1 Einleitung
In manchen Stadtwohnungen sind die Wände ziemlich dünn. »Hure«, »Miststück« und Ähnliches wird geschrien. Ich sitze im Pyjama vor dem Fernseher. Dann höre ich ein Kind weinen. Ich mache den Fernseher leise und überlege, rüberzugehen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei, ob ich irgendwie helfen kann. Aber ich bin schon im Pyjama, und es würde den Nachbarn nicht gefallen: »Mischen Sie sich nicht ein, das geht Sie nichts an«, würden sie sagen. Oder sie machen gar nicht erst auf. So entscheide ich mich, sitzen zu bleiben. Außerdem gibt es für solche Fälle ja das Jugendamt oder die Polizei. Ich nehme mir vor, noch fünf Minuten zu warten und dann anzurufen, aber dann hört der ganze Zinnober so schnell auf, wie er angefangen hat. Es bleibt still, und ich bin erleichtert, nichts tun zu müssen, obgleich es sich nicht gut anfühlt.
Am nächsten Tag sehe ich die Nachbarin im Treppenhaus. Sie wendet ihr Gesicht von mir ab und versucht ein blaues Auge zu verstecken. Wir gehen schweigend aneinander vorbei, ich habe einfach nicht den Mut, sie anzusprechen. Aber wenn das noch mal vorkommt, rufe ich an, nehme ich mir fest vor.
Polizei, Jugendamt, Familienrichter, Vormünder, Sozialarbeiter, Eheberater, Therapeuten, Kinderärzte, Fallmanager – sie alle sind notwendig für einen guten Sozialstaat. Gleichzeitig verlernen die Nachbarn, selbst etwas zu tun, denn dafür gibt es ja Fachleute. Die Fachleute verlernen ihrerseits, die Nachbarn, Freunde, Bekannten und Arbeitskollegen zu fragen, ob die etwas tun können. Der ganze soziale Sektor ist geprägt von Einzelfallhilfen: Einzelnen wird geholfen, die in Gemeinschaften leben. Wenn diese Gemeinschaften achtsam sind und wenn die Fachkräfte es schaffen würden, diese Gemeinschaften einzubeziehen – wer weiß, vielleicht würde der Fall meiner Nachbarn nie ein Fall fürs Jugendamt. Was wäre, wenn wir dafür Methoden entwickeln würden … ?
Vor 25 Jahren wurde in der neuseeländischen Jugendhilfe eine radikale Form der Betroffenenbeteiligung gesetzlich verankert. Diese orientiert sich an indigenen Praktiken der Maori und untersagt Fachkräften die Aufstellung von Hilfeplänen. Stattdessen beauftragt sie ganze Verwandtschaften und Freundesgruppen mit Lösungsfindung, Entscheidung und Planung. Das Family Group Conferencing war Antwort auf die Kritik, die Beteiligung von Eltern und Kindern auf die Auswahl der Standardhilfen zu reduzieren und den weiten Kreis der wichtigen, aber nicht juristisch sorgeberechtigten Menschen – das viel zitierte Dorf, das man braucht, um ein Kind zu erziehen – zu bloßen Zuschauern der professionellen Jugendhilfeleistungen zu machen: Großeltern, Tanten, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Peers etc.
In Deutschland wurde der erste Familienrat im Jahr 2005 organisiert. Ich erinnere mich, wie eine Jugendamtsleiterin das damals in Deutschland noch gänzlich unbekannte Hilfeplanverfahren der Family Group Conference mit den Worten kommentierte: »Das ist ja schön und gut – nur leider haben wir hier in Deutschland keine Maori-Indianer!« Vielleicht hatte sie ja recht: Hätten wir hierzulande früher damit begonnen, kultursensible Hilfeformen zu entwickeln, wäre man schon längst auf das Family Group Conferencing gestoßen. So wurde es in Deutschland – im Vergleich zu den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern – erst mit 15 bis 20 Jahren Verzögerung bekannt.
Damals war der Ausgangspunkt die Lebensweltorientierung. Man wollte Formen des Helfens und der Hilfeplanung entwerfen, welche die Lebensweltferne professioneller Methoden und administrativer Abläufe in Richtung der Strukturmaximen des 8. Jugendberichts verringern. Mit »Verwandtschaftsräten« und »Familiengruppekonferenzen« – so die ersten deutschen Bezeichnungen – wurde erprobt, ob sich fachliche und hoheitliche Aufgaben auch dann realisieren lassen, wenn man die Betroffenen selbst auf dem »Fahrersitz« ihrer Hilfeplanung Platz nehmen lässt.
Das partizipatorische, lebensweltorientierte Anliegen dieses Hilfeplanverfahrens war der Ausgangspunkt. Man wollte die Abtretung der aktiven Rolle der Betroffenen an (Fach-)Autoritäten verhindern sowie Alltagspraktiken und lebensweltliche Tradition gegenüber wissenschaftlichen Ansätzen stärken, um die Überformung lebensweltlicher Unterstützungskulturen durch professionelle Hilfelogiken zu verringern.
Im Zuge des aufkommenden sozialräumlichen Diskurses wurde der »Familienrat« – so der später für den deutschsprachigen Raum vereinbarte Name – dann auch als Möglichkeit der Ressourcenmobilisierung gesehen. Das Konzept sieht vor, einen weiten Kreis von Menschen zu beteiligen. Dadurch werden Hilfeleistungen aus dem Netzwerk der Betroffenen angeregt, die unter Umständen passgenauer sind, weil sie wohnort- und milieunah sind und von gewachsenen Beziehungen getragen werden.
Die systemische Sichtweise des Familienrates hebt hervor, dass Problemursachen und Lösungspotenziale nicht individuellen Symptomträgern und Hilfeexperten zugeschrieben werden, sondern der Kontext einbezogen und Autopoiese ermöglicht wird. Die operative Geschlossenheit des Familiensystems gegenüber dem Hilfesystem wird verfahrensmäßig modelliert; Fachkräfte und Familiengruppe werden zwar durch einen vorgegebenen Ablauf »strukturell gekoppelt«, die Familiengruppe arbeitet aber selbstreferenziell und erhält durch die Sorgeerklärung nur einen Anstoß von außen.
Der neueste Diskurs betont die relationalen Aspekte des Familienrates: Probleme werden nicht einseitig als Defizite aufgefasst, sondern als sozial wertvolle Gelegenheiten, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Aufbau und Erhalt von Beziehungen und Gemeinschaft gelten als mindestens genauso wichtig wie instrumentelle Problemlösungen und die emotionale und kommunikative Resonanz; die Berührung zwischen Menschen wird gegenüber dem zweck- und zielbezogenen Handeln gestärkt. Zudem entstehen Hilfen, die mit Reziprozitätserwartungen aufgeladen sind und deswegen zur Stabilität des sozialen Zusammenhalts beitragen. So wird der Familienrat nicht mehr in erster Line als Verfahren des Hilfesystems gesehen, sondern als verwandtschaftliche, freundschaftliche und bürgerschaftliche »Wir-Hilfe«.
Schließlich hat der Familienrat als Verwaltungsverfahren auch die dort mittlerweile zur Prämisse gewordene Wirkungsorientierung zu bedienen. Von einem neuen Verfahren werden instrumentelle und problemlösende Wirkungen erwartet, welche die Effekte bisheriger Verfahren übertreffen. Veränderungsbedürftige Situationen sollen verbessert werden. Und weil dies im Bereich sozialer Dienstleistungen immer nur in Koproduktion mit den Adressaten geschehen kann, verspricht der Familienrat durch seine intensive Form der Betroffenenbeteiligung bessere Ergebnisse als eine expertenlastige Hilfeplanung.
Mittlerweile sind Conferencing-Verfahren außer in der Erziehungshilfe auch in Strafvollzug, Jugendgerichtshilfe, Gesundheitshilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie, Altenhilfe und Schulen gebräuchlich. Gesetzlich verankert ist der Familienrat nun in etwa einem Dutzend Regionen und Ländern der Welt. Dies vereinfacht seinen Einsatz wesentlich, ist er doch eine Mischung aus lebensweltlicher Praxis, professioneller Methode und gesetzlichem Verfahren und somit auf Legitimierung in allen diesen Sphären angewiesen.
Hierzulande ist der Familienrat in der Jugendhilfe in vier unterschiedlichen Organisationsformen etabliert worden:
- mit Jugendamts-Koordinatoren wie in Neuseeland, z. B. im Main-Taunus-Kreis,
- mit Bürger-Koordinatoren bzw. Honorar-Koordinatoren wie in den Niederlanden und Großbritannien, z. B. in Stuttgart, Nordfriesland, Hamburg und
- schließlich als Modell mit zertifizierten Fachkräfte-Koordinatoren von freien Trägern wie in Berlin und Schleswig-Holstein.
Es gibt zertifizierte Ausbildungen, fachliche Netzwerke und eine wachsende Zahl von Anwendern. Deswegen ist es an der Zeit, ein Fachbuch vorzulegen, das den bisherigen Stand der Entwicklung zusammenfasst. Mit diesem Buch wird einerseits die theoretische Einbettung dieses ungewöhnlichen Verfahrens vorangetrieben, andererseits wird das, was sich bislang weltweit an »Versammlungsmethodik« entwickelt hat, praxisnah anhand von Fallbeispielen und methodischen Analysen vermittelt.
Zur Gliederung
Die meisten Kapitel dieses Buches beginnen mit einem Fallbeispiel, anhand dessen ein besonderer fachlicher Aspekt des Conferencing illustriert wird. Daran schließen sich methodische Vertiefungen und Materialsammlungen an. Da fachliches Handeln in unterschiedlichen Fallkonstellationen variiert, haben wir wichtige fachliche »Essentials« wiederholt dargestellt, um verschiedene Facetten ihres Einsatzes zu zeigen. Querverweise im Text ermöglichen es, alle inhaltlich zusammengehörigen Stellen zu finden. Sämtliche Fallbeispiele stammen aus der Praxis, wurden aber...