Während ich mich im ersten Teil meiner Arbeit dem Begriff ‚Familie’ angenähert und wichtige Aspekte im Kontext von Familie beleuchtet habe, gehe ich im Folgenden darauf ein, was geschieht, wenn das Zusammenleben der Partner nicht (mehr) gelingt. Ich werde verschiedene Trennungs- und Scheidungsursachen aufzeigen und den möglichen Verlauf von Trennungs- und Scheidungsprozessen nachzeichnen. Auf die Situationen und Reaktionen von Kindern und Erwachsenen werde ich eingehen und mich mit der Frage beschäftigen, wie günstige bzw. ungünstige Trennungs- und Scheidungsverläufe aussehen können.
Wie viele unverheiratete Paare sich zur Trennung entschließen und ihre Partnerschaft beenden, ist statistisch nicht erfasst. Anders bei den Ehen: Es ist festzustellen, dass seit Mitte der 1960er Jahre Ehen in Deutschland in zunehmendem Maße durch Scheidung beendet werden. Gut jede fünfte der im Jahr 1990 geschlossenen Ehen war zehn Jahre später bereits wieder geschieden. Im Jahr 2000 wurden in Deutschland mehr als 194.000 Ehen durch Scheidung beendet. Im Schnitt bestanden diese Ehen 12,9 Jahre lang und von knapp der Hälfte dieser Scheidungen waren auch minderjährige Kinder betroffen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 81ff).
Angesichts der seit den 1960er Jahren stark gestiegenen Anzahl von Scheidungen in Deutschland gibt Nave-Herz zu bedenken, dass von der Stabilität einer Ehe nicht auf deren Qualität geschlossen werden kann. Auch eine Ehe, die nicht geschieden wird, muss nicht zwangsläufig eine gut funktionierende Ehe sein. Vielleicht existiert sie gar nur noch formal, denn neben der formal-rechtlichen Scheidung, die in Statistiken erfasst wird, sind noch zwei weitere Formen der Eheauflösung möglich.
So gibt es die ‚Aufkündigung der ehelichen Lebensgemeinschaft’, bei der die Partner zwar gemeinsam in einem Haushalt wohnen, ihr Leben aber bewusst getrennt voneinander gestalten. Diese Form geht oft mit einer Trennung von ‚Tisch und Bett’ einher und wird häufig gewählt, wenn eine Scheidung vom Rechtssystem her nicht möglich oder z. B. aus ethisch-moralischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht realisierbar ist.
Eine weitere Form der Eheauflösung, die zwar nach außen sichtbar wird aber nicht in Scheidungsstatistiken erscheint, ist die ‚Aufkündigung der Haushaltsgemeinschaft’, bei der die Ehepartner eine räumliche Trennung vollziehen. In Deutschland ist diese Form der Eheauflösung im Zuge der Änderung des Ehescheidungsgesetzes von 1977 aufgegriffen und als Trennungsjahr in den juristischen Scheidungsablauf mit einbezogen worden. Alle drei Formen der Eheauflösung können als Phasen aufeinander folgen oder aber eigenständige Möglichkeiten für den ‚Endzustand’ der Ehe darstellen (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 45f).
Nave-Herz zieht daraus den Schluss, dass die stark gestiegene Anzahl der Scheidungen zum Teil auf eine Verschiebung zwischen den verschiedenen Formen der Eheauflösung zurückzuführen ist, da es heute mehr Menschen möglich ist, eine Scheidung durchzuführen. Die amtliche Statistik wies in früheren Jahrzehnten zwar deutlich geringere Scheidungszahlen auf als heute, doch könnte „der Anteil von Ehen, in denen die eheliche Lebensgemeinschaft zum Teil oder überhaupt nicht mehr existierte, weit höher gewesen sein“ (ebd., S. 46). Unter Berücksichtigung dieses Faktors erscheint die Zunahme der Scheidungen nicht mehr so drastisch, sie ist aber dennoch gegeben.
Noch bis in die 1980er Jahre hinein wurde Trennung bzw. Scheidung von vielen Menschen verstanden als moralische Verfehlung und persönlicher Misserfolg, als Scheitern und Versagen der Partner. Die Suche nach dem Schuldigen stand im Mittelpunkt, Geschiedene und Alleinerziehende wurden vielfach diskriminiert und als ‚nicht ganz normal’ angesehen. Den Kindern getrennter oder geschiedener Eltern wurden neben Mitleid auch negative Erwartungen entgegengebracht, die leicht zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden konnten (vgl. Textor, 1991, S. 10).
Inzwischen wird Scheidung zunehmend als ‚normal’ akzeptiert, wozu sicher auch die gestiegenen Scheidungszahlen beigetragen haben: Scheidungen waren bald keine Einzelfälle und somit nichts Außergewöhnliches mehr, im Umkehrschluss wurden sie zu ‚Normalität’. Heute wird Trennung bzw. Scheidung als Ereignis betrachtet, das im Verlauf des Familienzyklus’[10] eintreten kann und mit dem sich immer mehr Familien auseinandersetzen müssen. Sie gelten als bewährtes Mittel, um eine nicht länger ertragbare Situation zu beenden und werden als „Ausdruck der Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung des Individuums betrachtet“ (Textor, 1991, S. 10), die Schuldfrage hat keine zentrale Bedeutung mehr (vgl. ebd., S. 10). Seit der Änderung des Ehescheidungsgesetzes im Jahr 1977 wird auch rechtlich in Bezug auf Scheidung nicht mehr von einem Verschuldungs- sondern von einem Zerrüttungsprinzip ausgegangen (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 36).
Nicht nur die Bewertung sondern auch das Verständnis von Trennung und Scheidung hat sich verändert. Bis in die 1980er Jahre wurde davon ausgegangen, dass eine Scheidung die familiale Entwicklung und die Existenz eines gemeinsamen Familiensystems beendet und eine von der Norm der Kernfamilie abweichende und mit vielfältigen Defiziten belastete „Restfamilie“ (Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 261) zurückbleibt. Angestrebt wurde die möglichst reibungslose Auflösung des Familiensystems. Der „Erhalt familialer Restfunktionen durch Ausgrenzung (scheinbar) dysfunktional wirkender Familienmitglieder (etwa des nichtsorgeberechtigten Elternteils) […] war ein übliches Interventionsziel“ (ebd., S. 261).
Im Rahmen dieses ‚Desorganisationsmodells’ wurde dem nichtsorgeberechtigten Elternteil keine elterliche Verantwortung zuerkannt und er wurde als nicht mehr zur Familie des Kindes gehörig empfunden. Es wurde ihm lediglich das Recht zugestanden, sich sporadisch davon zu überzeugen, dass es dem Kind gut geht (vgl. Fthenakis, 1996, S. 84).
Forschungsergebnisse in den 1980er und 1990er Jahren warfen ein neues Licht auf das Scheidungsgeschehen und belegten, dass Scheidung kein punktuelles Ereignis sondern ein Prozess ist, der sich in verschiedene Phasen gliedert (vgl. Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 263).
Der Scheidungsprozess beginnt bereits lange vor dem tatsächlichen Zeitpunkt der Trennung und umfasst auch den Zeitraum nach der endgültigen Trennung bzw. Scheidung. Mit der Scheidung löst sich das Familiensystem nicht auf, es verändert und reorganisiert sich: „Scheidung wird […] nicht mehr idealtypisch als Wechsel zwischen zwei Zuständen (‚Verheiratet-Sein’ vs. ‚Geschieden-Sein’) gesehen, sondern als Übergangsphase und Reorganisationsprozess. Die Reorganisation betrifft die Rolle des Einzelnen in der Familie, die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, die Aufgabenteilung sowie die Gestaltung der Freizeit und die Beziehungen zum sozialen Netz und anderes mehr. Bei Scheidung stellt sich demnach für die Familie die Aufgabe, das familiale System unter einer neuen Zielsetzung auf unterschiedlichen Ebenen zu reorganisieren“ (Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 262).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Trennung bzw. Scheidung heute als ein möglicher Weg gesehen wird, den eine Familie in ihrer Entwicklung gehen kann. Dieser Weg hat einen prozesshaften Charakter und bringt vielfältige Anforderungen mit sich, die von den Familienmitgliedern bewältigt werden müssen. Die Aufgaben der Reorganisation müssen im Fall einer Trennung auch in Familien geleistet werden, die nicht auf eine Ehe gegründet sind. Daher gelten die genannten Erkenntnisse und Anforderungen auch für Familien, in denen das Elternpaar nur getrennt und nicht geschieden ist.
Im Rahmen der Scheidungsforschung wurden zahlreiche Sozialvariablen, wie z. B. die Kinderzahl oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, erhoben und konnten zum Teil statistisch mit dem Scheidungsrisiko in Verbindung gebracht werden. So wurde z. B. festgestellt, dass Menschen, die jung heiraten, ein größeres Scheidungsrisiko haben als solche, die zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits älter sind. Statistisch gesehen sind die Ehen am stabilsten, bei denen das Bildungsniveau des Paares im mittleren Bereich liegt. Ist die Frau jedoch höher qualifiziert als der Mann, ist die Ehe laut Statistik in vielen Fällen instabil und es kommt häufiger zur Scheidung. Doch so einfach und gradlinig lassen sich die Ursachen von Trennung und Scheidung nicht ausreichend erklären (vgl. Nave-Herz, 2004, S. 168f).
Wenn z. B. weitere Faktoren in der Untersuchung gar nicht erst erfasst und monokausale Erklärungen zugrunde gelegt werden, kann es sich um „typische Scheinkorrelationen handeln. [...] Zum anderen ist die Aussagekraft derartiger Korrelationen insofern beschränkt, da nicht feststeht, welchen empirischen Sachverhalt die einzelnen Variablen im Grunde genommen messen“ (ebd., S. 169). So könnte z. B. der Zusammenhang zwischen einem geringen...