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E-Book

Handbuch der Multifamilientherapie

AutorEia Asen, Michael Scholz
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783849780982
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis82,99 EUR
'Es ist eine allgemeine Erkenntnis, dass Menschen in Konfliktsituationen für das eigene Problem meist eine eingeengte Sichtweise haben, aber eine hohe Sensibilität für ähnliche Probleme anderer.' Diese Einsicht stand am Anfang der Multifamilientherapie (MFT), die in den USA und Großbritannien entstanden ist und zuletzt im deutschsprachigen Raum ganz neue Anwendungsbereiche erobert hat, so etwa in der Schul-, der Kinder- und Jugendsozialarbeit. Eia Asen und Michael Scholz, Pioniere der MFT, haben mit ihrem 'Handbuch der Multifamilientherapie' eine seit Langem überfällige Ergänzung zu ihrem Grundlagenwerk 'Praxis der Multifamilientherapie' vorgelegt. Gemeinsam bilden beide den State of the Art der modernen Multifamilientherapie ab und spiegeln zugleich den aktuellen Forschungsstand wider. Das neue 'Handbuch' versammelt Fachbeiträge der renommiertesten Vertreter der MFT. Damit ist das Wissen über multidimensionale Therapieansätze in einer bisher unerreichten Dichte von inhalts- und prozessorientierten Darstellungen, Übungen und Reflexionen erstmals in einem Werk verfügbar. Es bietet eine Vielzahl von Methoden und Techniken, schulenübergreifend, hoch anschlussfähig an verschiedene Therapiefelder und mit teilweise überraschenden Kombinationsangeboten.

Michael Scholz, Prof. em. Dr. med., Kinder- und Jugendlichenpsychiater, Psycho- und Familientherapeut, war bis 2007 Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie der Technischen Universität Dresden; längjährige Tätigkeit im Bereich der Multifamilientherapie; Autor zahlreicher Fachartikel und Bücher.

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Leseprobe

1 Allgemeiner Teil


Einführende Bemerkungen


In diesem Teil des Buches werden die Entwicklung der Multifamilientherapie (MFT) wie auch prinzipielle Techniken und Haltungen der MFT-Fachkräfte dargestellt, die für die praktische Umsetzung dieses Behandlungskonzepts erforderlich sind. Das vorgestellte Londoner »Marlborough-Modells« hat wenig Platz für formale Psychoedukation, wohlgemeinte Belehrungen und Ratschläge von Profis. Stattdessen soll Familien geholfen werden, selbst Lösungen für ihre Beziehungsproblematiken zu finden und auszuprobieren – unter Einbeziehung der gesamten Gruppe.

In Kapitel 1.1 wird die Entwicklung des Marlborough-Modells der MFT mit Kindern und ihren Familien dargestellt. Dabei werden die verschiedenen Quellen beschrieben, aus denen diese Arbeit vor nun fast 4 Jahrzehnten in London entsprang. Sie liegen vor allem in der Antipsychiatrie, der psychodynamischen Gruppentherapie und der systemischen Einzelfamilientherapie. Wie diese Quellen sich zu einem Strom entwickelten, der jetzt durch viele Länder und Kontinente fließt, wird detailliert dargestellt.

Wie Kapitel 1.2 verdeutlicht, beinhaltet Multifamilientherapie einen massiven Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle weg von der traditionellen therapeutischen Helferposition und hin zu der Haltung, Familien nicht zu entmündigen, sondern dazu zu befähigen, anderen und sich selbst zu helfen. Bei Familien mit minderjährigen Kindern bedeutet das eine spezifische und oft nicht leichte Übergabe der Verantwortung: Nicht die Helfer haben während der MFT Verantwortung für die Kinder und ihr Wohlbefinden, sondern die Eltern. Rituale können das sichtbar und erlebbar machen.

Eine der Basistechniken bei der Multifamilienarbeit ist das Fünfschrittemodell, auf das Kapitel 1.3 eingeht. Es hilft MFT-Fachkräften, Ratschläge strikt zu vermeiden und den Familien zu helfen, selbstständig eigene Lösungen zu finden. Die beschriebenen drei zusätzlichen Schritte dienen dazu, die erbrachten Leistungen der Familienmitglieder angemessen zu würdigen, die Reflexion der Betroffenen anzuregen und zum Transfer in Alltagssituationen zu befähigen (Kapitel 1.3.1).

Eine andere Basistechnik, ja vielleicht sogar eine Grundhaltung, ist das sog. Mentalisieren, das im letzten Jahrzehnt zunehmend an Popularität und Relevanz für verschiedene Psychotherapien gewonnen hat (Kapitel 1.4). Ein Hauptziel der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) besteht darin, intrafamiliäre Bindungen zu stärken. Der Gruppenkontext hilft dabei, das auch im Austausch mit anderen Familien zu üben, was oft leichter fällt als mit den eigenen Familienmitgliedern. In Abschn. 1.4.12 und 1.4.13 wird auf die Besonderheiten des Mentalisierens in einem Gruppensetting eingegangen, in dem sowohl Eltern als auch Kinder unterschiedlicher Altersgruppen zu berücksichtigen sind.

1.1 Entwicklung der Multifamilientherapie


Eia Asen

1.1.1 Die Reise zum Marlborough-Modell

Dieses Kapitel hat nicht den Anspruch, die MFT-Entwicklung seit den 1940er Jahren umfassend zu beschreiben, dies ist anderswo besser nachzulesen (Cook-Darzens 2007, Asen u. Scholz 2012). Es beschränkt sich bewusst auf die entscheidenden Einflüsse der Multifamilienarbeit mit Kindern und Jugendlichen und deren Familien. Dieser Ansatz wurde bekannt als Marlborough-Modell (Asen et al. 2001) – er entstand Anfang der 1980er Jahre in London und hat von dort aus langsam und allmählich verschiedene Länder des europäischen Kontinents, einschließlich Deutschland, »erobert«. Das war keineswegs ein Kreuzzug oder gar eine bequeme Reise. Hier soll aufgezeigt werden, wie das alles über viele Jahre an Momentum gewann.

Es ist schwer zu sagen, wann genau diese Reise begann. Es war jedenfalls irgendwann Mitte der 1970er Jahre in London, wo damals die »Antipsychiatrie« (Cooper 1971) voll im Schwung war und sogar im britischen nationalen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) kleine Nischen fand. R. D. Laing (1994), bei dem ich ein Jahr lang (1976) in Supervision war, wie auch seine Mitstreiter und Kollegen David Cooper und Aaron Esterson (Laing a. Cooper 1964), waren damals unsere Helden. Erving Goffmans Kritik der »Asyle« (Goffman 1993) und Thomas Szaszs Attacke auf das medizinische Modell sowie seine totalen Zweifel an der Existenz von »Geisteskrankheiten« (Szasz 1974, dt. 2013) waren weitere wichtige Einflüsse. Sie überzeugten uns damals, dass es für psychiatrische Diagnosen keine objektiven klinischen Kriterien gab und gibt und dass psychische »Krankheiten« verstehbare Versuche sind, unter unerträglichen Familienbedingungen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen zu überleben. Psychiater und Psychotherapeuten konnten so nur »Techniker der Repression und Wiederanpassung« sein. Psychiatrische Patienten wurden als »Opfer« des Systems gesehen und vielleicht sogar als die eigentlichen »Normalen« in unserer Gesellschaft (Basaglia 1973), sie waren die »identifizierten« Symptomträger eines korrupten Sozialsystems. Was diese »Antipsychiater«, aus heutiger Sicht, verband, war ihre Kritik an der Medizinalisierung von abweichendem Verhalten: »Störendem« Verhalten wurden innerpsychische Gründe zugesprochen, angeblich diagnostizierbar, obschon sie doch oft »eigentlich« soziale oder politische Probleme darstellten. Franco Basaglias radikale Ideen und therapeutische Praktiken, in Nordostitalien entwickelt, schienen sehr einleuchtend, doch schwer übertragbar zu sein. So sahen wir uns nach implementierbaren therapeutischen Modellen um, die unserem sozialpolitischen Verständnis nahelagen und dennoch im National Health Service akzeptabel sein konnten. Dabei stießen wir auf das Modell der »therapeutischen Gemeinschaft«, man könnte es auch als »Multipatiententherapie« bezeichnen, das stark von Prinzipien der klassischen Gruppentherapie beeinflusst war (Foulkes 1964), mit Wirkfaktoren wie gegenseitiger Unterstützung, konstruktiver Kritik, Modelllernen und gemeinsamem Erfahrungsaustausch (Yalom 2010).

Begriff und Konzept der »therapeutischen Gemeinschaft« wurden von Tom Main (1981) und Maxwell Jones (1976) geprägt. Sie hielten die bisherigen Konzepte psychiatrischer Krankenhäuser für unzureichend und forderten (Main 1981): »Die Institution selbst muss therapeutisch werden.« Sie wollten vor allem das therapeutische Potenzial der Patienten bestätigt und gefördert sehen und ihnen ermöglichen, für sich selbst und füreinander therapeutische Funktionen zu übernehmen. Jones (1976) postulierte als Grundlage gemeinschaftstherapeutischer Arbeit solle freie Kommunikation zwischen allen Beteiligten entstehen und bestehen, mit Informationsfluss von unten nach oben wie auch umgekehrt, also die Aufhebung traditioneller Berufshierarchien und stattdessen die gleichberechtigte Mitbeteiligung der Patienten. Transparente und regelmäßige Reflexion aller Prozesse in der Gemeinschaft, mit allen Beteiligten, galt als wichtiges therapeutisches Prinzip und als Grundlage des sozialen Lernens. Da sich die therapeutische Gemeinschaft als »offenes System« verstand, im stetigen Austausch mit der Umwelt, sollten auch Angehörige in den therapeutischen Prozess einbezogen werden.

Die »Zeitgenossen« Antipsychiatrie und therapeutische Gemeinschaft waren typische Produkte der liberalen 1960er und 1970er Jahre, in denen Innovation und Experimentierfreudigkeit nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht waren, vor allem im National Health Service. So gelang es Alan Cooklin, einem Kinder- und Jugendpsychiater, der 1975 klinischer Direktor des Londoner »Marlborough Day Hospitals« wurde, die zu dem Zeitpunkt doch recht unerprobte systemische Familientherapie als Hauptbehandlungsmodell einzuführen. Die Klinik wurde schnell umgetauft in »Marlborough Family Service«, eben ein »Familiendienst«, ein Name, der bei vielen Zuweisenden Kopfschütteln auslöste. Es gab dann auch viel Kritik, vor allem von arrivierten Kinder- und Jugendpsychiatern, die »unsere« Klinik speziell und Familientherapie generell schlichthin für unseriös erklärten. Mehr Unterstützung fanden wir bei Jugendämtern und auch einigen Schulen, die beklagten, die traditionellen Kinder- und Jugendpsychiatrischen Einrichtungen hätten schwer emotional oder verhaltensgestörten Kindern und Schülern sowie deren »Multiproblemfamilien« wenig anzubieten. So konzentrierten wir uns vor allem auf schwer misshandelte oder vernachlässigte Kinder und deren Familien sowie auf Schüler, die in keine Regelschule zu passen schienen. Allerdings mussten wir erst einmal diverse Erfahrungen sammeln, um ein neues Konzept zu entwerfen.

1.1.2 Die frühe systemische Szene

Systemische Familientherapie war in den 1970er Jahren in Großbritannien noch in einem relativ frühen Entwicklungsstadium. Zwar kamen die Stars der »Szene« zu regelmäßigen Workshops und Show-Konferenzen nach London und in unsere...

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