Einleitung
Wenn Kinder aus dem einen oder anderen Grund in Schwierigkeiten geraten, finden häufig Gespräche zwischen Beratern, Lehrern oder Familientherapeuten* und ihren Eltern statt. Um solche Gespräche geht es in diesem Buch, wobei es in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob die Schwierigkeiten der Kinder sozialer, kognitiver, motorischer oder sprachlicher Natur sind.
* Die Worte »Berater«, »Lehrer« oder »Familientherapeut« stehen der leichteren Lesbarkeit halber im Folgenden für alle weiblichen und männlichen Personen, die mit Eltern beratende Gespräche über das Zusammenspiel in ihrer Familie führen.
Zunächst soll der Begriff der Familie diskutiert und einige familiendynamische Aspekte beschrieben werden, um dem Leser die Perspektiven aufzuzeigen. Im Anschluss daran werden entscheidende ethische Grundregeln sowie die Methoden zur Sprache kommen, die im Gespräch mit Eltern und Familien zum Einsatz kommen können.
Die beschriebenen Perspektiven, Methoden und ethischen Grundsätze basieren auf meiner langjährigen Arbeit als Familientherapeut, doch handelt dieses Buch nicht von der Therapie an sich, sondern von dem, was als »therapeutisches Gespräch« bezeichnet werden kann.
Der Psychiater David Cooper sagt in diesem Zusammenhang: »Wenn menschliche Gemeinschaft nicht therapeutisch ist, hat sie einen unterdrückenden Charakter.« 1 Das Wort »therapeutisch« ist hier sehr allgemein statt rein fachlich zu verstehen. Coopers Aussage gründet auf der Überzeugung, dass es der menschlichen Natur entspricht, sich ein Leben lang zu entwickeln, und dass jede zwischenmenschliche Interaktion, die diese Entwicklung behindert, als unterdrückend betrachtet werden muss.
Das therapeutische Gespräch
Das therapeutische Gespräch ist ein Gespräch, das auf Augenhöhe geführt wird und beide Seiten bereichert – ein Gespräch, das bei den Teilnehmern im buchstäblichen Sinn etwas »bewegt«. Es ist die Art von Gespräch, wie wir es uns mit unseren Kindern, Partnern und Freunden wünschen. Ein Gespräch, das uns beeinflusst, inspiriert, unseren Blick weitet und unsere Handlungsmöglichkeiten vergrößert.
Diese Beschreibung deckt im Prinzip auch den Begriff der Therapie ab, sei es nun eine Psychotherapie oder Gesprächstherapie, doch müssen wir, was dieses Buch betrifft, zwei wichtige Einschränkungen machen:
- Die wenigsten Angestellten in öffentlichen Betreuungseinrichtungen oder im Schulwesen haben eine psychoanalytische Ausbildung oder verfügen über ausreichend psychotherapeutische Erfahrung und sind daher nicht geeignet, die Rolle eines Familientherapeuten auszufüllen.
- Familientherapie ebenso wie andere Formen der Psychotherapie setzt im Prinzip die freie Entscheidung der Familie voraus. Da aber unser Sozialsystem vorbeugende Arbeit in der Regel nicht vorsieht, ist es nicht möglich, diesem Prinzip stets Geltung zu verschaffen. Die Folgen sind eine verminderte Effektivität und ein gewisser »freiwilliger Zwang«. Familientherapie sollte prinzipiell nur von Familientherapeuten ausgeübt werden, deren Macht sich auf das unumgängliche Maß beschränkt, wenn Menschen Hilfe benötigen und ihr Helfer seiner Profession nachgeht und sich dafür auch bezahlen lässt. Ökonomische und juristische Macht sind für den therapeutischen Prozess stets hinderlich.
Dieses Buch handelt von Beratung, die ein wichtiger Bestandteil jeder guten Psychotherapie ist und schon allein therapeutischen Charakter haben kann. Es besteht eine Tradition, die Art der Beratung nach der Ausbildung des Therapeuten zu benennen, zum Beispiel Sozialberatung oder pädagogisch-psychologische Beratung. Da die existierenden Ausbildungsformen alle auf eine Spezialisierung entweder auf die Arbeit mit Kindern oder mit Erwachsenen hinauslaufen, scheint zunächst niemand so recht auf die umfassende Beratung von Familien vorbereitet zu sein.
Familienberatung muss daher als selbstständiges, interdisziplinäres Fach etabliert werden, das sich in erster Linie um das Zusammenspiel zwischen den Familienmitgliedern kümmert und darüber hinaus Probleme in der Erziehung oder beim Zusammenleben im Blick hat.
Ausgehend von einer erlebnisorientierten Familientherapie widmet sich dieses Buch einigen Prinzipien der Familienberatung, die ein aktives und persönliches Engagement des Beraters voraussetzen. Die Erfahrung hat mich von der Qualität und Effektivität dieser Methode überzeugt, doch gibt es natürlich auch andere Möglichkeiten, die jeder Berater je nach seiner individuellen Persönlichkeit und Veranlagung selbst wählen kann.
Alle Erfahrung zeigt, dass die Bedeutung bestimmter Methoden und Techniken im selben Maße schwindet, in dem die Erfahrung des Therapeuten zunimmt. Ein erfahrener Berater ist in der Lage, sich frei verschiedener Methoden zu bedienen, wohingegen Kollegen mit weniger Erfahrung auf eine Art Geländer angewiesen sind, an dem sie sich festhalten können.
In dieser Hinsicht ist Familienberatung nur schwer zu erlernen. Sie stellt ebenso hohe Ansprüche an die interdisziplinären Fähigkeiten wie an die persönliche Reife und Flexibilität des Beraters. Spezielle Übungen und Techniken sind hingegen nur von untergeordneter Bedeutung. Diese Einschätzung wird von den meisten Untersuchungen bestätigt, die sich mit der Wirkung der verschiedenen Therapiemethoden beschäftigen. Für eine erfolgreiche Beratung ist die Person des Therapeuten wichtiger als die Methode, die er anwendet.
Wir leben in einer Zeit, in der auch Berater und Therapeuten von neuesten Techniken und sorgsam zusammengestellten Modellen fasziniert sind – was das betrifft, möchte ich den »altmodischen« Standpunkt vertreten, dass die professionelle Kooperation zwischen Berater und Ratsuchenden so komplex und von so vielen subjektiven Faktoren abhängig ist, dass man diese nicht auf vereinfachte Formeln reduzieren sollte.
Generell lässt sich feststellen, dass die Art der Beratung, die wir Eltern zukommen lassen, wenn ihre Kinder sich in einem Dilemma befinden, oft nicht gerade von herausragender professioneller Qualität ist. Aus einer gewissen Unsicherheit heraus schlagen die Berater oft einen höflichen, freundlichen, aber auch vollkommen unverbindlichen Ton an, dem jeder Nachdruck fehlt. Sie laden zur Kooperation ein und präsentieren ein paar »Angebote«. Den Eltern bleibt somit nur die Möglichkeit, die Rolle des passiven Jasagers oder des Querulanten einzunehmen. Aus Unsicherheit und Angst treten die Berater oft arrogant und besserwisserisch auf und vermitteln den Eltern das Gefühl, von oben herab behandelt zu werden. Und trotz ihres guten Willens und ihrer Bemühungen, tragfähige Lösungen zu finden, übersehen die Berater allzu oft die Prozesse, Gedanken und Gefühle sowie das kreative Potenzial, aus denen wirkliche Lösungen erwachsen können.
Natürlich gibt es dafür viele gute Gründe: Keine der gängigen Ausbildungen vermittelt grundlegende Einsichten und Kenntnisse, die bei der Beratung von Eltern erforderlich sind. Die verschiedenen Fachgruppen und Verwaltungszweige schieben sich den Schwarzen Peter zu, anstatt verlässlich und flexibel zusammenzuarbeiten. Demzufolge mangelt es dem einzelnen Pädagogen, Klassenlehrer, Sozialberater und Psychologen ebenso an kollegialer Anregung und Unterstützung wie an fachlicher Koordination und Supervision. Viele Experten klagen darüber hinaus über fehlende Zeit zur Elternarbeit, weil deren Stellenwert im System zu gering ist. Dessen ungeachtet möchte ich feststellen, dass ein klares Wort oft mehr bewirkt als ein zeitraubendes Gespräch, bei dem alle darauf bedacht sind, ihre Fassade aufrechtzuerhalten, und wie die Katzen um den heißen Brei herumschleichen.
Ein guter Berater braucht Mut, Engagement, Offenheit und Kreativität, aber nicht zwangsläufig mehr Zeit.
Meiner Meinung nach sollten diejenigen, die man auch als Frontsoldaten (Pädagogen, Lehrer, Erzieherinnen etc.) bezeichnen könnte, in den kommenden Jahren eine sehr viel wichtigere Rolle im Verhältnis zu den Familien spielen als heutzutage, wo vieles den eigentlichen Spezialisten überlassen werden muss, weil generell zu spät eingegriffen wird.
Wir haben eine Sozialgesetzgebung, die sich nach bestem Wissen und Gewissen dem Wohl der Kinder annimmt. Das bedeutet, dass wir beinahe per definitionem als Berater in Erscheinung treten, wenn es zu spät beziehungsweise fünf vor zwölf ist, was die Erfolgsaussichten mindert und weit mehr Ressourcen erfordert, als eigentlich nötig wäre.
In Anbetracht des heutigen Wissens über die psychische Entwicklung des Menschen gibt es keine sachlichen Argumente mehr dafür, die Familie in Eltern auf der einen und Kinder auf der anderen Seite aufzuspalten. Natürlich werden wir noch eine Weile damit leben müssen, dass wir durch unsere Ausbildungen darauf vorbereitet werden, uns entweder der Kinder oder der Eltern anzunehmen, doch Beratung als interdisziplinäres Fach birgt die einzigartige Möglichkeit, die Trägheit der Entwicklung zu kompensieren.
Hierbei spielen die »Frontsoldaten« eine entscheidende Rolle, vor allem deshalb, weil wir die Gesellschaft ohne Übertreibung zu einer Art »Anti-Familie« entwickelt haben. Die Kinder, die wir in die Krippe, in Kindergarten und Schule schicken, sind »hungriger« denn je, doch sind unsere Betreuungseinrichtungen oft nicht in der Lage,...