals vor Hunderttausenden hielt, zog er das Publikum mühelos in seinen Bann. Es ist keine Anmaßung, wenn er selbst sagt: »Ich erinnere mich nicht daran, jemals vor einem Publikum gestanden zu haben, das einzuschlafen oder zu ermüden drohte.«2 Das lag nicht nur an seiner rhetorischen Brillanz, sondern auch daran, dass seine Reden für die kubanischen Bürger eine der wichtigsten politischen Informationsquellen darstellten. Außerdem vermittelte Castro seinem Massenpublikum die Illusion einer aktiven Teilnahme. Bildhaft beschreibt Ernesto Che Guevara die charismatische Interaktion zwischen dem Revolutionsführer und seinen Anhängern:
»Auf den großen öffentlichen Veranstaltungen lässt sich so etwas wie das Zusammenwirken zweier Stimmgabeln beobachten, deren Schwingungen sich im Redner fortsetzen. Fidels Dialog mit der Masse beginnt zu vibrieren, gewinnt zunehmend an Intensität und erreicht ihre Klimax in einem abrupten, durch unseren Kampf- und Siegesruf gekrönten Finale.«3
Ein wirklicher Dialog fand allerdings nicht statt, Castro ging es vielmehr um Akklamation. Auch in kleinerer Runde war es hauptsächlich er, der sprach. Das erlebte beispielsweise Willy Brandt (1913–1992), der in seiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale im Oktober 1984 von Castro in Havanna empfangen wurde. Der kubanische Staatschef »hält lange Monologe und bietet ihm in sieben Stunden gerade einmal eine Tasse Kaffee an«, notiert Brandts Biograf Peter Merseburger.4
Das Charisma Fidel Castros – nicht nur als Redner – ist unumstritten. Auf den »Höchsten Führer« der kubanischen Revolution – den Líder Máximo – trifft in besonderem Maße zu, was Max Weber in seinen herrschaftssoziologischen Schriften formuliert hat:
»Die charismatische Autorität ist […] eine der großen revolutionären Mächte der Geschichte, aber sie ist in ihrer ganz reinen Form durchaus autoritären, herrschaftlichen Charakters.«5
Der kubanische Essayist Iván de la Nuez etwa sieht den Líder Máximo als eine Art »König Utopus, der über ein Volk herrscht, das eine abstrakte und konkrete Einheit zugleich bildet.«6 Tatsächlich machte Castro sein Volk der eigenen, absoluten Utopie untertan. »Wir haben keine andere Alternative, als zu träumen und weiterhin zu träumen«, sagt er im Gespräch mit dem nikaraguanischen Revolutionsführer Tomás Borge (1930–2012).
»Wir träumen von der Hoffnung, eine bessere Welt zu verwirklichen, und dafür kämpfen wir […] Für eine Utopie zu kämpfen bedeutet, sie teilweise schon zu verwirklichen.«7
Wenngleich Castro in seiner Weltanschauung soziale Gerechtigkeit verfocht und sich zuweilen als radikaler Demokrat darstellte – was ihn zunächst in Kuba, später besonders in der Dritten Welt zu einem Hoffnungsträger erhob –, so war sein Handeln doch despotisch. Daher könnte man ihn, der ungarischen Philosophin Ágnes Heller folgend, als einen »abstrakten Enthusiasten« bezeichnen, für den Heroismus, Askese, Märtyrertum und Fanatismus charakteristisch sind. Den »abstrakten Enthusiasten« vergleicht Heller mit einem »Albatros der Grenzsituationen, dort kann er fliegen, im Alltagsleben kann er höchstens mühsam stolpern.«8 Beides hat der Líder Máximo immer wieder vor Augen geführt.
Für seine Gegner – zu denen auch ehemalige Kampfgefährten gehören – ist Castro schlichtweg ein Diktator. Héctor Pérez Marcano, der Mitte der 1960er Jahre in Havanna lebte und als venezolanischer Guerillero in den Genuss von Castros Waffenhilfe kam, fällt ein bitteres Urteil:
»Fidel war einmal der geliebte Held; heute ist er ein Tyrann, der sich in die lateinamerikanische Tradition von Diktatoren wie Gómez, Somoza, Pinochet, Trujillo und Pérez Jiménez einreiht.«9
Doch von den genannten Militärdiktatoren unterschied sich Castro schon äußerlich. Weder trug er deren typische Sonnenbrillen noch Ordenslametta an der Brust. Das Abzeichen des höchsten militärischen Rangs, den Castro als Oberbefehlshaber – Comandante en Jefe – einnahm, bestand lediglich aus einem fünfzackigen Stern auf schwarz-rotem Rhombus, dem 1973 noch Lorbeeren hinzugefügt wurden. Wesentlich sind jedoch zwei weitere Unterschiede: Castro kam nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene Revolution an die Macht, und er war der erste Herrscher in der Geschichte Lateinamerikas, der seine Macht nicht dazu nutzte, sich persönlich zu bereichern. Gabriel García Márquez schreibt:
»Ich halte ihn für einen der großen Idealisten unserer Zeit, und dies ist vielleicht seine größte Tugend, obwohl darin auch seine größte Gefahr bestand.«10
An der Art und Weise, wie er seine Ideen als Machthaber durchsetzte, wie er mit seinem politischen Sendungsbewusstsein auch ins Weltgeschehen eingriff, scheiden sich jedoch die Geister. Fidel Castro polarisiert wie kaum eine andere Figur der Zeitgeschichte.
Für Biografen stellt seine Person eine besondere Herausforderung dar. Bereits 1964 hatte der linke italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli eine Autobiografie Castros geplant, die bis zur Raketenkrise (oder Kubakrise) reichen sollte. Zunächst war er beeindruckt vom Redefluss des Comandante – »unser Mann redet wie ein Wasserfall, und um ihn zu unterbrechen, muss man brüllen« –, dann aber verlor der Autor Castro »das Projekt trotz seiner Begeisterung aus dem Auge, denn er hat ständig etwas anderes zu tun.«11
Der New York Times-Reporter Herbert Matthews, der 1969 die erste Castro-Biografie vorlegte, war mit einem anderen Problem konfrontiert:
»Es wird weder jetzt noch in Zukunft leicht sein, ihn zu erforschen. Fidel […] ist ein Mann, der kaum zugelassen hat, dass man etwas Persönliches aus seinem Leben erfährt.«12
Für ihre 1991 veröffentlichte Biografie durchforstete Georgie Anne Geyer nach eigenen Angaben 600 Bücher und 700 Artikel, zusätzlich führte sie in 28 Ländern 500 Interviews – ohne allerdings mit Castro selbst sprechen zu können. In der Zeit vor seiner Krankheit stapelten sich im kubanischen Außenministerium jährlich bis zu 300 Interview-Anfragen von internationalen Journalisten, doch nur wenigen war es vergönnt, den so glänzenden wie ausschweifenden Redner unter vier Augen zu treffen. Castro suchte sich seine Gesprächspartner selbst aus, sie mussten ihm politisch genehm sein. Dazu gehörten Gabriel García Márquez, der italienische Journalist Gianni Minà, Tomás Borge und zuletzt der spanische Publizist Ignacio Ramonet. Ihnen...